Blattkritik: Florian Blaschke, Redaktionsleiter t3n.de, über “Vice”.

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Florian Blaschke, Online-Redaktionsleiter beim Digitalbranchen-Magazin t3n, liest für turi2 die deutsche Vice. Er erkennt in der optisch wie inhaltlich gewagten Mischung erst auf den zweiten Blick einen roten Faden und findet das Lifestyle-Magazin anstrengend, aber wohltuend konsequent.

Wer sich an die “Vice” ran traut, muss ein paar Ohrfeigen in Kauf nehmen. Wer sie kennt, weiß das. Wer sie nicht kennt, sollte sich darauf einstellen. In diesem Magazin, das sich dem Stilbruch so konsequent verschrieben hat wie kaum ein anderes, sind thematische Sprünge an der Tagesordnung, die selbst René Laloux vor Neid hätten erblassen lassen. Wagen wir eine kurze Reise durch das aktuelle Heft:

Werbung, Werbung, Werbung, Rohölbaden, Hundenacktschnecken, Trolle, Burkas, Transgender, Ebola, Völkermord, Tee, Promis und Nicht-Promis, Vaginakunst, Aussteiger und Außenseiter, Fotos, noch mehr Fotos, noch mehr Aussteiger und Außenseiter, Drogen, schwuler Rap, Terrorismus, Filme, Comics, Musikrezensionen, Werbung, Werbung, Ende.

Puh. Erst mal durchatmen. 100 Seiten “Vice”, der Titel der Ausgabe: “The Make Believe Issue”. Für alle, die noch nie ein Heft in der Hand hatten: ein programmatischer Titel. Das Tempo: hoch. Die Optik: irgendwo zwischen Amy & Pink, Stern Crime und Wired.

Dabei kann sich das werbefinanzierte und kostenlose Magazin, das Leser in Mode- und Plattenläden (sofern es sie noch gibt) finden, das durchaus leisten. Während Inhalt und Optik auf den ersten Blick durchaus verwirren können, stecken dahinter offensichtlich ein paar kluge Köpfe. Auf den zweiten Blick nämlich entspinnt sich so etwas wie ein roter Faden, nicht nur, was die Themen angeht, sondern auch im Bezug auf Sprache und Ansprache. Und das ist erstaunlich, bei der Bandbreite – auch an Autoren. Da berichtet der US-Amerikaner Theodore Ross von seinen Erfahrungen im “Doomsday Training Camp”, bei dem die Teilnehmer auf die Anarchie vorbereitet werden sollen. Eine Reportage wie aus dem Lehrbuch, dicht gestrickt, ironisch gebrochen. Da schreibt die in Brooklyn lebende “Broadly”-Autorin Callie Beusman über die japanische Bildhauerin Megumi Igarashi, die den Sittenwächtern ihres Landes mit ihren Arbeiten eine Menge Arbeit macht. Und da berichtet der in Nigeria und Schottland aufgewachsene Autor und Filmemacher Callum Macrae vom Massenmord an den Tamilen in Sri Lanka und dem Schweigen der Welt dazu. Dazwischen: Pop, Konsum, Sex, Mode.

Dass dabei die Autoren vorrangig US-Amerikaner sind und die Themen weit weg von uns spielen? Dürfte “Vice”-Leser kaum stören. Der Fokus der Zielgruppe, nach eigenen Angaben “kritische, trendbesessene und kulturbestimmte Großstadtbewohner zwischen 21 und 40 Jahren” dürfte ohnehin nicht auf Elyas M’Barek, Charlotte Roche oder Sido liegen. Die Leser der “Vice” dürften sich selbst eher so etwas wie einer globalen Subkultur zuordnen, für die statt “Fack ju Göhte” eher “Fuck you Gender” gilt, für die Mainstream heißt, morgen noch das zu glauben, was heute als Wahrheit gilt. Ein bisschen zu dick aufgetragen? Dann blättern sie mal ein paar Ausgaben “Vice” nacheinander durch und sagen mir dann, was gerade “Trend” ist, womit sich die “kritischen, trendbesessenen und kulturbestimmten Großstadtbewohner zwischen 21 und 40 Jahren” gerade beschäftigen. Facebook? Kommt nicht vor. Fußball? Ich bitte Sie. Aktuelle TV-Shows? Gut gelacht. Das Einzige, was an der deutschen “Vice” deutsch ist, ist die Sprache – und selbst da gibt es Ausnahmen.

Dieses Heft ist das Abbild einer Globalisierung, die es schafft, sich zu widersetzen. Diese Heft liegt, und damit bleibt sich auch die deutsche “Vice” seit jetzt schon zehn Jahren treu, immer daneben und damit ziemlich richtig. Neben den Erwartungen, neben dem, was andere Magazine für relevant halten, neben dem, was heute als magazinästhetisch etabliert gilt. Das ist anstrengend, das wirkt manchmal sogar alltagsfremd, aber es ist auch wohltuend konsequent. Und nach dem Lesen fühlt man sich ein bisschen wie Theodore Ross nach seinem Doomsday-Training-Camp: “Ich bin erschöpft, körperlich und geistig. Gleichzeitig bin ich immer noch nervös und total aufgekratzt, sondiere sorgfältig den Raum und halte Ausschau nach Einstiegs- und Ausstiegspunkten.” Ein paar davon bietet die “Vice” – auch die aktuelle Ausgabe.

Bisher wurden folgende Titel einer Blattkritik unterzogen: 11 Freunde, art, auto motor und sport, B.Z., chrismon, Cicero, Clap, c’t, Donna, Enorm, Euro am Sonntag, Fit for Fun , Gala, Geo Wissen Gesundheit, Kontext, Merian, National Geographic, People, ramp, Playboy, ramp, Séparée, Sneaker Freaker, Spektrum der Wissenschaft, Walden, Women’s Health, Zeit-Magazin.

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