Smartphone oder sterben: Video-Werber Mirco Völker von FischerAppelt Play ist Experte für Kampagnen in bewegten Bildern. Er setzt Mercedes-Benz und die S-Bahn Berlin viral in Szene – und teilt im Interview mit Peter Turi für die turi2 edition #9 seine Gedanken zum Thema TV. Bewegtbild finde “fast nur noch digital statt” – und Werbung funktioniere immer mehr wie eine Serie. (Fotos: Anne-Nikolin Hagemann)
Wie unterscheidet sich Bewegtbild-Werbung heute von gestern?
Fundamental. Kommunikation mit bewegtem Bild hat sich sehr stark dem radikal veränderten Verhalten der Nutzer angepasst – und wird das künftig noch viel mehr tun müssen. Vor zwölf Jahren haben wir mit dem Handy telefoniert und gesimst. Heute organisieren wir unser soziales Leben mit dem Smartphone – und schauen 60 Prozent aller Videos damit. Marken müssen also Erzählformen entwickeln, die auf dem Smartphone funktionieren. Bewegtbild muss digital, on-demand und interaktiv funktionieren.
Wie hat der Nutzer sich verändert?
Das sehen wir an uns selbst: Wir bestimmen heute, was wir wann wo sehen wollen. Wir sind sprunghafter, zerstreuter und streben ständig nach neuen Impulsen. Keiner lässt sich mehr von platten Werbesprüchen beeindrucken – wir sind überinformiert und kritischer geworden. Wir wollen Marken, die uns im wahren Leben begegnen, die mit uns auf einer Wellenlänge liegen und die Verantwortung übernehmen. Marken, die uns verstehen und uns relevante Inhalte im Mehrwert bieten – diese sind wir dann aber auch bereit zu teilen und zu liken. Wir publizieren heute selbst, so wird jeder einzelne von uns zum Multiplikator und Micro-Influencer.
Was ist out?
Wir kommen aus der Zeit der großen Spots fürs klassische Fernsehen und fürs Kino. Alles war für den Lean-Back-Modus konzipiert, niemand hat etwas weggeklickt oder übersprungen. Also konnten wir Werber langsam erzählen, elegisch schneiden. Wir konnten uns auf die Wirkung eines 30- oder 45-Sekünders verlassen. Wir konnten Streuverluste in Kauf nehmen, weil wir auf den wenigen Kanälen dennoch eine gute Durchdringung erreichten. Es gab keinen Rückkanal und keinen Shitstorm. Die Werbeblöcke wurden von den großen Marken dominiert und die Botschaften mit viel Mediadruck über wenige Kanäle quasi in unsere Köpfe gedrückt.
Das ist vorbei?
Ja. Es werden zwar weiter TV-Spots für Awareness und Markenbildung eingesetzt, aber die Musik spielt zunehmend im Digitalen. Und da wird Werbung gern ausgeblendet oder übersprungen, wenn sie dem Nutzer nicht gefällt.
Und was ist die Zukunft?
Bewegtbild-Werbung – oder besser: Marken-Content – muss so gut gemacht sein, dass der Nutzer sie gezielt sucht und weiterleitet. Sie muss humorvoll und relevant sein, unterhaltsam und einen Mehrwert bieten. Guter Marken-Content wird unterwegs gesehen und geteilt, er kann also viral gehen. Auch ohne großes Mediabudget, wenn er gut gemacht ist.
Mirco Völker im TV-Fragebogen
Werbung darf gar nicht mehr wie Werbung aussehen?
Im Idealfall fesselt Marken-Content den Nutzer genauso wie eine Netflix-Serie oder der Post eines Influencers. Der Nutzer soll dranbleiben, wiederkommen, sich auf die Fortsetzung freuen. Wir müssen die Mechanik und Faszination von Netflix und Co nutzen, um unseren Marken-Content Binge-Watching-fähig zu machen. Also Trailer, Cliffhanger, starke Charaktere, mit denen man sich identifizieren kann, aufeinander aufbauende Staffeln und Episoden. Im Idealfall machen unsere Formate süchtig.
Das wird schwierig.
Aber es ist möglich. Wir müssen relevanten Content in fesselnden Serienformaten präsentieren, Bewegtbild von Marken als Branded Entertainment verstehen. “Benimmregeln in der S-Bahn” – klingt erstmal langweilig, aber wir haben das Thema für die S-Bahn Berlin im Stil einer Horror-Serie so attraktiv gedreht, dass die Views und Likes bei YouTube durch die Decke gegangen sind. Große Ideen sind nach wie vor relevant für Erfolg und digitale Strahlkraft.
Was hat sich verändert?
Alles muss heute schneller gehen: die Schnitte, die Musik, die Erzählweise, die Mechaniken. Und alles ist komplexer, denn nach dem Post ist vor dem Post: Kommunikation hat eine viel geringere Halbwertszeit, unzählige Kanäle, einen Überfluss an Content, Daten, Feedback im Social Web. Wir haben aber auch neue Chancen: Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass wir für weniger als 40.000 Euro einen Clip drehen, der digital 26 Millionen Menschen erreicht. Ist aber so passiert, beim Film “Alpine Soccer” für Mercedes-Vans.
In dem Film zeigen Sie, wie in einem Bergdorf im Montafon an einem extremen Steilhang Fußball gespielt wird – das ist sehr lustig. Sieht aber sehr teuer produziert aus.
Ist es aber nicht. Wir haben das an einem Tag mit den Bewohnern und Fußball-Vereinen eines Dorfs gedreht, sehr spontan und improvisiert. Unsere tägliche Herausforderung ist, mit kleiner werdenden Budgets mehr Content zu erzeugen. Es gibt zwar noch die großen Produktionen, aber bei einem Dreh müssen viel mehr Assets für verschiedene Kanäle herauskommen.
Warum schauen zwei Millionen Menschen ein Video an, bei dem ein junger Mann fast eine halbe Stunde braucht, um ein paar Brote zu schmieren? Mit viel Geknister und Rama.
Da haben die Kollegen erfolgreich auf einen Videotrend namens ASMR gesetzt. Besonders langsam geschnittene, mit Geräuschen versehene Alltagshandlungen sollen dabei die Sinne ansprechen.
Manche Leute beruhigt das. Streichelt demnächst jemand einen Mercedes?
Genau das haben wir vor.
Verrückt.
Der Trend geht zur subtilen Produktintegration statt direkter Produktwerbung. Wir haben beispielsweise mit Myvan.com eine Website mit Video und Social aufgebaut, die täglich echte Bewegtbild-Geschichten aus der Welt der Mercedes-Benz Vans erzählt, zum Beispiel von Handwerkern, Weltenbummlern oder Startup-Gründern.
Wozu?
Marken wollen immer weiter in die Lebenswelt ihrer Zielgruppen vorrücken und enge Beziehungen aufbauen. Bewegtbild ist das emotionalste Medium und deshalb der wichtigste Hebel. Geschichten müssen echter werden – weniger werblich. Reine Werbe-Botschaften werden seltener. Produkte müssen authentisch und subtil in Lebenswelten eingebunden werden. Schauspieler und echte Protagonisten werden zu Markenbotschaftern.
Wenn im Zusammenhang mit Werbung das Wörtchen “authentisch” fällt, zucke ich zusammen.
Die echte Geschichte wird wichtiger, der echte Protagonist, der vielleicht nicht mal Geld dafür kriegt, dass er positiv über die Marke spricht. Die Marken gehen immer mehr in Richtung Themenkommunikation und das Produkt wird zurückgestellt. Wir inszenieren einen Van über zwei Reiseblogger und stellen deren Abenteuer nach vorne, nicht das Produkt.
Ergibt der Begriff Schleichwerbung noch Sinn?
In diesem Zusammenhang nicht. Die Videos laufen auf den Kanälen der Marken –und die Nutzer sind da ja freiwillig.
Der Mirco-Influencer: Mirco Völker, 45, studiert Wirtschaftswissenschaften und kommt über die Agentur Leo Burnett zu Mercedes, wo er die PKW-Werbung leitet. Seit 2009 verantwortet Völker als TV-Chef der Content-Agentur FischerAppelt kreative Bewegtbild-Formate unter anderem für Bosch, Mercedes und die Deutsche Bahn
Welche Kanäle nutzen Sie?
Das hängt vom Kommunikationsthema ab. TV und Kino können ein Thema sein, Digital wird immer mehr zum Muss. Facebook bleibt relevant, Instagram und LinkedIn werden wichtiger, auch wenn Instagram-TV schleppend anläuft, bei den Jüngeren spielen TikTok und Snapchat mit. Und YouTube ist sicher ein Basismedium geworden – wobei es keinen Sinn macht, nur den eine Million Euro teuren 30-Sekünder auf YouTube zu stellen und Klicks zu erwarten. Jedes Medium braucht sein passendes Format, basierend auf einer starken, integrierten Idee.
Wenn Sie in die Zukunft schauen: Wie wird Bewegtbild-Werbung im Jahr 2030 aussehen?
Zuerst müssen wir uns darauf einstellen, dass wir vermutlich sehr viel mehr Zeit mit dem Konsum von Bewegtbild verbringen, weil wir beispielsweise im Auto nicht mehr selbst lenken müssen und stattdessen Videoinhalte gucken können.
Das ist dann im wahrsten Sinne des Wortes Bewegtbild.
Genau. Für High-End-Themen sehe ich eine Rückbesinnung auf die hochwertige cineastische Bildsprache. Andererseits wird es noch mehr Formate geben, die von Social-Media-Kanälen wie Snapchat, TikTok und WeChat bestimmt sind. Auch Videogames werden Storytelling, Bildsprache und Interaktivität der Werbung verändern. Artificial Intelligence und computergenerierte Inhalte sind sowieso auf dem Vormarsch. Big Data eröffnet zudem die Möglichkeit, Filme noch stärker unseren individuellen Bedürfnissen anzupassen. Der Film, den ich sehe, muss nicht derselbe sein, den Sie sehen.
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