Der digitale “Spiegel” emanzipiert sich vom Print-Magazin.

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Die alte “Spiegel”-App (links) lehnte sich stark ans Magazin-Layout an. Die neue Version (rechts) verzichtet auf Spalten und lässt Nutzer vertikal durch Artikel scrollen statt blättern.(Foto: Jens Twiehaus/turi2)

Digi-Kid wird erwachsen: Der “Spiegel” rollt seine runderneuerte Digitalausgabe in den App Store bzw. den Play Store und sagt der Magazin-Optik adé. Layout-Leiter Jens Kuppi schmeißt die für Zeitschriften typischen Spalten raus. Nutzer müssen außerdem in Artikeln nicht mehr blättern, sondern nach unten scrollen. “Die App ist nun ein echtes digitales Produkt und kein Pseudo-Print mehr”, sagt Kuppi. Multimedia-Chef Jens Radü beglückt die 57.000 digitalen Leser künftig wöchentlich mit einer visuellen Reportage, die ausschließlich digital und nicht in Print erscheint: “Für uns ist dieser visuelle Ansatz ein großes Experiment.”

turi2 konnte die App vorab auf einem Android-Tablet testen. Die wichtigsten Neuerungen:

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1. Alles ist responsiv: Jens Radü verspricht Nutzern dasselbe Lesegefühl auf allen Geräten. Die bisherige App wurde 2010 für das iPad konzipiert. Inzwischen lesen rund 30 % der “Spiegel”-Digitalnutzer auf ihrem Smartphone – und ihr Anteil steigt. Die Umstellung war dringend nötig. Konkurrenten wie die Welt Edition oder auch die digitale Zeit haben sich längst für Handys optimiert.

2. Artikel scrollen statt blättern: Die wachsende Zahl der Smartphone-Leser macht die weitreichendste Neuerung nötig. Ab sofort erscheinen Artikel auf nur einer Seite – Nutzer können ihn nach unten durchscrollen. Bislang mussten Nutzer von Seite zu Seite blättern. Titelgeschichten bestanden deshalb oft aus mehr als 100 Seiten auf dem iPhone. Das Scrollen statt Blättern ist praktisch, weil übersichtlich. Nebenbei gestalteten die Designer auch das Inhaltsverzeichnis luftiger und bildstärker.

3. Spalten verschwinden: Egal auf welchem Gerät – auch die für Magazine typischen Spalten sind in der Digitalausgabe Geschichte. Die Typografie bleibt mit den hauseigenen “Spiegel”-Schriftarten erhalten, App-Leser bekommen aber künftig einen einzigen Textblock.

Artikelansicht2SpiegelApp-2504. Inhalte werden teilbar: Bislang sperrte sich der “Spiegel” gegen die Einbindung von Facebook und Twitter. Nun gibt es unten rechts einen Plus-Button: Zu jedem Artikel lässt sich ein eindeutiger Link erstellen, der Empfänger in die Browser-Version der Digitalausgabe leitet. Praktisch ist auch, dass sich nun einzelne Textpassagen markieren und kopieren lassen. All das deutet an, dass der “Spiegel” sein Angebot entbündelt und Artikel – nicht nur über Blendle und Pocketstory – einzeln verkaufen wird.

5. Gratis anlesen: Wer von Freunden per Link auf einen Artikel hingewiesen wird, kann künftig mehrere Absätze des Print-Artikels gratis lesen und zugehörige Videos schauen. Bislang war der Kostenlos-Anriss kleiner.

6. Wöchentliche “visual storys”: Trotz der massiven Stelleneinsparungen will der “Spiegel” digital aufblühen. Im ersten Schritt produziert die Multimedia-Mannschaft um Jens Radü jede Woche eine eigenständige “Weitwinkel”-Reportage. Zum Auftakt erklärt ein interaktives Stück die Ölpreis-Entwicklung, kommende Woche folgt eine Foto-Story, in zwei Wochen ein 360-Grad-Film. Beim Programmieren hilft das neue hauseigene Tech Lab.

7. Autoren zeigen Gesicht: Unter vielen längeren Artikeln stehen künftig nicht nur E-Mail-Adresse und Twitter-Alias, sondern auch Kurzvita und ein Foto des Autors.

8. Anzeigen erscheinen im Text: Werbung unterbricht jetzt in vielen Fällen den Text über die ganze Breite von Tablet oder Smartphone. In der alten Version der App erschienen Anzeigen immer bildschirmfüllend als einzelne Seite. Kunden können dem “Spiegel”-Vermarkter QC künftig ihre gängigen Online-Werbeformate wie Billboards, HalfpageAds und ContentAds anliefern – die Anzeigen sehen nun aus wie Bannerwerbung auf Websites.
magazin.spiegel.de (Web), itunes.apple.com (iOS), play.google.com (Android), microsoft.com (Windows 8)

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Jens Radü (links) leitet die Digitalausgabe, Jens Kuppi zeichnet fürs Layout verantwortlich.