turi2 edition #9: Fynn Kliemann – der Einfach-Macher.


Keine Star-Scheiße: Fynn Kliemann ist Webdesigner, Autor, Musiker, Heimwerker, YouTuber – und König eines Landes, in dem jeder alles kann. Sein Kliemannsland – früher mal ein Bauernhof zwischen Bremen und Hamburg – will ein “kreativer Hub” für alle sein, die ein Projekt haben, das sie schon immer mal umsetzen wollten. Anne-Nikolin Hagemann und Markus Trantow besuchen ihn dort für die turi2 edition #9 und sprechen mit ihm über seinen Antrieb und seine größte Angst, dem Burnout. (Fotos: Johannes Arlt)

Sein Reich liegt unter hohen Bäumen, in denen Vögel zwitschern. Weit entfernt rauscht die A1. Ab und zu rumpelt ein Traktor vorbei. Nebenan: der Schützenverein. Gegenüber: Fußballplatz und Feuerwehr. Mehr Dorf geht nicht. Fynn Kliemann ist hier aufgewachsen. Er glaubt: “Da, wo man Moped fahren und abends mit seinen Freunden was in die Luft jagen kann, ohne dafür in den Knast zu gehen: Das ist ein guter Ort.” Also ist er hiergeblieben. Fynn Kliemann tut meistens, worauf er Lust hat.

Eigentlich ist er Webdesigner, seine Agentur Herrlich Media sitzt ein Dorf weiter. “Alles, was ich sonst mache, ist Hobby”, sagt er, “oder Selbstverwirklichung. Kannste nennen, wie du willst.” Hat er Lust, ein Buch zu schreiben, gründet er einen Verlag. Möchte er lernen, wie man Kleidung macht, baut er eine eigene Marke auf. Musik macht er auch, deswegen hat er jetzt ein Plattenlabel. Außerdem bastelt, schraubt und schweißt er gerne, bevorzugt ohne Schutzkleidung. Also filmt er sich dabei. Mittlerweile hat er über eine halbe Million Abonnenten bei YouTube, beinahe ebenso viele bei Instagram.


Die Bastelarbeit im Wind, der Kabelsalat auf dem Esstisch, neue Uferpflanzen: “Alles, was du hier siehst, taucht in irgendeinem Video oder Post auf”, sagt Fynn Kliemann. Als Zuschauer kann man sich zu Hause fühlen im Kliemannsland – ohne je dort gewesen zu sein

Und jetzt das Kliemannsland. Ein alter Hof zwischen Bremen und Hamburg, den Fynn mit Freunden und seiner Community umbaut zu einem Sehnsuchtsort für Kreative. Und zum Spielplatz für große Kinder, mit Feuerstellen, Schaukelbrettern im Baum, Hau-den-Lukas und Betonwippe. Jeder über 18 kann vorbeikommen und mitmachen. Kostenlos. Begleitet wird das von einer gleichnamigen Webserie für Funk, mitproduziert – natürlich – von Kliemann selbst. Für die Produktion gibt es Geld vom NDR, mit seinen eigenen YouTube-Videos und Instagram-Posts verdient Kliemann nichts. Die Zusammenarbeit mit Sponsoren und Werbung lehnt er ab. Den größten Teil von dem, was er über die Agentur und an seinen anderen Projekten verdient, steckt er ins Kliemannsland.

Fynn Kliemann im TV-Fragebogen

Heute drehen sie, wie er unter Anleitung von Freundin Franzi die Böschung des neu gebuddelten Teichs begrünt. Ohne Skript, ein paar GoPros und ein Kameramann filmen für ein Zehn-Minuten-Video: vier Stunden schaufeln, Steine schleppen, pflanzen und plaudern in der prallen Sonne. Fynn plantscht im schmutzigen Wasser, singt, raucht, zappelt, tut sich weh, flucht und plant schon die Grillecke am See und den Platz für die Wasserrutsche: “Das wird mal richtig geil hier!” Nebenbei erklärt er, wie man ein Filtersystem für ein stehendes Gewässer baut.

Fynn Kliemann glaubt, dass jeder alles lernen kann. In der Anfangszeit der Agentur arbeitet er sieben Tage die Woche. Programmieren bis vier Uhr früh, weiter um acht. “Ich habe nichts anderes gemacht, zwei Jahre lang. Weil ich einmal gut darin werden musste.” Nach Drehtagen wie heute hat er bis in die Nacht den Laptop auf dem Schoß, sichtet Material, schreibt Konzepte, plant Projekte. Hinter dem Spaß stecken viel Arbeit und wenig Schlaf. “Du musst entscheiden: Willst du alle Freizeit, die du hast, dafür aufgeben? Ich hab halt sehr früh gesagt: Ja, ‘türlich!” Manchmal fällt ihm ein, was er dabei verpasst: Zeit mit Freunden und Familie, Abende mit seiner Freundin. Dann kommt die nächste gute Idee und er denkt: “Ach, fuck it. Ist geil.”


Das Gemüse kommt aus dem hofeigenen Garten, das Huhn vom Nachbarn, die Köchin aus dem gleichen Ort wie Fynn

Was er tut, könnte auch jeder andere, sagt Kliemann: “Ich habe kein besonderes Talent, ich mach einfach.” Das gilt auch für das Kliemannsland: “Du brauchst nur die richtigen Menschen und Gefühle und Typen. Die helfen sich gegenseitig und passen auf sich auf. Fertig.” Natürlich ist es da nicht schlecht, wenn man viele Leute kennt, manche von früher aus der Schule, manche über Instagram. Und wenn viele Leute einen selbst kennen.

Zu öffentlichen Veranstaltungen wie dem Weihnachtsmarkt oder einem Musikfestival kommen bis zu 15.000 Gäste. Fast 50.000 Menschen sind virtuelle Bürger des Kliemannslands. Über den Fynnder, eine Art digitale Pinnwand, können sie Projekte vorschlagen, über deren Umsetzung abstimmen und sich zum realen Mitarbeiten anmelden. Dann wohnen sie auf dem Hof, in alten, bunt bemalten Wohnwägen, in Zelten, in der Scheune. Sitzen mit am Tisch, wenn Köchin Zora, eine Schulfreundin von Kliemann, Essen kocht aus dem Gemüse, das sie hier selbst anbauen. Jeder von ihnen kann alles, sagt Kliemann. “Jeder, der Bock hat. Oder eine gute Idee. Oder zu viel Energie. Oder zu wenig Platz zu Hause. Reich, arm, schwarz, weiß – mir doch egal.”

Manchmal zwingt sich Fynn Kliemann, eine Pause zu machen, zumindest für 20 Minuten. “Um mich herum haben alle Burnout wie Sau. Und das kann ich mir nicht erlauben.” Wovor er Angst hat? “Dass das alles dann kaputt ist. Dass diese Visionen verloren gehen. Wir haben da echt was aufgebaut in den letzten Jahren. Wäre cool, wenn das bleibt.”

Während er das sagt, sitzt er unter einem der alten Bäume und zupft an einer Wunde auf seiner Handfläche. Neben ihm zu sitzen kann einen wahnsinnig machen. Nach zwei Minuten wechselt er die Position ein erstes Mal, nach vier ein zweites. Nach fünf wippt der Fuß, die Finger zerstrubbeln die Haare. Nach zehn beginnen sie, herumliegende Blätter zu zerrupfen. Und irgendwann schaut man runter auf die eigenen Hände – und sieht, dass man längst selbst angefangen hat mit dem Zupfen und Wippen und Zerpflücken. Fynn Kliemann ist hochansteckend.

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