Video- und Fotoreportage: Ein Tag im Newsroom – die drei Welten der “Welt”.


Unterwegs in drei Welten: Unter dem Dach von “Welt” entstehen Digitalangebote, ein TV-Sender und auch noch ein bisschen Zeitung. Für die turi2 edition #9 besucht Jens Twiehaus Deutschlands komplexeste Redaktion und zeigt ihren Alltag. Er spricht unter anderem mit Ulf Poschardt, Johannes Boie und Tatjana Ohm über Kulturpessimismus, “verplusbare” Inhalte und die Zukunft des klassischen Fernsehens. (Fotos: Marcel Schwickerath)
turi2.tv (8-Min-Video auf YouTube)

Die Reportage zur “Welt” finden Sie auch in unserem kostenlosen E-Paper zur turi2 edition #9 auf den Seiten 110-118.


Schrei nach Liebe: In der Schreibtisch-Ecke der Print-Layouter hängt dieser “Print is not dead”-Zettel, der Hoffnung und Befürchtung zugleich ausdrückt. “Welt” ist die einzige deutsche Zeitung, die konsequent TV und Digital integriert. Der Verbund soll die Redaktion retten, die laut Springer-Chef Mathias Döpfner “jedes Quartal zur Disposition” steht.

Immer auf Sendung: Welt TV beginnt den Nachrichtentag mit einer Live-Sendung früh um 6: In der Regie am Standort Potsdamer Platz herrscht konzentrierte Routine, ringsherum geschäftiges Treiben. Redakteure sitzen dicht gedrängt an Schreibtischen, auf ihren Bildschirmen flimmern die Feeds der Agenturen. Chefmoderatorin Tatjana Ohm grüßt erst die Regie-Kollegen und dann in die Wohnzimmer der Frühaufsteher. Ohm ist seit 2002 bei Welt, was damals noch N24 heißt und zu ProSiebenSat.1 gehört. Manager Torsten Rossmann und Ex-“Spiegel”-Chefredakteur Stefan Aust kaufen den Kanal 2010 und verkaufen 2013 an Springer – ab da beginnt das Experiment, Zeitung und Digital mit TV zu verschmelzen.

So richtig sichtbar wird das erst Ende 2020. Dann ziehen die noch getrennten Redaktionen in einen neu gebauten Riesen-Newsroom gleich neben der heutigen Springer-Zentrale in Berlin – und der Sender verlässt ein Provisorium: Als Newsroom und Studio-Standort dient ein ehemaliges Autohaus.

On Air: Die glamouröse Fernseh-Welt beschränkt sich bei Welt TV auf wenige Studio-Quadratmeter am Potsdamer Platz. Automatische Kameras spulen programmierte Fahrten ab. Scheinwerfer leuchten grell und gnadenlos. Chefmoderatorin Tatjana Ohm, im feuerroten Oberteil, hat sich mehrfach nachschminken lassen, als Robin Alexander das Studio betritt. Der ansonsten schreibende “Welt”-Journalist bewegt sich routiniert vor der Kamera und spricht über sein Lieblingsthema: die Kanzlerin. Im Paralleluniversum Studio und auch in der Inhalte-Maschine Newsroom, zwei Kilometer vom TV entfernt in der Springer-Zentrale, scheint das Leben weit weg. Als Abhilfe gibt es Kornelia, Ingo und Nele. Die Pappfiguren sollen typische “Welt”-Nutzer verkörpern – und die Redakteure daran erinnern, für wen sie arbeiten.

Kluger Kopf auf allen Kanälen: Robin Alexander redet sich in Rage. Der Mann mit dem permanent erstaunten Gesichtsausdruck kann so leidenschaftlich über Politik reden, dass die 10-Uhr-Konferenz kurz wie ein Debattierclub wirkt. Alexander ist Kanzlerinnen-Kenner und redet überall – vielleicht nicht im Schlaf, aber überall, wo “Welt” drauf steht.
Er ist wieder früh aufgestanden, um “den Morgen für sich zu gewinnen”, wie er sagt: zeitig ein Thema setzen und es dann über den Tag begleiten. Das hat er sich bei Politico abgeguckt.

Alexander wird an diesem Tag noch bei Tatjana Ohm im hauseigenen TV-Studio sitzen, einen Text für Online, Print und App schreiben – und wäre das ZDF am Telefon, würde er am Abend noch bei Illner oder Lanz die Lage einordnen. Weil er so “obszessiv an seinem Job interessiert und extrem effizient” ist, O-Ton Chefredakteur Ulf Poschardt, hat er außerdem ein Buch geschrieben, das erst zum Besteller und dann für die ARD verfilmt wurde. Er spricht auf Lesungen und einmal pro Woche ins Podcast-Mikro. Für Alexander ist das Arbeiten über alle Medien-Grenzen hinweg einfach nur logisch. “Ich kann die gleiche Kugel mehrmals abfeuern”, sagt er mit kräftigem Ruhrpott-Einschlag. “Ich versuche mit der gleichen Geschichte viele disparate Publika zu erreichen – und das will ich doch als Reporter: Leute erreichen.”


Tatjana Ohm mag die Arbeit mit den schreibenden Kollegen – und glaubt an eine gute Zukunft fürs klassische Fernsehen. Ein eigenes Format auf Instagram kann sich die Moderatorin dennoch vorstellen.

Drei Herren für ein Halleluja: Oliver Michalsky ist auf einer Mission – vielleicht liegt sein Arbeitsplatz am zentralen Newsdesk deshalb unter einer Art Heiligenschein. Von hier aus komponiert der Online-Chefredakteur den Tag. Noch viel wichtiger: Michalsky ist der Experte für digitale Bezahlmodelle. In ihnen sieht die “Welt” die Zukunft. Immer weniger Menschen kaufen Zeitungen, schalten Anzeigen – und auch im TV sinken die Umsätze. Michalsky stöbert deshalb nach Inhalten, die sich “verplussen” lassen. So nennen sie Texte, die hinter die Bezahlschranke Welt Plus wandern.

Michalskys nächste Mission: Nach Paid Content soll nun Paid Video kommen. “Die Redaktion muss sich insgesamt die Fähigkeit aneignen, noch stärker in Bildern und bewegten Bildern zu denken.” Als gelernter Zeitungsredakteur weiß er: Das fällt nicht allen leicht. Doch digitale Abo-Abschlüsse sind zur härtesten Währung geworden. In der Redaktionskonferenz fliegen Zahlen über den Tisch – jedoch keine Seitenzahlen mehr. Die Zeitung entsteht ganz am Ende aus dem Online-Angebot. Gesamt-Chefredakteur Ulf Poschardt, trotz allem ein Print-Fan, sagt: “Die Zeitungsproduktion wird dadurch besser. Texte haben schon zwei Bearbeitungsschleifen hinter sich, wenn sie ins Blatt fallen – es ist ein verfeinertes, ausgereiftes Produkt.”


Ulf Poschardt versucht als twitternder und meinungsfreudiger Gesamt- Chefredakteur Zuversicht zu verbreiten: “Diesen tendenziellen Kulturpessimismus… ich sehe ihn einfach nicht. Wir haben allein gestern knapp 400 Digital-Abos gemacht.”


Johannes Boie entwickelte die digitale Ausgabe der “Süddeutschen” mit. Zwei Jahre war er die rechte Hand von Springer-Konzernchef Mathias Döpfner. Jetzt steht Boie für Gedrucktes: als Chefredakteur der “Welt am Sonntag”.

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