Blattkritik: Julia Werner, Chefredakteurin “Unikat”, über “Berliner”.

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Julia Werner, Chefredakteurin der Luxusbeilage Unikat von Condé Nast, liest für turi2 den Berliner, die neue Magazin-Beilage des “Tagesspiegel”. Die hauptberufliche Vize-Chefredakteurin von “Glamour”, nebenher Stilkolumnistin der “Süddeutschen”, entdeckt im “Berliner” eine gewisse Unentspanntheit durch stetig vorgetragene Offenheit, aber auch viel Interessantes und Lesenswertes.

Der “Berliner”, so der Tagesspiegel, richtet sich an Berlinerinnen und Berliner – weltweit, also im Geiste – und befasst sich mit Themen, die sich um Aufbruch und Veränderung, Kultur und Konsum drehen. So ist das mit den Machern von Magazin-Beilagen: Sie sind ständig hin- und hergerissen. Sie müssen ein “attraktives Umfeld” für potentielle Anzeigenkunden schaffen, wollen und dürfen ja aber den Konsum der Produkte nicht über Gebühr feiern.

Bei den Magazinen von “Süddeutsche” und “Zeit” löst man dieses Dilemma traditionell mit immer besonders um die Ecke konzipierten Mode- und Produktstrecken – und der mode- und produktinteressierte Leser ertappt sich beim Blättern dieser Fotos manchmal dabei, sich ein langweiliges, eskapistisches Modeheft herbeizusehnen, wo Menschen und Kleider einfach nur schön sind.

Womit wir schon mittendrin wären im “Berliner”. Das Gast-Editorial hat Helene Hegemann geschrieben, sie erklärt von außen, worum es in diesem Heft überhaupt geht, nämlich: “um Vielfalt. Um Freiheit, die immer schwieriger von Konkurrenzkampf zu unterscheiden ist. Und um Produkte. Um das, was wir haben wollen, was wir haben können – und deshalb zwangsläufig auch um die Frage, was wir wirklich brauchen.” Laut der Modestrecke sind das zum Beispiel ein Kleid von Hermès. Oder silberne Overknees von Balenciaga. Sie enthält außerdem laut Motto “Vorschläge für eine vielfältige Gesellschaft”.

Ja, schöne Menschen sind da zu sehen, mit verschiedenen Hautfarben, unterschiedlich langen Leben und Geschlechtern. Man hätte natürlich einfach ein Modethema definieren können (auch, weil die Mainstream-Modehefte das Thema Genderbender schon im letzten Jahr rauf und runter erzählt haben). Und die Models einfach so behandeln, wie das alle Berliner im Geiste doch ohnehin schon tun in ihrem Alltag – ganz selbstverständlich nämlich. Wenn man den Berliner Geist zum Leitgedanken eines Hefts macht, besteht natürlich das Risiko, nur noch die eigene, kompromisslose Weltoffenheit zu feiern.

Auf dieses Dilemma stößt man beim Lesen im “Berliner” öfters: zum Beispiel bei den Nacktportraits junger schwuler Berliner. Auch hier wird der Leser schon im Motto daran erinnert, was er ist, nämlich ein Unterstützer von Freiheit, Offenheit, Zugehörigkeit und Toleranz. Aber warum müssen die Jungs bloß splitternackt sein, um ihre Geschichten zu erzählen?

Oder dann, wenn die Autorin Laura Naumann darüber nachdenkt, wie wir modernen Menschen heute Beziehungen führen und uns unsere Familie aus Freunden und Wunschkindern zusammenschustern. Das wirkt eher nicht wie Nachdenken, sondern nur wie die ewige Bestätigung der eigenen liberalen Coolness. Klar muss das Thema “Alle dürfen so leben wie sie wollen” behandelt werden – gelesen werden müssten diese Geschichten aber ja nicht von denen, die das eh schon tun, leben und leben lassen.

Wie war das noch mal mit den Protestwählern, die den urbanen Eliten Arroganz vorwerfen? Interessant und lesenswert ist der “Berliner” trotz dieser gewissen Unentspanntheit aber an vielen Stellen trotzdem. Und zwar immer dann, wenn er mal – alter, aber guter Journalistentrick – eine entgegengesetzte Haltung zum erwarteten Weltbild einnimmt. Wenn Fabian Federl zum Beispiel Peter Altmaier klug zu seinem Idol erklärt, bekommt der Leser wirklich ein Gefühl dafür, was den Millenial so bewegt. Schön und unterhaltsam ist die Idee zur Rubrik “Dr. Körners gesammeltes Schweigen”, in der sich der Autor mit Ulrich Matthes zum gemeinsamen Schweigen trifft.

Genau das erwarte ich ja von Magazinen: Informationen, von denen ich vorher gar nicht wusste, dass sie mich berühren könnten. Auch eine Reportage über den sizilianischen Polizisten, der versucht, die auf dem Seeweg ertrunkenen Flüchtlinge zu identifizieren, gehört natürlich in so ein Heft, wie übrigens auch ein bisschen was Ironisches, Martensteiniges: Das fehlt leider im “Berliner”, es sei denn, die fünf Serienvorschläge eines Drehbuchschreibers mit der Prämisse “deutsche Serien sind Mist” waren ernst gemeint. Das Beste kommt zum Schluss: der “Berliner” schließt mit der Rubrik “Sicherheit/Freiheit”, in der die Autorin Mirna Funk die Frage beantwortet, wann sie sich zwischen beidem entscheiden musste in ihrem Leben (und das Wort “Freiheit” ist in der Markette durchgestrichen). Das ist ja eigentlich die essentielle Frage, die uns Berliner im Geiste umtreibt – mehr davon bitte, beim nächsten Mal.
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Die Blattkritik erscheint sonntags bei turi2.de und folgt dem Prinzip des Reigens.

Beim letzten Mal hat Jan Oberländer, verantwortlicher Redakteur des Tagesspiegel Berliner, über die Emder Zeitung geschrieben.

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