Blattkritik: Stefan Lauer, Senior Editor “Vice”, über “chrismon”.

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Stefan Lauer, Senior Editor der eher lasterhaften deutschen Vice, liest für turi2 chrismon. Den schwulen Ex-Ministranten wundert, dass der “Christen-Content” trotz vieler konfliktfähiger Themen so weitgehend heiter und beißgehemmt daherkommt. (Bild: Grey Hutton / VICE Media)

Als schwuler, aus der Kirche ausgetretener Ex-Ministrant mit katholischer Sozialisation, liegt es natürlich nahe, dass ich “chrismon” (ich vermute, der Name steht für Christen und Monat? Also ein monatliches Magazin für Christen. Genauer für evangelische Christen.) genauer anschaue. Ansonsten arbeite ich für “Vice”, zu deutsch “Laster”, also nicht der LKW, sondern das biblische. It’s complicated.

Titelthema von “chrismon” in diesem Monat ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf: “Das schaff ich locker!” heißt es, mit der Unterzeile “Aber vieles geht auch daneben. Familie und Beruf lassen sich vereinbaren – irgendwie” Zu sehen sind ein bekleckerter Strampler und Babyzubehör, auf der rechten Seite. Auf der linken dann das Business-Outfit mit Handy, Notizbuch uns Stift, auf der Bluse mit Perlenkette. Der Titel spricht offenbar die evangelische Mutter an. Evangelische Väter müssen sich nicht um die Kinder kümmern.

Ein Motiv, dass sich im Heft fortsetzt. Drei erfolgreiche Frauen führen ein Gespräch über Jobs, Karriere und Kinder und erzählen über das eigene schlechte Gewissen, wenn das Kind vom Kindermädchen zum Arzt gebracht werden muss. Später wird dann auch von Familien gesprochen, Erziehung und Haushalt (oder zumindest die Koordination desselben) sind Frauensache.

Und dann ist da auch das Spiel, in dem frau anhand von “lustigen” Fragen und Ja/Nein-Antworten rausfinden kann, inwiefern “Basti”, der symbolische potentielle Kindesvater, denn nun geeignetes Material ist. Tenor: Ha, diese Männer, die wissen halt einfach nicht so genau, wie sie mit einem Kind umgehen sollen. Die sind halt keine Frauen, weil nur die können das alles so richtig. Ist ja auch natürlich und gottgegeben so.

OK, das war jetzt kurz etwas polemisch. Man hat es hier natürlich nicht mit Birgit-Kelligem Antifeminismus zu tun: Dass Frauen arbeiten und erfolgreich sind, ist selbstverständlich und niemanden wird ein schlechtes Gewissen eingeredet. Feminismus ist nicht der Satan, der die heilige Familie zerstört. Aber ein eher konservatives Welt- und Familienbild schwingt dann doch mit.

Überhaupt ist “chrismon” eher zweigeteilt. Das gibt es Magazininhalte, die nichts mit potentiell christlichen Themen zu tun haben, zum Beispiel eine textlich und visuell sehr interessante Reportage über russische Spätaussiedler in einem badischen Dorf von Lorena Killmann und Lukas Kreibig.

Und dann ist da der Christen-Content. Anette Kurschus, Präses der evangelischen Kirche Westfalen und Mitherausgeberin von “chrismon”, schreibt darüber, wie gerechtfertigt und selbstverständlich es doch ist, dass Kirchentage öffentlich bezuschusst werden, weil die Inhalte ja schließlich der gesamten Gesellschaft zugutekommen. Wir lernen, dass beim letzten evangelischen Kirchentag in Stuttgart “mit Ernst und Niveau und in großer Vielfalt über Gott und Gender, Bibel und Bioethik, Theologie und TTIP” diskutiert wurde. Was wir nicht lernen ist, dass auf dem gleichen Kirchentag Thomas de Maziére die faktische Abschaffung des Kirchenasyls forderte und vor allem auch nicht, dass zum ersten Mal mit der evangelikalen “Evangelischen Allianz” kooperiert wurde. Einer ultrakonservativen Vereinigung, die radikale Abtreibungsgegner unterstützt und Gruppen nahesteht, die behaupten, sie könnten Homosexualität “heilen”.

Groß ist auch “Luther Reloaded”, eine Strecke in der in sehr kurzen Abschnitten und mit Bildern Menschen mit Martin Luther verglichen werden. Zum Beispiel Raif Badawi, der Blogger, der in Saudi-Arabien zu 1000 Stockschlägen und einer Geldstrafe von umgerechnet 194.000 Euro verurteilt wurde, Sarah Harrison, die Vertraute von Snowden, Zitto Kabwe, ein tansanischer Oppositioneller, Nadeschda Tolokonnikowa, Pussy Riot-Mitglied oder Dawn Cavanagh, eine südafrikanische LGBT*-Aktivistin. Darüber, dass sich die EKD mittlerweile von Luther aufgrund seines krassen Antisemitismus distanziert, liest man hier nicht. Martin Luther ist in “chrismon” ein Posterboy für Meinungsfreiheit, Gerechtigkeit und Mut. Judenhass und ein problematisches Frauenbild werden nicht erwähnt. Um genau zu sein wird über Luther, außer in einer Unterzeile zur Überschrift, überhaupt nicht gesprochen. Seine Qualitäten (“furchtlos”, “hartnäckig”, “gewissenhaft”, “kritisch”) umspielen in bunten Farben den Inhalt der kurzen Beiträge. Ein kritische Auseinandersetzung sieht anders aus.

Eine weitere Sache, die ich aus “chrismon” gelernt habe ist, dass Christen gerne reisen. Von 17 Anzeigen befassen sich ganze sechs mit Reisen. Reisen nach Kuba, nach Südafrika, auf Weingüter, mit der Aida etc. Und “chrismon”-Leser erhalten sogar Rabatte. Wahrscheinlich ist das auch ein Indikator auf das Publikum dieses Magazins, dass in einer Auflage von über einer Million erscheint und zum Beispiel der “FAZ”, der “Süddeutschen” und der “Welt” gratis beiliegt. Ich würde schätzen: Es ist etwas älter.

Man wünscht sich ein bisschen weniger Beliebigkeit. Sowohl im Layout, das oft auf Stockfotos zurückzugreifen scheint, als auch in der Meinung, die hier transportiert wird. Man merkt beim Lesen, dass hier unter gar keinen Umständen irgendjemandem auf die Füße getreten werden soll. Alles ist heiter und entspannt. Probleme fallen dann eben auch mal unter den Tisch.

Bisher wurden folgende Titel einer Blattkritik unterzogen: 11 Freunde, art, auto motor und sport, B.Z., Cicero, Clap, c’t, Donna, Enorm, Euro am Sonntag, Fit for Fun , Gala, Geo Wissen Gesundheit, Kontext, Merian, National Geographic, People, ramp, Playboy, ramp, Séparée, Sneaker Freaker, Spektrum der Wissenschaft, Walden, Women’s Health, Zeit-Magazin.

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