turi2 edition #12, 50 Vorbilder: Constantin Birnstiel schreibt über Marie Curie.
27. Oktober 2020
Grenzenlose Neugier treibt Marie Curie dazu an, Großes zu vollbringen – und kostet sie schließlich das Leben. Ex-Merck-Sprecher Constantin Birnstiel schreibt in der turi2 edition #12 über eine Frau, deren selbstbestimmter Weg ihm noch mehr imponiert als ihre beiden Nobelpreise.
Fast immer ist Marie Curie die Beste und Erste, meist die Jüngste, oft die Erfolgreichste. Mit 15 Abitur als Klassenbeste in Polen, dann Studium der Physik und Mathematik in Paris. Mit 39 die erste Frau, die an der Sorbonne lehrt. Zwei Jahre später erste ordentliche Professorin für Physik, als Nachfolgerin ihres verstorbenen Mannes und kongenialen Wissenschaftspartners Pierre.
Nichts davon ist Anfang des 20. Jahrhunderts normal. Auch nicht, dass Marie mit Pierre einen gleichberechtigten Partner hat. Oder dass sie als Frau einfach weiterarbeitet, nachdem sie Mutter wird. Die Professur nimmt Curie nach dem Unfalltod von Pierre an, um Familie und Forschung abzusichern. Sie ist nicht nur eine geniale, sondern auch eine pragmatische Wissenschaftlerin. Sie treibt nie die (berechtigte) Anerkennung als solche an. Sondern ihre unerschöpfliche Neugier.
Diese Neugier bringt ihr 1903 den Nobelpreis für Physik und 1911 den Nobelpreis für Chemie. Nach ihr und ihrem Mann sind die Maßeinheit Curie zur Messung von Radium und das Element Curium benannt.
Dass die Sorbonne sich erst zwei Jahre nach Pierres Tod dazu durchringt, Marie Curie auf die verwaiste Professur zu berufen, gehört übrigens auch zur Geschichte. Ebenso, dass die französische Akademie der Wissenschaften sie als Frau nicht aufnimmt. Und das 1911, als sie bereits auf dem Weg zum zweiten Nobelpreis ist.
Heute, im Zuge der Boulevardisierung der Wissenschaft während der Corona-Krise, würde Marie Curie wahrscheinlich als „die schöne Radiologin“ ins Bild gesetzt – und auch ihr Liebesleben thematisiert. Kurz vor dem zweiten Nobelpreis hat sie eine Affäre mit einem jüngeren, verheirateten Kollegen. Auch das eine Facette ihres neugierigen und selbstbestimmten Lebenswegs.
Marie Curie ist keine radikale Frauenrechtlerin. Aber sie hat Frauen stets gefördert und weiß sich in der männlich dominierten Academia durchzusetzen. Am von ihr geleiteten Radium-Institut arbeiten um 1930 zwölf Forscherinnen und 25 Forscher – ein Verhältnis, das viele naturwissenschaftliche Institute heute nicht erreichen. Curie kooperiert mit Frauenbewegungen, wenn es ihrer Forschung dient.
Jenseits ihrer wissenschaftlichen Erfolge setzt sie sich auch für die Verantwortung der Wissenschaftler in der Gesellschaft ein, ist Mitglied der Internationalen Kommission für geistige Zusammenarbeit des Völkerbundes. Und damit Vorreiterin der Wissenschaftskommunikation, über deren Notwendigkeit heute viel diskutiert wird. Im Zweiten Weltkrieg zeigt sich auch ihre humanistische Haltung: Sie entwickelt einen mobilen Röntgenwagen. Um den persönlich an die Front zu fahren, macht sie 1916 den Führerschein.
Ihre Neugier bezahlt Marie Curie schließlich mit dem Leben. Sie stirbt im Juli 1934 an den Folgen der Strahlendosen, denen sie sich zeitlebens ausgesetzt und deren Risiken sie offenbar zu lange ausgeblendet hat – ihre wohl größte Schwäche. 1995 werden ihre sterblichen Überreste gemeinsam mit denen ihres Mannes ins Panthéon überführt, wo Frankreichs Helden ihre letzte Ruhestätte finden. Helden werden Menschen wie Marie Curie oft erst nach ihrem Tod.
Nur wenige Physik- oder Chemiestudentinnen und -studenten werden Nobelpreisträger. Muss ja auch nicht sein. Aber an Neugier, Fleiß, Fähigkeiten und Engagement Marie Curies kann man sich uneingeschränkt orientieren. Mir imponieren als Vorbilder ganz besonders Frauen, die trotz aller Widerstände in männerdominierten Bereichen ihren Weg machen, aufgrund von Willen, Leistung und Förderung. Und nicht, weil die XX-Chromosomen-Karte gezogen wird. Jetzt bekomme ich vermutlich einen Shitstorm aus gewissen Kreisen. Aber das halte ich aus.