Die wollen nur spielen: Zehn Jungs zocken an ihren Rechnern Counter-Strike, 150.000 Fans jubeln ihnen zu. turi2 besucht für die turi2 edition #9 die ESL One in Köln und ergründet einen Bildschirm-Sport, der immer mehr junge Fans fasziniert. Florian Merz, E-Sports-Experte von Sport1, erklärt im Video-Feature von “Horizont” und turi2.tv, dass die Begeisterung der Fans die gleiche ist wie beim Fußball, nur ohne Ultras und dritte Halbzeit – verfeindete Blöcke gibt es nicht. Während die Bildschirm-Helden ballern, feiern die Fans ausgelassen. Berieseln, wie vor dem klassischen Fernsehen, lässt sich hier niemand. (Fotos: Holger Talinski)
Die Reportage von der ESL One finden Sie auch im kostenlosen E-Paper der turi2 edition #9 auf den Seiten 18-34.
Durch diese hohle Gasse müssen sie kommen: 15.000 Zuschauer warten in der Kölner Lanxess-Arena auf die besten Counter-Strike-Spieler der Welt. Gleich beginnt das Finale der ESL One, dem “Wimbledon des Counter-Strike”, wie es der Veranstalter nennt
Mit Bildschirm auf der Bühne: Zwei Teams mit je fünf Spielern treten pro Begegnung gegeneinander an. Gespielt wird “Counter-Strike: Global Offensive”, ein sogenannter “Taktik-Shooter”: Ein Team platziert eine Bombe in der virtuellen Welt, das andere muss das verhindern – mit digitaler Waffengewalt. Die Fans feiern weniger das Gemetzel als schlaue Spielzüge und schnelle Reaktionen. Das schlaucht. Die meisten Spieler sind unter 30, viele unter 25. Ältere können kaum mithalten
Freud und Leid, Euphorie und Verzweiflung liegen eng beieinander, wenn die Fans aus 61 Ländern ihre Teams anfeuern.
Die Fans sind jung, bunt, laut, fantasievoll verkleidet – und immer friedlich: Gewaltbereite Ultras, getrennte Blöcke oder Bengalos wie beim Fußball gibt es hier nicht
Ein Journalist verfolgt wie viele seiner Kollegen das Geschehen in der Halle per Livestream aus dem Presseraum. Hier ist es ruhiger als drinnen…
…wo das Publikum jeden digitalen “Kill” lauthals feiert und jede Regung der Spieler auf der Bühne hundertfach vergrößert auf den Bildschirmen beobachtet.
Verzückte Besucherinnen: Rund um die Halle kommen Fans ihren Stars nahe. Einige kaufen trotzdem die “Global Elite Experience”, das Luxusticket für fünf Personen: 3.495 Euro für drei Tage Privat-Lounge mit Catering, exklusiver Backstage-Tour und einem Platz in der ersten Reihe bei allen Autogrammstunden. Frauen stehen bei der ESL One eher in der zweiten: im Publikum viele, in den Teams auf der Bühne keine einzige. Obwohl das Turnier offen für alle Geschlechter ist.
Wir sind eins: Das Motto der ESL One hat sich dieser Fan auf die Haut sprühen lassen. Inklusive schussbereiter Spielfiguren. Die Electronic Sports League wird im Jahr 2000 gegründet und für die ersten Turniere mit 20 Mann in einem Kölner Internetcafé noch belächelt. Heute richtet die ESL internationale Turniere in mehr als 50 verschiedenen Computerspielen aus. Nicht alle finden in großen Arenen statt – manche sind auch rein virtuell.
Selfie mit dem Idol: Wenn ein DHL-Bote Begeisterung auslöst, muss er ein E-Sport-Star sein. Der junge Mann mit Bart heißt Jaroslaw Jarzabkowski und ist besser bekannt als Counter-Strike- Profi pashaBiceps. Er ist Markenbotschafter für den Paketdienst. Gleich wird er ins Mikro rufen: “You’re not my friends, you’re my brothers” – und die Halle damit zum Toben bringen. Sponsor DHL wird im E-Sport für seine Kampagnen gefeiert.
Am frühen Sonntagabend sind alle Beteiligten erschöpft – aber glücklich. Das Turnier ist nach sechs Tagen vorbei. Die ESL One endet mit dem finalen Kampf David gegen Goliath. Goliath gewinnt: Team Liquid, Erstplatzierter der Weltrangliste, schlägt Publikumsliebling und Underdog Team Vitality nach mehr als fünf Stunden Geballer. Damit sichern sich die fünf Spieler, ihre Trainer und Betreuer 115.000 Dollar Preisgeld. Und eine zusätzliche Prämie von 1.000.000 Dollar dafür, dass sie vier Turniere in Folge gewonnen haben. Millionen Fans haben den Kampf per Livestream verfolgt.
Bald ist Finale. Längst hat es alle Zuschauer aus ihren Sitzen gerissen, Smartphones strahlen in die Höhe wie Feuerzeuge. “ARE YOU READY?”, brüllt der Moderator, man hört die Großbuchstaben. Eine rhetorische Frage. Die Halle kocht längst.
Ready ist auch Florian Merz. Das Gefühl gerade, sagt er, kennt man als Sportfan: “Das ist die gleiche Euphorie, die man im Fußballstadion spürt, wenn man sein Team anfeuert.” Merz ist verantwortlich für alles, was bei Sport1 zum Thema E-Sport läuft, von der ESL One berichtet er als Videojournalist, Experte und Live-Reporter in einer Person. Der Münchner Sportsender ist der erste, der dem E-Sport einen eigenen 24-Stunden-Kanal im Pay-TV gewidmet hat. Man habe da eine Lücke geschlossen, heißt es von Sport1: E-Sport wird noch hauptsächlich im Livestream per Twitch oder YouTube verfolgt, ohne Zusammenfassung oder Einordnung. Journalisten wie Merz sollen das ändern.
Bevor die Spieler die Halle betreten, blicken sie mit ernstem Blick auf die Zuschauer. Auf unzähligen Bildschirmen auf verschiedene Formate vergrößert setzen sie sich mit heroischem Atemholen die Kopfhörer auf, dazu Musik wie aus einem Bruce-Willis-Film. Dann marschieren sie ein, geschrumpft auf Lebensgröße, ein bisschen blass manche, nahbar statt heroisch. Grinsen den Fans zu, winken, highfiven sich durch lange Spaliere aus Händen. Bei Team Liquid, dem Favoriten, ist der Applaus vielleicht ein klein wenig leiser als bei Team Vitality, dem Publikumsliebling. Aber das ist schwer zu sagen, denn in beiden Fällen ist er ohrenbetäubend.
In den Tagen zuvor hat man die Profis immer wieder auch abseits des Backstage getroffen. Kennt man ihre Gesichter nicht, könnte man sie auch für Fans im Trikot der Lieblingsmannschaft halten. Florian Merz vergleicht das wieder mit dem Profi-Fußball: “Man stelle sich mal vor: Manuel Neuer läuft über den Marienplatz oder Mats Hummels durch die Dortmunder Innenstadt. Fans und Spieler sind im E-Sport einfach entspannter.”
Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Profis auch dem E-Sport ihr Leben widmen, eingebettet in professionelle Strukturen: Mehrere Stunden Training täglich vor dem Rechner, dazu Ausgleichssport und Ernährungspläne. Es gibt Trainer, Mental Coaches, Funktionäre, Manager. Internationale Turniere wie dieses, Weltranglisten, Ligen. Längst schicken auch Fußballclubs wie Schalke 04 oder der VfL Wolfsburg eigene Teams auf die virtuellen Spielfelder. Die meisten Profis verdienen den Großteil ihres Geldes mit Streaming und Merchandise. Auch nach Ende der aktiven Karriere profitieren sie davon, wenn sie Moderatoren, Kommentatoren, Trainer oder Berater werden.
Inzwischen haben auch große Marken das Potential des E-Sports entdeckt. Intel, Mercedes, Tchibo, DHL, Warsteiner und viele andere investieren in Sponsoring und Kampagnen. Und werden, wenn sie es richtig machen, in der Szene gefeiert. Für viele Fans bedeutet Werbung auch: E-Sport ist angekommen in der öffentlichen Wahrnehmung, wird nicht mehr belächelt als Hobby dicker Kinder im Keller von Mama.
Die Spieler auf der Bühne blinzeln kaum, murmeln ins Headset, lassen sich weder ablenken vom Raunen des Publikums, noch vom aufgeregten Kommentator. Haben sie einen Treffer gelandet und einen Gegner niedergestreckt, muss kurz die Emotion raus, in einer geballten Faust, einer Siegerpose, einem Schrei. Das Bild des Getroffenen im anderen Team wird erst kurz rot, dann grau. Das Publikum stöhnt auf.
Florian Merz versteht, wenn einem das virtuelle Gemetzel seltsam vorkommt. Aber: “Was die Community sieht, geht viel tiefer: die Teamleistung, die Taktiken, die Kommunikation zwischen den Spielern, das Reagieren innerhalb von Millisekunden. Was die Fans begeistert, sind die Spielzüge – nicht, dass da Gewalt stattfindet.”
“E-Sports” ist keine einzelne Disziplin, sondern ein Überbegriff für viele verschiedene. Da gibt es Strategiespiele, bei denen Spieler aus der Vogelperspektive Armeen steuern. Sportsimulationen, also zum Beispiel Fußball am Computer. Und dann die Egoshooter: Der Spieler folgt seiner Figur aus der Ich-Perspektive und muss eine Aufgabe erfüllen, alleine oder im Team. Das altbekannte Räuber-und-Gendarm-Prinzip, nur eben mit digitalen Pistolen, Messern, Maschinengewehren, Handgranaten und Flammenwerfern. Counter-Strike, das heute hier gespielt wird, zählt zu den beliebtesten.
Die Frage, ob E-Sport tatsächlich Sport ist, bewegt die Gemüter. Florian Merz stellt sie jedem seiner Interviewpartner. “Viele verstehen sich als Athleten einer Sportart, die gar nicht erst als solche deklariert werden muss.” Egal, wen man hier fragt: Die meisten sagen, wer einmal bei einem Turnier wie diesem war, die Fans gesehen hat, die Spieler mit dem Schweiß auf der Stirn – der wird sich die Frage nicht mehr stellen. Der Stempel “Sport” ist für die meisten reine Formsache.
Team Liquid wird das Turnier gewinnen, die Spieler werden aufspringen, sich in den Armen liegen im Glitzerflitter-Regen, nicht wenige im Publikum werden weinen. Dass ein paar Monate später der Deutsche Olympische Sportbund eine Studie veröffentlichen wird, die E-Sports die Einordnung als Sport verweigert, weiß da noch niemand. Und wenn sie es wüssten, wäre es ihnen vermutlich egal.
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