turi2 edition #12, 50 Vorbilder: Léa Steinacker schreibt über Haben Girma.
12. Oktober 2020
Eine neue Perspektive: Die Bürgerrechtsanwältin Haben Girma ist blind, taub und ein echtes Kommunikationstalent. Behinderungen sieht sie als “kreative Herausforderung”. Journalistin Léa Steinacker schreibt in der turi2 edition #12, wie sie diese Haltung und Girmas grenzenlose Neugier auf Neues tief beeindrucken.
Das Auge isst mit. Täte es das nicht, wüssten wir alle besser, wann wir eigentlich satt sind. Haben Girma isst nicht viel, probiert aber alles. Ob im texanischen Café, beim Syrer oder in der Eisdiele: Die 32-Jährige wählt das Mandelcroissant, die Falafel-Platte, den Erdbeertraum. Kaum etwas, das sie sich entgehen lässt. Sie bereist die Welt mit ihrem Schäferhund Mylo, besucht China, Costa Rica und Mali. Liest viel, klettert und tanzt Salsa bis tief in die Nacht.
Dabei sieht sie weder das Fruchteis noch hört sie die Musik. Die amerikanische Bürgerrechtsanwältin mit eritreisch-äthiopischen Wurzeln ist taub und blind. Und setzt sich dafür ein, dass unwahrscheinliche Aufstiege wie ihrer auch für andere möglich werden: mit entsprechenden Gesetzen, technologischer Innovation und einer großen Prise Freigeist.
Als ich Haben Girma zum ersten Mal begegne, ist es 35 Grad heiß, brüllend laut und eng. Wir treffen uns in einem Bistro in Austin, Texas. Sie zückt zwei Bluetooth- Tastaturen, schiebt eine zu mir, die andere legt sie sich auf den Schoß. Nun lässt sie ihre Zeigefinger über die Braillezeile fahren. Was ihr Gegenüber tippt, wird auf ihr Display übertragen und in Blindenschrift übersetzt. “Wer Behinderungen nicht als Hindernis, sondern als kreative Herausforderung versteht, der hat am Ende die innovativere Lösung”, sagt sie mit klarer, hoher Stimme. Das Sprechen hat sie sich als Jugendliche beigebracht, auf besonders hoher Frequenz, weil ihr Gehör diese Tonlage teilweise wahrnimmt. Durch die Technologie des digitalen Braille-Transfers kann Haben Girma ihre diversen Kommunikationstalente verbinden – und damit Veränderungen anstoßen.
Ihre Mutter flüchtet 1983 aus dem eritreischen Unabhängigkeitskrieg und läuft zwei Wochen lang Richtung Sudan, bevor sie in die USA auswandern kann. Fünf Jahre später kommt Haben in Kalifornien auf die Welt. In den nächsten drei Dekaden ihres Lebens wird sie die erste taub-blinde Absolventin des renommiertesten Jura-Studiums der Welt, hält mit 26 eine Rede im Weißen Haus und veröffentlicht ihre Autobiografie.
An der Harvard Law School liest Haben die Vorlesungen auf ihrem Braille-Display mit. Sie bittet die Universität, ihr alle Texte digital bereitzustellen. Neuland für die traditionsreiche Jura-Fakultät. Aber die Uni zeigt sich lernfähig. Haben zeigt Ambition und Geduld.
Heute tauscht sie sich vor allem mit Technologie- Firmen aus, die die Infrastruktur der Zukunft bauen. Sie versteht sich als Verfechterin von Inklusion und Innovation in der Digitalbranche. Barrierefreiheit, sagt sie, soll keine Wohltätigkeit sein, sondern Anspruch bei jeder Entwicklung. Sie glaubt, dass gut durchdachte Innovationen jedes menschliche Leben bereichern.
Ihre Haltung und ihr Einsatz verkörpern meine Überzeugung, dass Fortschritt nur dann revolutionär ist, wenn er für alle fair und zugänglich gestaltet wird. Ich bewundere ihre Bereitschaft, unbequem zu werden und Dringlichkeit zu vermitteln. Dabei behält sie stets ihren schlagfertigen Humor.
Ihre Zukunftsvision empfinde ich als Erweiterung meiner Wahrnehmung. Von der Techbranche wünscht sie sich vor allem mehr Berührung. Denn ihr Bewusstsein für Haptik ist durch jahrelange Übung besonders ausgeprägt: “Die Haut ist unser größtes Organ,” sagt sie, “in unserem Tastsinn liegt so viel Potenzial.”
Als wir im Sommer auf ihren Vorschlag hin eine gemeinsame Tandem-Fahrt durch die Berliner Innenstadt und den Tiergarten erleben, nimmt Haben den Wechsel von Wald zu Wiese wahr, von Schotterweg zu Asphalt, riecht ohne Ankündigung den Rosengarten. Kurz nachdem wir vom Tandem abgestiegen sind, frage ich sie, beeindruckt von ihrem Mut, sich im Verkehr auf mich zu verlassen, wie oft sie Fahrrad fahre. “Heute”, sagt sie, “war das erste Mal.”