Turis Tipp für die Verleger-Kollegen: Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!


Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten, sagte einst Paul Sethe. turi2-Verleger Peter Turi widerspricht. In einem Gastbeitrag für das VDZ-Kompendium 2017 plädiert Turi für Mut zum Regelbruch und fordert mehr Anarchie.

Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Digitalismus. Die Angst, vom US-amerikanischen Internet-Kapitalismus plattgewalzt zu werden, sitzt den deutschen Medienunternehmen im Nacken. Sind unsere Kinder und Kunden verloren an Facebook, Amazon und Co? Ich glaube nicht – wir können uns wehren. Wir müssen nicht nachmachen, was uns die Amis vormachen: eine stetige Niveau-Absenkung durch Clickbaiting, Selfiewahn und Fake News und letztlich Trumpismus – die Herrschaft der Lauten, Blöden und Öden. Blinder Fortschrittsglaube bringt uns nicht weiter. Wir müssen mutig aufbrechen, aber wir dürfen unsere europäischen Werte wie Vielfalt und Aufklärung nicht wegwerfen.

Wir müssen vor allem unsere Mentalität erneuern. Zum Hirn muss das Herz kommen: Wir müssen das Schwere leicht nehmen statt das Leichte schwer. Wir müssen Chancen sehen statt Risiken, Fehler verzeihen und Hierarchie abbauen. Das Prinzip „Führer befiehl, wir folgen“ führt niemals zu Innovation. Doch ohne Innovation keine Zukunft. Alles Alte zerfällt, alles Morsche zerbröselt. Wer keine neuen Felder findet oder wenigstens eine neue Art, sie zu beackern, wird nicht mehr ernten.

Was hält Menschen davon ab, kreativ zu sein? Neue Wege zu gehen? Vor allem Angst. Angst vor Misserfolg. Vor Strafe. Vor Liebes- oder Ressourcen-Entzug. Dabei muss, wer einen neuen Weg finden will, ausgetretene Pfade verlassen. Innovation in etablierten Verlagen entsteht, wenn jemand sich traut, kartiertes Gelände zu verlassen, um im Neuland sattere Weiden zu finden.

WO KÄMEN WIR HIN, WENN KEINER GINGE?

„Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen?“, fragte der Züricher Theologe Kurt Marti. Am Anfang jeder Innovation steht der Regelbruch, die Weigerung des kleinen Kindes, an der Hand des Vater/der Mutter zu gehen. Das Aufbegehren gegen Schranken.

Kein Umbruch ohne Tabubruch – die Gründer des Silicon Valley haben es vorgemacht. Kein Erfolg ohne Abkehr von etablierten Regeln: Die Fotos deiner Kommilitonen darfst du nicht einfach ins Internet stellen, ihr Aussehen nicht bewerten? Mark Zuckerberg war’s egal. Beiträge in Social Networks sind wertvolle Daten und werden aufgehoben? Evan Spiegel scherte sich nicht drum, als er Snapchat erfand.

Wir brauchen mehr Unordnung. „Anarchie ist machbar, Frau Nachbar!“, sagten die Spontis in den 70ern. In einer Welt, in der kein Chef weiß, was morgen passieren wird, brauchen wir mehr „Herrschaftslosigkeit“ (denn nichts andres heißt Anarchie). Gelegentlich sollten wir genau das Gegenteil dessen tun, was alle tun. Oder im eingeschlagenen Kurs mal eine 180-Grad-Wende vollziehen.

Ich sage es aus eigener Erfahrung: Ohne das Abweichen vom vorgegebenen Weg wäre es für mich nicht möglich gewesen, aus dem Keller einer Firmenpleite herauszukommen. Die feststehende Regel im Jahr 2007 war: Niemand will vor dem Frühstück Branchennews lesen, Newsletter locken Leser mit Links auf die eigene Seite! Heute führt turi2 morgens um sieben 20.000 Medien- und Markenmacher mit einem Klick zu den besten Artikel auf externen Websites.

IF YOU FIND A NEW WAY

Regeln zu brechen ist heute meine liebste Übung: Fachleser wollen kein Bewegtbild, Branchenfernsehen hat kein Geschäftsmodell? turi2.tv wird das Gegenteil beweisen. Zeitschriften und Bücher sind getrennte Welten, Fachmedium passt nicht zu Coffee Table? Die „turi2 edition“ zeigt zweimal im Jahr, dass manche Regeln nur Denkblockaden sind. „If you find a new way, you can go it today“, sang Cat Stevens in den 70ern, und ich singe heute noch gern mit.

Innovationsfähigkeit kann man trainieren wie einen Muskel. Wer gelernt hat, neue Wege zu gehen und neue Felder urbar zu machen, für den sind die Chancen unendlich. Es gibt noch so vieles zu tun, auch für einen kleinen Fachverlag wie turi2. Warum den Mediaentscheidern nicht einen Newsservice fürs Handy anbieten, der nach persönlichen Vorlieben gebaut ist – Youstream statt Newstream sozusagen. Warum nicht ein Köpfe-Verzeichnis mit Videos fürs Handy bauen? Warum nicht noch mehr tolle Bücher mit Werbung finanzieren?

„Don’t stop thinking about tomorrow“, sangen Fleetwood Mac bei der Amtseinführung von Bill Clinton. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Der Lebenszeit schon. Wir werden geboren, ohne gefragt zu werden und wir müssen sterben. Das einzige Mittel gegen Geburt und Tod ist, die Zeit dazwischen zu nutzen.

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