Essay von Imre Grimm: Die Erlebnismaschine Fernsehen stottert – was kommt jetzt?
9. November 2019
Die neuen Lagerfeuer: Das Fernsehen war über Jahrzehnte die kollektive Erlebnismaschine, die die Nation emotional zusammenhielt, schreibt Imre Grimm in seinem Essay für die turi2 edition #9. Heute stillt das Publikum seine Gemeinschaftssehnsüchte unter Gleichgesinnten bei Netflix, Amazon und YouTube. Die Bewegbild-Welt zersplittert, statt dem linearen TV-Programm folgt das Publikum Menschen und Marken. Grimm wirft einen Blick in die Zukunft des Fernsehens – hier als Online-Text und in unserem neuen, komfortablen E-Paper.
Da naht das alte Fernsehen. Es humpelt. Thomas Gottschalk hat sich das Knie verdreht. “Der Quadrizeps”, sagt er, vor ein paar Wochen ist er gestürzt. Frühjahr 2016. Der Letzte seiner Art will es noch einmal wissen. In einem Luxushotel in Berlin stellt er der Presse die Show “Mensch Gottschalk” vor. Nochmal drei Stunden Allerweltsfernsehen für drei Generationen, sonntags bei RTL parallel zum “Tatort”. Noch einmal Nena, die Pet Shop Boys und Dieter Zetsche in einer Show. Keine gute Idee. Nach zwei Ausgaben wird Schluss sein.
Es ist vorbei mit dem Fernsehen, wie es früher war. Als nationales Heiligtum hat es ausgedient. Den televisionären Weltumarmer, der für drei bis fünf Stunden Benzinpreise, Tempolimit und Nieselregen vergessen machte, der als großer Gemeinschaftsstifter das Patchwork der Lebensstile versöhnte, gibt es nicht mehr. Über Jahrzehnte definierte das lineare Programm die Agenda des Landes, war als Lieferant für magische Augenblicke der Kitt, der den Laden emotional zusammenhielt. Fernsehen stiftete Identität. Das kann man als übergriffig oder als Laudanum für die Volksmassen geißeln, aber es hatte auch eine heilsame Wirkung: Es half beim inneren Datenabgleich. Wo stehe ich? Wo die anderen? Was ist Konsens? Was nicht?
Die Ablenkung trägt Anzug: Die großen Unterhalter schenkten den Deutschen jahrzehntelang Momente bis Stunden der Unbeschwertheit.
Die großen TV-Conférenciers der Siebziger bis Neunziger waren ja allesamt emotionale Fluchthelfer mit staatsstabilisierender Wirkung: von Hans Rosenthal (“Dalli Dalli”) bis Joachim Fuchsberger (“Auf Los geht’s los”), von Hans-Joachim Kulenkampff (“Einer wird gewinnen”) bis Rudi Carrell (“Am laufenden Band”) und – im Osten – Heinz Quermann, O.F. Weidling und Wolfgang Lippert. Prediger der Leichtigkeit, Apologeten der Ablenkung. Im Weichzeichner der Erinnerung wird die große Samstagabendshow noch zusätzlich überhöht zum Inbegriff der bundesrepublikanischen Idylle, zur großen Versöhnungsfeier der Generationen. Weltreiche vergingen, Mauern fielen. Aber so lange alle paar Wochen ein Bagger neben einer deutschen Mehrzweckhalle zehn Bierflaschen in zwei Minuten öffnete, war die Welt in Ordnung.
Eine zeitlose Regel: Erfolgreich im Fernsehen ist, was dem Geist der Gegenwart vollendet Ausdruck verleiht. “Wetten, dass..?” war im Zenit seines Erfolgs der Ofen, an dem der vom kalten Tempo der achtziger Jahre ermattete Bundesbürger die müden Knochen wärmte. Frank Elstners Kopfgeburt vereinte die Werte und Wünsche der Deutschen: Beamtenfernsehen trifft bürgerliche Weltläufigkeitssehnsucht. Herrlich. Deshalb wurde “Wetten, dass..?” 33 Jahre alt. Genau wie Jesus. Von der nostalgischen Schwermut der “Generation Golf”, die sich für ihre Kinder das gleiche Im-Bademantel-vor-dem-Fernseher-Gefühl der Sicherheit wünschte, das sie selbst zwischen Zauberwürfel, Playmobil-Piratenschiff und Carrera-Bahn gespürt hatte, zehrte die Show noch, als sie längst schon todkrank war, als die Zahl der Nischen wuchs und der Mainstream dahinschmolz.
Wenn Thommy wettete, Rosenthal in die Luft sprang und Kuhlenkampff, Carell oder Quermann in die Kamera zwinkerten, war die Welt in Ordnung.
In den Neunzigern war die Schwemme von Nachmittagstalks mit Hans Meiser, Bärbel Schäfer und Arabella Kiesbauer dann Symptom kultureller Trivialisierung. Und “Big Brother”, “Dschungelcamp” und Castingwelle waren ein perfekter Ausdruck der neoliberalen Nullerjahre, als vor Ehrgeiz bebende Ich-AGs mit Ellenbogen alles dem Egotrip unterordneten. Eine gesellschaftliche Giftinjektion, die den deutschen Alltag greller, schärfer, verletzender und anstrengender machte. Die Quote wurde zum Fetisch, Politik zu Entertainment, Lüge zur Pseudodoku. Wer statt Versöhnung, Weltumarmung und Sicherheit über Jahre hinweg Kinderbeschimpfung und Milieubashing zeigt, muss sich heute nicht wundern, wenn das Publikum seine Gemeinschaftssehnsüchte anderswo zu befriedigen versucht. Bei Netflix. Bei YouTube. Bei Amazon.
Die Identitätskrise der Deutschen hat viel zu tun mit dem Verschwinden positiver Kollektiverlebnisse. Winnetou, Kerkeling als Beatrix und “Dinner for One” – hach, wisst ihr noch? Solche Sternstunden der Unterhaltung haben das kollektive Gedächtnis geprägt. Der “King of Pop” im flatternden weißen Hemd auf dem Baugerüst. Das Sommermärchen. Der beleidigte Götz George. Franz Beckenbauer einsam auf dem Rasen. Der zeternde Marcel Reich-Ranicki. Lena beim Eurovision Song Contest 2010. Götzes Schuss. Ein paar Fußball-Länderspiele gehören bis heute zu den letzten nationalen Events. Ab und zu ein “Tatort”, der sich mit Formatbrüchen geschickt relevant hielt. Das war‘s. Gemeinsames Erleben aber macht das Gespräch einer Gesellschaft mit sich selbst erst möglich.
Gemeinsames Erleben ermöglicht das Gespräch einer Gesellschaft mit sich selbst. Einst erlebte man eher national: Kerkeling als Beatrix, “Tatort”, Marcel Reich-Ranickis Zetern, deutscher Jubel bei ESC und WM.
Die TV-Welt der Gegenwart ist ein globalisiertes Füllhorn des Entertainments. Die extreme Zersplitterung hat einen hohen Preis: Es ist die kulturelle Vereinzelung. Wenn also das große Lagerfeuer Fernsehunterhaltung ausgeht – um wen oder was wird sich die frierende Nation dann versammeln? Und welcher Phönix steigt aus der erkaltenden Asche hervor? Es sind nicht mehr lineare TV-Programme, die heute die verbindende Kraft gemeinsamen Erlebens liefern. Es sind Menschen und Marken. Die Teilzeit-Communities der Gegenwart versammeln sich um Influencer, Serienhelden, Comedians und Produktwelten. Das gemeinsame Erlebnis von heute ist das kollektive, aber eben zeitversetzte Rührungsschluchzen über James Cordens “Carpool Karaoke”-Folge mit Paul McCartney, 44 Millionen Mal bei YouTube geklickt. Oder das Kinderspiel mit den vertrauten Helden aus Legos “Ninjago”-Kosmos. Oder der heilige Fan-Zorn über das holprige Ende von “Game of Thrones”.
Loyalität ist der Stoff, aus dem die Kollektiverfolge der Zukunft gewoben werden. Loyale Fans haben Darts zum Trendsport erkoren. Loyale Fans haben E-Sports zum Milliardenmarkt gemacht. Loyale Fans sind es, die YouTube-Kanäle aufsteigen und wieder verglühen lassen. Ländergrenzen? Kulturgrenzen? Altes Denken. Die Generation Z sucht die Gesellschaft von ihresgleichen und ihre Helden weltweit. Wohlige Nachbarschaftsgefühle entstehen heute über Ozeane hinweg – unter “Stranger Things”-Fans in Washington und Würzburg, unter Lady-Gaga-Monstern in Marseille und Helsinki. Mit Baggern beim Kopfstand kommst du nicht mehr weit. Aber ein Kinderlied mit Baggerbildern bei YouTube hat 49 Millionen Aufrufe.
Gesprächsstoff für die globale Gesellschaft bietet heute YouTube: Paul McCartney beim “Carpool Karaoke”, Comedians auf Roadtrip und Hillary Clinton “between two ferns”
Das popkulturelle Schlemmerbüffet der Welt hat uns daran gewöhnt, dass die Befriedigung jedes visuellen Bedürfnisses nur einen Mausklick entfernt ist. Global ist normal. Die Netflix-Serie “Narcos” hat ein französisches Team mit einem Brasilianer in der Hauptrolle in Kolumbien gedreht, und ihre treuesten Fans hat sie in Deutschland. Fernsehen? Das ist für die Generation Z bloß kaputtes YouTube. Den klassischen Sendern bleiben mittelfristig nur die Älteren, die Weggenickten und die Offliner – und die sind allesamt für die Werbeindustrie unattraktiv.
Die TV-Branche hat nur eine Chance gegen die globalen Geschichtenerzähler: Kollektiverlebnisse und Aufreger. Die größte Schwäche des “alten Fernsehens” könnte zur größ- ten Stärke werden: die Linearität. Live – ein Rettungsanker? RTL zeigt 2020 eine Live-Herz-OP nach dem Vorbild der BBC, überträgt zu Ostern dann sogar Passionsspiele live. Live heißt: Überleben. Parallel entsteht ein “Global Village”, das eben keine betonierte Kommune ist, auf deren Dorfplatz ein Feuer brennt. In Wahrheit ist es ein Trailer-Park mit Tausenden Wohnwagen voller Tropfkerzen, in denen sich ständig wechselnde Cliquen zum Abhängen, Glotzen und Quatschen treffen. Die Wohnwagen parken stündlich um, die Menschen kommen und gehen, nichts bleibt je gleich. Und das Lagerfeuer ist keine mächtige, zentrale Flamme mehr, sondern das wandernde, irrlichternde Lodern zahlloser Flämmchen. Kleinen, schnellen Formaten gehört die Zukunft. Wie “Comedians in Cars Getting Coffee” mit Jerry Seinfeld. Wie “Between two Ferns”, die Talkparodie mit Zach Galifianakis. Wie Jan Böhmermanns und Olli Schulz‘ Plauderstunde “Fest & Flauschig”, 2018 der erfolgreichste Spotify-Exklusiv-Podcast der Welt.
Jeder 15-Jährige, der ein Smartphone halten kann, kann heute Flämmchen werden. Dann gibt es noch die gigantischen Flammeninfernos, deren Funkenflug Bilder in die letzten Winkel der Erde trägt: Apple, Amazon, Google. Die Leitfackeln der Zeit sind Marken. Ein halbes Dutzend globaler Konzerne definiert, was Milliarden Menschen im Netz sehen, kaufen, lesen und tun. Natürlich macht dieser Überfluss etwas mit uns: Er zwingt, die Frage nach der eigenen Identität permanent neu auszuhandeln. Die kulturelle Sozialisation vollzieht sich längst in der Blase des eigenen sozialen Netzwerks zwischen Menschen, deren stärkste Gemeinsamkeit nicht mehr Nation, Religion, Hautfarbe, Sprache oder Herkunft ist, sondern Geschmack oder Meinung. Hybridmedien werden Real Life und virtuelle Realität verschmelzen lassen. Der “Tatort” könnte so bald zum individualisierbaren Mix aus Real-Life-Verbrecherjagd und virtuellem Erleben werden. Mit Thiel und Boerne durch Münster, real oder per Datenbrille? Emil und die Detektive als virtuelle Ermittlergang mit wildfremden Gleichgesinnten? Warum denn nicht?
Und was, wenn sich das digitale Sozialleben von den Konzernen emanzipiert? Was, wenn soziale Netzwerke – wie TV, E-Mails, Mobiltelefone – offenen Standards und Protokollen unterlägen? Dann wäre “Social Media” nicht mehr plattformabhängig. Kein “Ort” mehr, den man aufsucht, um sich auszutauschen. Sondern das Netz selbst. Der digitale Kreißsaal könnte eigene Helden gebären, KI-gesteuerte Kunstfiguren, die aus den präzisen Sehnsüchten wechselnder Nutzergruppen ein Moderatoren- oder Showprofil errechnen, das exakt zum Zeitgeist passt. Und bei dem es egal ist, ob er aus Einsen und Nullen besteht. Oder aus Fleisch und Blut.
Wie Gottschalk, der sich seit jenem Flop 2016 mit wachsender Verzweiflung gegen den Bedeutungsverlust stemmte, etwa als Juror bei der Pro7-Fleischbeschau “Germany‘s Next Topmodel”. Es hatte etwas Tragisches, wie er 2018 dem Finale einer überzuckerten Trash-Livehochzeit beizuwohnen versuchte. “Kommkommkomm, Ringe, Ringe, Thomas!!”, rief Heidi Klum. “Was? Wie?”, murmelte Gottschalk. Und trug fahrig, aber artig die Trauringe heran, ferngesteuert wie ein altes Zirkuspferd, das innerlich emigriert ist, aber nicht mehr anders kann. Er macht jetzt wieder Radio in Bayern. Wie früher, vor einer Million Jahren. Es ist vorbei.
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