Christoph Keese, Sie sind Bestseller-Autor und Berater in Sachen Digitalisierung. Was sind die Stärken der deutschen Wirtschaft? Wo liegen die Schwächen?
Die Stärken liegen in der Produktion hochwertiger Güter. Die Schwächen in der digitalen Vernetzung dieser Produktion über die Wertschöpfungsstufen und Branchen hinweg.
Was ist zu tun?
Das ist die Gretchenfrage. Eine Antwort in Kurzform: Präzise analysieren, wie die Wertschöpfungskette in der Zukunft vermutlich aussehen wird, herausfinden, welche Positionen dort am attraktivsten sind und sie dann schnell und entschlossen besetzen.
Das klingt jetzt sehr einfach.
In Wirklichkeit ist das ungeheuer kompliziert und anspruchsvoll. Wie gut man diese Herausforderung bewältigt, entscheidet über das Geschick einer Firma.
Was passiert, wenn nix passiert?
Dann passiert es trotzdem. Nur eben nicht am bisherigen Ort.
Christoph Keese war geschäftsführender Redakteur der “Berliner Zeitung” sowie Chefredakteur der “FTD” sowie der “Welt am Sonntag”. Seit Sommer 2017 leitet er Springers Beratungstochter Hy. Foto: Holger Talinski
Sie bieten Reisen für Manager an, die digitalisieren wollen – wohin sollte die Reise gehen?
Zuerst nach Berlin. Das liegt am nächsten und dort gibt es viel zu sehen und zu erfahren. Dann nach Tel Aviv. Das liegt nur wenige Flugstunden entfernt und kann mit größeren Digitalerfolgen aufwarten als die ganze EU zusammen. Danach gehört eine Reise ins Silicon Valley auf das Programm. Trotz des viel beschworenen Silicon-Valley-Tourismus: Nach wie vor ist die Zahl der Unternehmen und der Manager, die dorthin reisen, verschwindend gering. Wenn es zehnmal so viele wären wie heute, wären es immer noch zu wenige.
Lautet Ihre Botschaft: Vom Silicon Valley lernen, heißt siegen lernen?
Nein. Sie lautet eher: Deutschlands Wirtschaft ist immer dann erfolgreich, wenn sie weltweit lernt und das Gelernte mit den eigenen Stärken zusammenführt. Also: Wir sind weltoffen und wissbegierig. Wir erweitern unser erfolgreiches Modell durch Einsichten in den Erfolg des Silicon Valley.
Sie waren Chefredakteur der “FTD” und der “Welt am Sonntag”, Springers oberster Lobbyist, Vorkämpfer für das Leistungsschutzrecht, Buchautor, sind jetzt Berater. Sie haben sich immer wieder neu erfunden – warum suchen Sie die Veränderung?
Veränderungen geben mir das Gefühl, im Einklang mit meiner Zeit zu bleiben. Mein Leben selbst zu bestimmen. Veränderungsdruck entsteht ja meist nicht aus uns selbst heraus, sondern von außen. Wir können nicht bestimmen, ob sich die Welt verändert oder nicht, sondern nur, wie wir darauf reagieren. Die Welt ruft uns ständig zu: “Du musst dein Leben ändern!”, wie Peter Sloterdijk es ausgedrückt hat.
“Viele Leute glauben, dass Sie nicht an Krebs sterben werden, sondern an künstlicher Intelligenz.” Foto: Holger Talinski
Das klingt für viele wie eine Zumutung.
Dieser Zuruf ist tatsächlich eine Zumutung, denn viel lieber würden wir beim Erprobten bleiben. Meine persönliche Reaktion besteht in einer Art vorauseilender Anpassung: Autonomie heißt für mich, der Welle voraus zu sein, statt hinterrücks von ihr erwischt zu werden. Ich habe immer versucht, das zu machen, was als nächstes kommen muss: eine neue Art von Wirtschaftsjournalismus zum Beispiel, das Verhältnis zwischen Plattformen und Medien neu zu verhandeln oder dabei zu helfen, die Industrie zu digitalisieren.
Warum scheuen die meisten Menschen Veränderungen?
Dieser Hang ist zutiefst menschlich und wahrscheinlich evolutionär bedingt. Wir sind die Nachfahren von Wesen, die ständig existentiellen Gefahren ausgesetzt waren und sichere Räume zu schaffen verstanden – Höhlen, Hütten, Häuser –, die sie nur verließen, wenn der Hunger sie trieb. Neophobie, also Veränderungsscheu, ist der menschliche Normalzustand. Das Gegenteil – Neophilie – ist die Ausnahme. Bei einem gewissen, eher kleinen Prozentsatz der Bevölkerung haben Veranlagungen kombiniert mit lebensgeschichtlichen Einflüssen zu Neophilie geführt.
Wie bei Ihnen?
Einen Hang zum Klammern am Bewährten kenne ich auch von mir. Aber bei mir haben Erlebnisse in der Kindheit dazu beigetragen, dass ich mich gern verändere. Mein Vater hat bei IBM gearbeitet und wir sind oft umgezogen, auch ins Ausland. Die ersten Tage in einer neuen Stadt, in einer neuen Klasse waren immer furchtbar. Ich bin vor Angst fast vergangen. Besonders schlimm war die erste Pause, wenn ich alleine auf dem Hof stand und niemand mit mir redete. Aber ich habe schnell gelernt, damit umzugehen. Ich habe gelernt, wie man Freunde findet und vom Rand der Gruppe in deren Mitte rückt.