Eine Frage, vier Antworten: Was kann Kino besser als Netflix?
25. Oktober 2023
Bildermenschen: Filme und Serien überall und zu jeder Zeit, fast schon herrscht Content-Inflation. Warum sollte man sich da noch die Mühe machen, ins Kino zu gehen? Auf diese Frage antworten in der turi2 edition #22 zwei Frauen und zwei Männer. Aus ganz unterschiedlichen Perspektiven: Vermarktung, Politik, Journalismus und Produktion. Vier Meinungen und Stefan Kuhlow, Angela Dorn, Sabine Horst und Fred Kogel.
“Kino ist Event. Auch Werbekunden wissen das”
Der Filmstar Jean-Paul Belmondo hat einmal gesagt: Fernsehen ist wie ein Van Gogh auf einer Briefmarke. Darin hat er viel über die Stärken von Kino verraten. Das gilt auch im Vergleich mit Netflix. Riesige Leinwand, dunkler Saal, dröhnender Surround-Sound, keinerlei Ablenkungen – Kino ist Event, bietet ein emotionales Erlebnis, bei dem Netflix nicht mithalten kann. Auch die Werbekunden wissen das. Nirgendwo sonst erreichen sie ihre Zielgruppen so unmittelbar wie über einen Spot auf der Leinwand.
Und doch ist es gut, dass es Streamingdienste gibt. Studien zeigen: Wer viel Netflix guckt, geht auch überdurchschnittlich oft ins Kino. Große Streamer wie Netflix oder Amazon Prime nutzen das Kino zunehmend, um ihre Angebote zu bewerben. Zwei weitere Beispiele: Audi fährt seit 2022 „Always on“ im Kino. Der Autobauer ist das ganze Jahr über mit wechselnden Motiven auf den Leinwänden in Premium- und Luxuskinos präsent. Lego hat 2022 seinen 90. Geburtstag gefeiert: Via App konnten Kinobesucher:innen mit ihrem Smartphone auf der Leinwand gemeinsam eine Geburtstagstorte aus Lego bauen. Branded Entertainment mit Spaßfaktor. Übrigens wissen auch die Produzenten in Hollywood, dass ihnen ohne das Kino ein wichtiger Baustein in der Verwertungskette fehlen würde. Auch für sie heißt es: Cinema first!
Stefan Kuhlow ist CEO des Kinowerbevermarkters Weischer Cinema.
„Kino ist ein Ort der Begegnung“
Klar, Streaming ist bequem, in Schlappen und Jogginghose daheim auf der Couch. Aber wenn wir uns aufraffen und ins Kino bewegen, erwartet uns vor der Leinwand ein Gemeinschaftserlebnis, mit dem kein noch so aufgemotzter Fernseher mithalten kann: Man erlebt zusammen die großen Gefühle, lacht miteinander, Tränen fließen, man hält den Atem an und, ja, ärgert sich auch mal über den käsigen Duft der Nachos vom Nachbarn. Kino ist mehr als Filmeschauen. Es ist ein Ort der Begegnung – mit Freund*innen, manchmal mit Filmemacher*innen und mit der eigenen Fantasie.
Oft macht sich das Publikum einfach selbst zum Teil eines Gesamtkunstwerks und geht etwa in pinken Klamotten in „Barbie“, um anschließend zu diskutieren, ob das nun feministisches Kino ist, ein Werbefilm für das Produkt eines Spielwarenkonzerns oder gar beides. Und auch jenseits der Multiplex-Kinos sorgen leise und schrille, schräge und berührende Filme für Gesprächsstoff: Kino bleibt im Kopf. Das unterstützen wir in Hessen – zum Beispiel mit Förderungen für künstlerischen Wagemut, junge Talente, Vielfalt, soziale und ökologische Nachhaltigkeit und transparente Strukturen. Wir sehen uns im vollen Kinosaal!
Angela Dorn ist grüne Ministerin für Kunst und Wissenschaft in Hessen.
„Es gibt eine Erotik des Close-ups“
Eine durchschnittliche Kinoleinwand misst sieben auf 15 Meter, das sind 105 Quadratmeter Fläche oder sieben Autostellplätze. Damit lässt sich was anfangen. Man kann darauf Dinosaurier projizieren, eine Raumschiffflotte auf dem Weg nach Alpha Centauri, eine Atomexplosion wie in „Oppenheimer“. Aber wenn ich so drüber nachdenke, sehe ich da oben, in Übergröße, am liebsten etwas scheinbar Einfaches: das menschliche Gesicht in Nahaufnahme. Ingrid Bergmans zarte Träne, als sie in „Casablanca“ begreift, dass sie sich von Humphrey Bogart trennen muss. Robert De Niro, wie er am Ende von „Once Upon a Time in America“ in ein opiumseliges Grinsen ausbricht. Tony Leungs sehnsuchtsvoller Blick auf Maggie Cheung in Wong Kar-Wais „In the Mood for Love“. Und es müssen gar keine Klassiker sein: Robert Downey Jr. als „Iron Man“ hat auch seine „Große-Augen-Momente“.
Ingmar Bergman hat das Close-up als Königsdisziplin der Filmkunst beschrieben – als geheimnisvolle, unerklärliche Verbindung zu einer anderen Seele, vermittelt durch den Blick eines Schauspielers. Etwas diesseitiger würde ich hinzufügen: Es gibt eine Erotik des Close-ups – schließlich erscheint uns der Mensch auf der Leinwand Wimper für Wimper und Pore für Pore so nah wie eine geliebte Person, in der Umarmung, im Bett. Mobile Screens verzwergen nicht nur die Schauspieler, sondern auch die Gefühle. Und per Beamer im Wohnzimmer … naja, die Wand könnte halt mal wieder gestrichen werden.
Sabine Horst ist Leitende Redakteurin von epd Film.
„Kino und Streaming ergänzen sich perfekt”
In unserer digitalisierten Welt haben Streamingdienste eine große Bedeutung. Dennoch bleibt das Kinoerlebnis einzigartig. Es gibt diesen besonderen Moment der Vorfreude, wenn die Beleuchtung im Saal erlischt und das Logo des Filmstudios auf der Leinwand erscheint. Die kolossale Sound- und Bild-Qualität schafft ein immersives Erlebnis, das „larger than life“ ist. Für die Dauer des Films tauchen wir in eine andere Welt ein, es gibt keine Ablenkung, keinen Second Screen, der Alltag ist weit weg.
Während Streaming Flexibilität bietet, bleibt das Kino ein Ort der Gemeinschaft, des Rituals und der Emotionen. Kino muss vom Filmangebot und von der Qualität des Umfelds her ein Erlebnis sein. Dann schließen Kino und Streaming einander nicht aus, sondern ergänzen sich perfekt darin, dem Publikum die Inhalte so anzubieten, wie es gerade am besten zur persönlichen Situation passt.
Fred Kogel ist CEO von Leonine Studios.
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