turi2 edition #12, 50 Vorbilder: Peter Turi schreibt über Kurt Tucholsky.
9. Oktober 2020
Tapfere Melancholie: Ein kleiner, dicker Berliner versucht, mit seiner Schreibmaschine die Katastrophe aufzuhalten. Er scheitert, aber mit Haltung. Nicht nur das imponiert dem Verleger Peter Turi an Kurt Tucholsky, schreibt er in der turi2 edition #12.
Warum Tucholsky? Warum hängt Kurt Tucholsky (1890-1935) gerahmt, mit Hut, gepunkteter Krawatte und Einstecktuch schräg gegenüber von meinem Schreibtisch? Worin ist er mir ein Vorbild? Na, wie er schreibt! Was er schreibt! Der Stil, die Haltung! Der Humor, die Konsequenz, die Produktivität, die Vielseitigkeit.
Als ich Tucholsky entdecke, in meinem Abi-Jahr 1980, ist er schon 45 Jahre tot. Auf einer Portugal-Radtour stibitze ich einer Freundin den schmalen rororo-Band “Panter, Tiger & Co”. Kurz danach erlebe ich meinen ersten Tucholsky-Rezitationsabend – und bin gefangen von der Sinnlichkeit seiner Sprache, vom Rhythmus der Reime, von der Tonalität seiner Texte.
Schnell wird Tucholsky für mich Vorbild, Ratgeber, Kompass, Geburtshelfer meiner Weltanschauung. Nie zuvor und nie danach ist mir ein Autor so nah, nie habe ich mir so intensiv gewünscht: So möchte ich schreiben können! Als Literaturkritiker ist Tucholsky kein Besserwisser, sondern ein Bessermacher, als politischer Schriftsteller so wahr, so klar, so furchtlos: “Soldaten sind Mörder!” Sein Kampf gegen die Feinde der Weimarer Republik von rechts ist hellsichtig und gerecht: wider den Militarismus, wider die blinde Klassenjustiz, wider das Bündnis von Reaktionären und Nazis. “Ein kleiner, dicker Berliner wollte mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten”, schreibt Erich Kästner über ihn. Tucholsky scheitert, aber mit Haltung.
Wenn ich Tucholsky heute noch mit Lust und Gewinn lese, dann weil ich neben dem politischen zunehmend den anderen, privaten Tucholsky entdecke. Den Philosophen, den Humoristen, den feinen Beobachter, den produktiven Melancholiker. Mein Lieblingssatz von Tucholsky war einmal: “Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.” Doch das war schon 1980 nicht mehr zutreffend. Zumindest nicht im westlichen Teil des geteilten Deutschlands, wo die freie Rede, Demokratie und Pluralismus herrschten. Und heute, da in Deutschland die Vernunft regiert, führt das zwanghafte Dagegensein eher zu Wutbürgertum und Verfolgungswahn.
Heute sind es mehr die leisen Töne, die mir Kurt Tucholsky nahebringen. Das weise Sich-Einlassen auf das Unvermeidliche. Haltung bewahren in einem Kampf, den man verlieren wird, die Dinge geschehen lassen. Unvollkommenes akzeptieren. “Das Leben ist ein Kreis, der niemals ganz aufgeht”, schreibt er. Und 1927 im Gedicht “Das Ideal”:
Etwas ist immer. Tröste dich.
Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat: das ist selten.
Aus all diesen Gründen hängt in meinem Arbeitszimmer Tucholsky. Und ein bisschen, ich gebe es zu, auch aus Eitelkeit. Denn wer sich ein Vorbild ins Haus holt, der will sich natürlich ein bisschen wärmen im Licht seiner Sonne.
Was bleibt von Tucholsky? Wie von uns allen: wenig. Jede neue Generation kommt, lebt ihr Leben, verfolgt ihre Agenda. Und sagt: Pustekuchen, was interessieren mich die, die alt sind oder längst tot, ich brauche kein Vorbild.
Für mich bleibt Tucholsky Vorbild. Vor allem seine spezielle, mit Resignation grundierte, tapfere Melancholie. Eingefangen hat Tucholsky sie in einem der letzten Sätze, die er aufschrieb, bevor er am 20. Dezember 1935 im schwedischen Hindås – zermürbt von schmerzhaften Gesichtsoperationen und der Einsamkeit des Exils – das Gift nahm, das er schon lange bei sich trug. “Wenn ich jetzt sterben müsste, würde ich sagen: Das war alles? Und: Ich habe es nicht so richtig verstanden. Und: Es war ein bisschen laut.”