“Du, gerade ist ein fremder Mann mit deinem Auto weggefahren?” Der Nachbar am anderen Ende der Leitung klingt aufgeregt, doch Christian Vollmann kann ihn beruhigen: Ein Freund aus London ist zu Besuch und hat sich sein Auto ausgeliehen. Erleichterung beim Nachbarn, Glücksgefühl bei Vollmann: Sein Nachbarschafts-Netzwerk funktioniert. Sogar als Alarmsystem. Der Anrufer ist einer von 20 Nachbarn, die Christian Vollmann persönlich kennt. Einer von 20, denen er, als er 2013 mit seiner Familie ins Scheunen-Viertel in Berlin-Mitte zieht, zur Begrüßung ein trojanisches Pony in den Flur stellt. Denn ums reine Kennenlernen geht es Vollmann nicht, als er bei ihnen klingelt und sich vorstellt.
Ein Nachbar war mit dem Internet nicht so dicke. Heute ist er doch bei nebenan.de
Durch den Umzug reift in ihm die Idee eines digitalen Nachbarschafts-Netzwerks. Kein zweites Facebook, denn Nachbarn sind keine Freunde, sondern eben Nachbarn. Er stellt sich stattdessen eine kostenlose Plattform ohne Algorithmus vor, auf der Nachbarn sich austauschen können. Der eine verschenkt einen Sessel, der nächste rettet Lebensmittel und lädt zum gemeinsamen Kochen ein, der andere sucht einen Laufpartner. Dafür macht Vollmann den Feldversuch bei seinen eigenen Nachbarn, fragt, ob er ihre E-Mail-Adressen für ein digitales Viertelportal bekommen kann. 19 Nachbarn geben sie ihm, einer ist mit dem Internet nicht so dicke, versorgt Vollmann dafür aber mit reichlich Kaffee, Kuchen und Geschichten.
Im Scheunenviertel in Berlin-Mitte startete Christian Vollmann sein Netzwerk – indem er seine Nachbarn um ihre E-Mail-Adressen bat. Foto: Holger Talinski
Vollmann, 40, wohnt mit seiner Frau, drei Kindern und Dackel in einer kleinen Seitenstraße. Verkehrsberuhigter Bereich, Kopfsteinpflaster, sanierter Altbau mit Fassade in Beerenfarbe. Neben der Hausnummer hängt eine Denkmalschutzplakette, im Eingang lehnt ein Fahrrad mit Kindersitz. Direkt gegenüber quetscht sich ein Plattenbau ungelenk zwischen die altehrwürdigen Häuser. Es ist die jüngste Platte Berlins, fertig gebaut kurz vor dem Mauerfall, erzählt Vollmann, der nicht unauffällig, aber unauffällig gekleidet ist: Kapuzenjacke, Sneaker, strubbelige, schwarze Haare, durchdringender Blick. Er sieht anders aus als auf Pressefotos, die es sonst von ihm gibt. Auf denen wirkt Vollmann ernster, älter – und unnahbarer. Ist er alles nicht. Das mit der Nachbar-Platte weiß er von einem Quartiers-Rundgang – der internet-skeptische, ältere Herr von gegenüber hat sich dann doch bei nebenan.de angemeldet, repariert nun tropfende Wasserhähne und erzählt bei Bedarf, wie er in seiner Jugend illegal auf Güterzügen durch die USA und Kanada gereist ist.
Vollmann glaubt: Mehr Miteinander kann deutschen Städten nicht schaden
Menschen wie ihn hat Vollmann im Kopf, als er nach dem E-Mail-Test seine Idee angeht. Inspiriert hat ihn die Plattform nextdoor aus den USA. Dort sind die Viertel zwar separierter als in Deutschland, wo Büros, Bars und Wohnungen oft bunt durcheinanderwürfeln. Aber mehr Miteinander kann auch deutschen Städten nicht schaden. Als Vollmann nebenan.de gründet, arbeitet er eigentlich noch bei eDarling. Uneigentlich ist er auf dem Absprung, will eine Auszeit nehmen, neuen Sinn finden. Da kommt die Idee, die ihn anspringt und nicht wieder loslässt, gerade recht. Aber: Wer Kontakt zu den Nachbarn sucht, könnte doch bei ihnen klingeln? Vollmann glaubt, dass die Angst vor Zurückweisung uns davon abhält. Diese Hürde will er digital aushebeln… weiterlesen in der turi2 edition Vernetzung.