Blattkritik: Ole Reißmann, Redaktionsleiter Bento.de, über “Neon”.

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Ole Reißmann wärmt für turi2 seine Jugendliebe zu “Neon” noch mal auf. Der Redaktionsleiter von Bento trifft auf ein Heft, das unter Chefredakteurin Nicole Zepter erwachsener geworden ist: Es schaut zwar noch Pornos, masturbiert aber nicht mehr laut.

Mit “Neon” bin ich zu meiner Abizeit zusammen gekommen. Ein paar Dutzend Ausgaben später war unsere Beziehung vorbei. Auserzählt. Wir blieben Freunde. Wenn wir uns zufällig trafen, verbrachten wir trotzdem Zeit miteinander. Wie läuft’s, jaja, wie immer, na denn. Bei der Arbeit an Bento im vergangenen Jahr war die Neon ein Vorbild: ausführliche Geschichten, das Gefühl einer Generation, Menschen erzählen von sich, nicht zu cool und abgehoben. Wir haben uns gefragt: Wie müsste eine “Neon” im Internet sein? Dort ist das Magazin immer noch nicht angekommen. Dafür ist das Heft jetzt angeblich “neu, laut und meinungsstark”. Zur Zielgruppe, 20 bis 35 Jahre, gehöre ich immer noch. Ist es an der Zeit für Frühlingsgefühle?

Erwachsen sieht die neue “Neon” aus, wenig verspielt, geradezu kühl, mit Seiten voller Text und minimaler Grafik. Die Geschichte über den AfD-Sympathisanten-Vater besteht aus acht Seiten Text ohne Fotos. Hat man sich einmal überwunden, lässt sie einen nicht mehr los: Eine persönliche, empathische Geschichte, die viel über das Phänomen AfD erzählt. Mehr “Zeit-Magazin” als “Neon”.

Auf vielen Seiten schauen mich skinny Models an. Früher waren im Heft mehr Menschen zu sehen, die man an der nächsten U-Bahnhaltestelle treffen konnte. Die neue Ästhetik erinnert mich an das Kulturmagazin 032c oder andere Hipsterszines. Ich blättere durch die Seiten und weiß: Diese Coolness werde ich nie erreichen.

Dabei steht in den Texten immer noch “wir” und “unsere Generation”. Aber wenn dann ein Text über Zahnersatz und das deregulierte Gesundheitswesen seitenlang eingeleitet werden muss mit dem mir unbekannten Shane MacGowan von The Pogues, finde ich den Anschluss nicht. Als es endlich interessant wird, ist der Zahntext schon zu Ende. Eine Musikrezension beginnt mit einem Verweis auf Georg Michael, dessen Best-of-Album von 1998 bekanntlich jeder Mittzwanziger auswendig kennt. Alt, älter, “Neon”.

In der Titelgeschichte über Arbeit gibt es lauter gute Fragen: Warum haben wir nicht mehr Freizeit bei all der Automatisierung, was sollen die vielen shitty Bürojobs? Die “Neon” hat ein paar Leute gefragt, die Vorschläge machen. Darunter ist auch das bedingungslose Grundeinkommen. Dabei bleibt es. Die “Neon” hat keine eigene Idee. Sie hat auch keine Lust, weiter darüber nachzudenken, was das Grundeinkommen für Folgen hätte. Die versprochene Meinungsstärke fehlt. Dafür zeigt Über-Kurator Hans Ulrich Obrist ein Werk von Peter Fischli und David Weiss.

Seltsam ist die Doppelseite “What the f*ck is … BND?”, in dem ein paar Fakten zum Geheimdienst runtergespult werden, die jeder über Wikipedia und Google findet. Es gibt also den BND. Was das mit uns macht? Egal. Wie passt ein Geheimdienst in eine offene, demokratische Gesellschaft? Gibt es vielleicht sogar gute Gründe für diesen Widerspruch? Langsam wäre ich sogar mit einer halbstarken Meinung glücklich.

Dafür ist die Porno-Geschichte schön unaufgeregt: Verschiedene Menschen erzählen, was für Pornos sie gucken und lassen sich dabei fotografieren. Zeigen, was ist. Kein großes Drama, aber auch keine riesengroße Überraschung. Früher hat die “Neon” laut masturbiert.

Immer noch will die “Neon” Soziologie-Studenten zeigen, wie sinnvoll ihre Hausarbeiten waren: Ein Porno-Text kommt nicht ohne Verweis auf Pierre Bourdieu aus, ein Text über Kriminalität zitiert Émile Durkheim, in einem Interview taucht Theodor Adorno auf. Ich bin mir nicht sicher, vermute aber einen Insiderwitz, so wie das Unterbringen von Tocotronic-Zeilen oder Donald-Duck-Zitaten im Feuilleton.


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Die neue “Neon” ist erwachsen geworden. Sie ist oft leise, schreit nicht herum, sondern nimmt sich Zeit für komplexe Themen. Das finde ich sympathisch. Ich bin schließlich auch älter geworden. Mir fehlt aber zu oft eine erkennbare Haltung oder auch nur eine Meinung zu einem Thema. Was das alles bedeutet, was mir die “Neon” zeigt, bleibt im Dunkeln. Meine Frühlingsgefühle sind schnell wieder vorbei. Aber Freunde bleiben wir.

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Die Blattkritik erscheint jeden Sonntag bei turi2.de und folgt dem Prinzip des Reigens.

Am vergangenen Sonntag hat Nicole Zepter, Chefredakteurin “Neon”, die “ADAC Motorwelt” kritisiert.

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