Ist Social Media Gift für die Psyche, Maren Urner?
21. Mai 2021
Die Dosis macht das Gift: “Schluss mit dem willenlosen Verhalten und dem Passivmodus”, fordert Maren Urner, Neurowissenschaftlerin und Medienpsychologin, in der turi2 edition #14. Sie vergleicht in ihrem Gastbeitrag exzessive Social-Media-Nutzung mit Fressattacken – und analysiert: In beiden Fällen regiert unser Steinzeithirn. Zum Glück haben wir inzwischen einen präfrontalen Kortex, der uns helfen kann, “abzuwägen, einzuordnen und bewusst(er) zu entscheiden”.
Soziale Medien machen uns abhängig, weil wir ständig Angst haben, etwas zu verpassen. Sie machen uns unglücklich und deprimiert, weil wir gephotoshopten Schönheitsidealen und gepimpten Timelines hinterhereifern. Sie machen uns dumm, weil sie uns Fake News als News unterjubeln und uns nur das präsentieren, was wir glauben wollen.
Soziale Medien haben einen schlechten Ruf, das “sozial” nimmt ihnen schon lange wohl niemand mehr so richtig ab. Sind wir also den Algorithmen der vermeintlich sozialen Medien hoffnungslos ausgeliefert und verkommen spätestens bei der Installation der nächsten Social App zu Junkies, die gar nicht mehr anders können, als endlos zu scrollen, zu swipen und zu sharen? Die Dystopie zu Ende gedacht, finden wir uns sabbernd, gaffend und immer auf der Suche nach dem nächsten digitalen Kick auf der Couch liegend wieder. Vor allem sind wir dabei eines: allein. Die Ironie könnte nicht größer sein. Die sozialen Medien hätten sich selbst ad absurdum geführt.
An dieser Stelle möchte ich laut rufen, vielleicht gar schreien: Stopp! Schluss mit dem Gemecker, Gestöhne und Gejammer. Ich will die Verlockungen und Gefahren der sozialen Medien keineswegs kleinreden. Schließlich kenne ich die teils alarmierenden Studienergebnisse zu den weitreichenden negativen Folgen von Instagram, Facebook und Co selbst sehr gut. Nicht nur, aber vor allem mit Blick auf die Gesundheit und das Weltbild der “jungen Leute” bestätigen die Daten häufig das eingangs gezeichnete Bild.
Und trotzdem – oder genau deswegen – rufe ich laut: Stopp! Schluss mit dem willenlosen Verhalten und dem Passivmodus. Schluss mit den faulen Ausreden. Ähnlich wie nach einer Fressattacke, während der wir wahllos Süßes und Fettiges in uns reingeschaufelt haben und vielleicht noch ein “Ich konnte nicht anders!” hinterherschieben. In beiden Fällen hat unser Steinzeithirn die Kontrolle übernommen. Es lässt uns nicht nur Kalorienhaltiges bevorzugen, um die nächste Hungersnot zu überstehen, sondern steckt auch hinter sämtlichen schädlichen Social-Media-Verhaltensweisen. So lässt sich Doomscrolling, das endlose Scrollen durch schlechte Nachrichten, mit der Vorliebe unseres Steinzeithirns für alles Negative erklären. In Zeiten von Säbelzahntiger und Mammut war eine verpasste negative Nachricht potenziell das Letzte, was unsere Vorfahren verpasst haben.
Die gute Nachricht lautet: Unser Gehirn hat auch einen präfrontalen Kortex. Diese Gehirnregion erlaubt es uns, abzuwägen, einzuordnen und bewusst(er) zu entscheiden. Was, wenn wir also wagen, die sozialen Medien verstärkt als solche zu nutzen? Als eine Chance der globalen Vernetzung, des Austauschs und gegenseitigen Verstehens. Als Chance, sich selbst mit Hilfe der Perspektiven anderer zu hinterfragen und so einen vorsichtigen Blick aus der eigenen Blase zu wagen. Als Chance, sozial zu sein.
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