turi2 edition #8: Tim Sommer über unter- und überschätzte Künstler
9. Juni 2019
Kunst oder weg?Tim Sommer, Chefredakteur von Europas größtem Kunstmagazin “art”, trifft sich für die turi2 edition #8 mit Heike Reuther in den Hamburger Deichtorhallen. Sie besichtigen die Ausstellung “Stuttgart sichten” und sprechen dabei über Erfolg in der Kunst – und die Kunst des Erfolgs. (Fotos: Johannes Arlt)
Das Interview mit Tim Sommer und viele andere Erfolgsgeschichten finden Sie auch in unserem frei zugänglichen E-Paper zur “turi2 edition #8” auf den Seiten 88-94.
Als Tim Sommer zur Verabredung in den Deichtorhallen erscheint, schwingt ein Hauch kreativer Bohème mit: lässig geschnittener Nadelstreifen-Anzug, die Krawatte in kontrastreichem Azurblau, farblich abgestimmte Socken, Fluppe im Mundwinkel.
Herr Sommer, wenn Sie eine Person der Kunstgeschichte sein könnten, wen würden Sie wählen?
Ich mag mein Leben sehr, ich möchte eigentlich mit niemandem tauschen. Und schon gar nicht mit einem toten Helden der Kunstgeschichte! Aber wenn ich mich auf das Spiel einlasse, dann wäre ich gern der Urmensch, der mit einem verkohlten Stab das erste Bison in die Höhle malte.
Was fasziniert Sie an diesem Urmenschen?
Damit fing der ganze Wahnsinn doch an, das Wunder der Imagination. Das Bison wanderte von der Wirklichkeit draußen über den Kopf des Künstlers in dessen Hand – oder deren Hand, wer weiß das schon? – und an die Wand der warmen Höhle. Dort wurde es verehrt, begehrt, gefürchtet, beschworen. In den Köpfen der anderen Urmenschen begann sich etwas zu bewegen. Diese Schaffenskraft und Wirkmacht ist das Faszinierende an der Kunst. Der Kunsttrieb ist Ausdruck des Menschseins. Er ist von beiden Seiten produktiv, beim Machen und beim Betrachten.
Was unterscheidet einen erfolgreichen Künstler von einem erfolglosen?
Erfolg hat, besonders in der Kunst, mehrere Dimensionen. Erfolg ist zunächst einmal der Glücksmoment des Gelingens. Von einem erfolgreichen Künstler spricht man aber erst, wenn drei Bedingungen zusammenkommen: Nämlich wenn ein Künstler seiner Leidenschaft frei folgen kann, dafür Beachtung findet und mit seiner Arbeit sein Leben bestreiten kann. Dieses Glück ist, wie wir wissen, nur ganz wenigen Menschen vorbehalten. Die meisten Künstler erleben das nie. Wenige haben es in einer Phase ihres Lebens, für ein paar Jahre, meistens wenn sie zwischen 30 und 40 Jahren alt sind. Und es sind absolute Einzelfälle wie Gerhard Richter, die ihr Leben lang im Lichtkegel der Beachtung stehen.
Jetzt sprechen wir aber von der großen Weltbühne der Kunst.
Stimmt, aber daneben gibt es zahlreiche kleinere Kunstszenen, in denen Künstler durchaus glücklich und zufrieden werden können. Erfolg ist eben auch immer eine Frage der persönlichen Lebensweisheit.
Wie wurde aus Pablo Picasso Pablo Picasso?
Er hatte ein fulminantes Talent, und das wusste er auch, das machte ihn frustrationsresistent. Aber er war trotzdem bereit, sich allen Zumutungen der Zeit auszusetzen, sich zu bewegen und sich immer wieder selbst infrage zu stellen. Er konnte netzwerken und sich abschotten, war ehrgeizig und sehr, sehr fleißig. Und er hatte die Gabe und die egomanische Grausamkeit, sich immer das für ihn perfekte, inspirierende Setting zu schaffen. Das alles ist wirklich die ideale Mischung für eine große Karriere.
Tim Sommer besucht die Ausstellung in den Deichtorhallen nicht zum ersten Mal. Die Skulpturen bedeutender Künstler wie Auguste Rodin, Rosemarie Trockel, Henry Moore oder Florian Slotawa haben es ihm angetan. Doch nicht jedes Werk kann ihn überzeugen.
Gibt es erfolgreiche Künstler, bei denen Sie denken: Uh, der ist aber schwer überschätzt?
Klar gibt es Künstler, die uns auf die Nerven fallen. Nicht umsonst haben wir in unserem Magazin die beliebte Rubrik “aktuell überschätzt”. Leon Löwentraut kam auch schon darin vor. Der 20-Jährige wird als Shooting-Star gepusht, erzielt Preise von bis zu 40.000 Euro. Aber der Preis und Hype allein ist eben kein nachhaltiges Kriterium bei der Bewertung von Kunst. Löwentraut hat seine Fan-Gemeinde. Die hat aber mit dem, wie Kunstgeschichte geschrieben wird, nichts zu tun und läuft nebenher. Vielleicht wird er ja mal der James Rizzi unserer Zeit, ein populärer Poster-Künstler, aber er bleibt ganz sicher außerhalb der eigentlichen Avantgarde.
Wie man sieht, können sich Künstler unabhängig vom klassischen Kunstbetrieb entwickeln. Wie wichtig ist da noch der Galerist? Und welchen Beitrag leisten Museen?
Die richtige Galerie ist nach wie vor lebenslaufentscheidend. In der Kunst gab es noch nie soviel Konkurrenz wie heute. Erst der Galerist oder auch die Museen treffen eine Auswahl und sorgen für die nötige Zuspitzung und Aufladung. Massenpopularität kann da eher hinderlich sein. Die Galerie ist der Treiber, das Kraftwerk. Wenn ein Künstler da nicht in das richtige Feld gerät, sind seine Chancen sehr gering, im Kunstbetrieb zu reüssieren.
Ist es durch die sozialen Medien als Künstler heute leichter, Beachtung zu finden und Erfolg zu haben?
Es ist erstaunlich, wie wichtig in unserer Szene nach wie vor Print ist. Der dicke Museumskatalog, das Kunstmagazin sind die Leitmedien. Auktionshäuser und Galerien geben eigene Magazine heraus. Mit Social Media bewirkt man da eher wenig. Viel mehr zählt gutes Storytelling. Denn im Atelier des Künstlers entsteht ja einfach erst mal nur ein Ding, das keiner wirklich braucht. Erst wenn darüber geredet wird, passiert eine Aufladung mit Sinn und Bedeutung, die ein Werk daraus macht. Die Story kann ein theoretischer Hintergrund oder die Biographie des Künstlers sein.
Welche Rolle spielt die “art” beim Erfolg für Künstler?
Wenn wir eine Geschichte über einen Künstler machen, wird das schon wahrgenommen. Aber wir betreiben ja keinen Kampagnenjournalismus. Die Aufgabe von “art” ist es, den Leser durch den Dschungel der Kunst zu führen, ihm das Kauderwelsch der Kunstsprache zu übersetzen und das Abenteuer Kunst zu vermitteln. Wir sehen uns das Angebot der Galerien und Museen vorurteilsfrei und neugierig an. Wir sind nicht das Feuilleton, das richterlich ein Urteil spricht. “art” wurde vielmehr mit dem Reporter-Gen des “stern” geboren. Wir gehen in Ateliers, besuchen Künstler mit unseren Fotografen, sprechen mit Galeristen und Kuratoren und berichten mehr, als dass wir urteilen.
Sie sitzen quasi an der Quelle – sammeln Sie selbst Kunst?
Schon aus Compliance-Gründen nicht. Im Ernst, ich habe diese Besitzreflexe selten und schaue mir lieber immer wieder neue Kunst in Museen und Galerien an. Aber ich gestehe eine Schwäche für Flohmarktkunst. Ich liebe es, Sachen zu finden, die eigentlich nichts wert sind, denen man aber Wert geben kann, indem man das Besondere an ihnen für sich entdeckt. Wer wirklich sammeln will, muss vor allem Zeit investieren. Der Kunstbetrieb ist launisch und eine gefräßige Maschine. Was heute zu hohen Preisen angeboten wird, ist oft
in wenigen Jahren schon nicht mehr relevant. Man muss sich sehr gut auskennen und ein eigenes Urteil entwickeln.
Die “art” gibt es seit 40 Jahren. Sie sind seit nunmehr 14 Jahren ihr Chefredakteur, in der heutigen Zeit ein Phänomen. Fühlen Sie sich als Letzter Ihrer “art”?
“art” hat sich von Anfang an nicht als Fachblatt für den Kunstbetrieb verstanden, sondern als Magazin, das die Welt der Kunst einem breiten Publikum vorstellt. Rund 80 Prozent unserer Auflage gehen im Abo raus. Ein Teil davon an die Kunstszene, aber von der allein könnten wir nicht leben. Der Großteil unserer Abonnenten ist das kunstbegeisterte Bildungsbürgertum. Wir sind sein Wegbegleiter durch den Kunstbetrieb. Unsere Strategie: konsequent auf Qualität setzen und ein teures Magazin machen, das unsere Leser dennoch preiswert finden. Auch unser Anzeigenmarkt hat in den letzten fünf Jahren überhaupt nicht gebröckelt. Die “art” ist wirtschaftlich ein sehr gesundes Produkt: klein, fein, profitabel – vielleicht ist das die Zukunft der Printbranche, unsere ist es bestimmt.
Wie lautet Ihr eigenes Erfolgsrezept?
Ich pflege meinen Optimismus und lasse mich von den Schwierigkeiten in der Branche nicht kirre machen. Wir haben bei “art” einen Traumberuf. Entscheidend ist, wie man mit seinen Leuten umgeht: Ich versuche, dem Ehrgeiz Raum zu geben und die Leichtigkeit zu erhalten, damit Gutes entsteht. Für mich ist ein Tag erfolgreich, wenn ich etwas faszinierendes Neues erlebt habe. Und das passiert in unserem Beruf ja herrlich oft.
Wie halten Sie es mit dem Misserfolg?
Wie in jedem Beruf muss man Scheitern wegstecken und aufstehen können. Aber ich persönlich habe es anders erfahren: Ich finde, dass man vor allem aus dem Erfolg lernt. Positive Erlebnisse und Vorbilder weisen viel stärker den Weg.
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