turi2 edition #12, 50 Vorbilder: Tina Hassel schreibt über Margrethe Vestager.
15. Oktober 2020
Eine, die aneckt:Margrethe Vestager legt sich mit US-Tech-Giganten und China an, besetzt Zukunftsthemen und hat die Handlung einer Erfolgsserie inspiriert. Tina Hassel, Chefredakteurin des ARD-Hauptstadtstudios, schreibt in der turi2 edition #12, warum die EU-Kommissarin für Wettbewerb und Digitales der Gegenentwurf zu den grauen Technokrat*innen von Brüssel ist.
Wer die Serie “Borgen” über den Aufstieg einer Politikerin gesehen hat, weiß, welche Widerstände Margrethe Vestager bereits überwunden hat. Schließlich war die heutige EU-Kommissarin Inspiration für die Handlung. In ihrer Amtszeit als Innen- und Wirtschaftsministerin hat sie nicht nur eine umstrittene Sozialreform in Dänemark durchgesetzt, sondern auch die gesetzliche Frauenquote für Unternehmen. Manche würden Margrethe Vestager streitbar nennen. Andere schlicht willensstark.
Ich durfte sie persönlich treffen und habe selbst erlebt, wie hartnäckig sie sein kann – gerade wenn es darum geht, politische Ziele durchzusetzen. Vestager ist eine starke Frau mit klarem Kompass, die selbst härteste Auseinandersetzungen mit den US-amerikanischen Tech-Giganten Google, Facebook, Apple und Co nicht scheut, um für fairen Wettbewerb und mehr Transparenz zu sorgen. Trotz heftiger Widerstände hat die EU-Kommissarin in Brüssel Milliardenstrafen wegen Wettbewerbsverletzungen gegen Google verhängt und damit ein Stück Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Mittlerweile streitet sie auch mit China für die Durchsetzung der Handelsinteressen Europas. Zu diesem machtpolitischen Spannungsverhältnis sagte sie: “Wir haben sehr viel Wissen und Fähigkeiten in Europa. Wenn wir fair wirtschaften, wollen wir das auch außerhalb Europas sehen.” Klare Worte Richtung China, die man sonst auf EU-Ebene leider nicht häufig hört. Das gilt übrigens ebenso für die Themen Menschenrechte und Meinungsfreiheit. Auch in Sachen Gleichberechtigung hat Margrethe Vestager schon heute viel bewegt. Dass die neue EU-Kommission nahezu paritätisch besetzt ist, ist nicht zuletzt auch ihrem Einfluss zu verdanken.
Außerhalb der politischen Weltbühne ist Vestager ein echter Familienmensch und Mutter von drei Kindern. Das eint uns. Ich kann nachvollziehen, wenn sie sagt, ihre Familie helfe ihr, “runterzukommen”, Dinge zu relativieren. Zu ihrer Rolle als berufstätiges “Multitasking- Talent”: “Ich führe wirklich ein völlig normales Leben. Ich gehe einkaufen, setze mich aufs Fahrrad und habe die gleichen Probleme mit meinen Kindern wie alle anderen auch.” Das klingt geerdet. Und sie hat Humor: Eine Tischplastik in Form eines Stinkefingers, den ihr dänische Gewerkschafter aus Protest überreicht haben, steht seitdem plakativ auf ihrem Schreibtisch.
Die einen bewundern sie, andere fürchten sie – das zeigt: Die EU-Kommissarin hat Gewicht. Und sie ist leidenschaftliche Europäerin. „Europas Stunde schlägt gerade jetzt”, sagte sie in der Corona-Krise.” Die EU kann nicht nur eine Union bei Sonnenschein sein und ein gemeinsamer Marktplatz nur dann, wenn es gut läuft. Wir müssen auch füreinander da sein, wenn es einigen von uns richtig schlecht geht.” Diese Haltung teile ich voll und ganz. Kurz: Vestager ist eine unkonventionelle Frau, die für ein modernes und selbstbewusstes Europa wirbt. Das imponiert mir – wohlwissend, dass für mich als Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios kritische Distanz zu aktiven Politikerinnen und Politikern geboten ist.
Margrethe Vestager gilt als eine der einflussreichsten Digitalpolitikerinnen Europas. Sie hat damit ein Zukunftsthema besetzt, das in Deutschland leider politisch noch weitgehend verschlafen wird. Deshalb überrascht es nicht, dass sie im Mai 2019 auf dem Cover des “Forbes Magazine” zur mächtigsten Frau Europas gekürt wurde. Der mediale Ritterschlag! Zugleich ist Vestager der Gegenentwurf zum politischen Macho oder den grauen, wenig charismatischen Technokraten in Brüssel. Souverän, leidenschaftlich, angstfrei: Durch ihren Stil bricht sie mit überkommenen Frauenklischees. Die Spitznamen der EU-Politikerin lauten übrigens: die “Drachentöterin” oder “Miss Cool”. Nicht schlecht, oder? Aber sicher nicht der einzige Grund, warum Margrethe Vestager als Vorbild für Frauen in der Politik taugt.