turi2 edition #12: Otto-CEO Alexander Birken über Amazon und seinen Glauben.
16. Oktober 2020
Birken unter Eichen:Alexander Birken, CEO der Otto Group, steht zwischen bemalten Bäumen in der Firmenzentrale im Hamburger Stadtteil Bramfeld. Wegen Corona ist die Begegnungszone mit Eichenwald im Sommer 2020 gesperrt. Die Otto Group ist der einzige Dinosaurier, der die Disruption vom Versandhändler ins Internet geschafft hat. Im Interview mit Peter Turi spricht Birken über unternehmerische Werte und warum Amazon für die Zukunft kein Vorbild ist.
Brauchen Menschen, brauchen Firmen Vorbilder?
Ja, Vorbilder sind absolut notwendig. Jeder Mensch hat Vorbilder, orientiert sich an positiven oder negativen Beispielen. Das passiert bewusst oder unbewusst – auch und gerade in Firmen. Ein familiengeprägtes Unternehmen wie die Otto Group hat da natürlich einen Vorteil: Alle schauen auf die Gründerfamilie. Michael Otto prägt die Group und ihre Haltung seit Jahrzehnten. Er und in jüngster Zeit auch Benjamin Otto leben Werte vor wie Unternehmertum, das Schaffen von Freiräumen, aber auch menschliche Facetten wie Bescheidenheit und Zugewandtheit.
Festgeschriebene Regeln sind unnötig?
Nicht ganz. Wir haben in der Otto Group gerade erlebt, dass es gut ist, Werte zu verschriftlichen. Gesellschafter und Vorstand haben das gesamte Thema Werte, Haltung, Purpose Ende 2019 in einen Satz gegossen: „Responsible Commerce that inspires.“
Puh, das klingt jetzt aber, als hätte eine Agentur viel Geld für einen banalen, englischen Satz bekommen.
Eben nicht! Das hat keine Unternehmensberatung erarbeitet, diese Vision für die Otto Group kommt komplett von uns. Sie ergänzt unser Leitbild. Drei oder vier Mitarbeiter sind seinerzeit durch die Welt gereist und haben von über 3.000 unserer 50.000 Kolleginnen und Kollegen Antworten auf entscheidende Fragen bekommen: Wofür steht eigentlich die Otto Group? Was macht uns letztlich aus?
Und jetzt wissen es alle?
Jetzt wissen alle: Wir sind ein in sehr verschiedenen Dimensionen verantwortlich handelndes Unternehmen. Das Spannende ist, dass immer mehr Menschen sagen: Wir möchten bei euch arbeiten, weil wir euch abnehmen, dass ihr wertegetrieben seid. Entscheidend ist, dass wir den Unternehmenszweck wirklich leben und uns fragen: Was bedeutet das konkret für die Otto Group? Woran machen wir diesen „Code of Ethics“ fest? Wir diskutieren das gerade sehr offen und sprechen auch darüber, wo wir Schwierigkeiten haben, diese Werte zu leben.
Wo denn?
Immer da, wo das hehre Ideal auf die Unvollkommenheit der Realität trifft – und das meint nicht nur wirtschaftliche Herausforderungen. Transformationswillen trifft auf das Unvermögen der Menschen, sich ebenso schnell verändern zu können: Sozialstandards auf Korruption in Entwicklungsländern oder maximale Datentransparenz auf das schutzwürdige Interesse von Geschäftsmodellen. Die Welt besteht eben nicht nur aus Gut und Böse.
Was war Ihr Vorbild als Kind?
Lange war Old Shatterhand mein großer Held. Auch Neil Armstrong war ein Vorbild für mich. Ich war fünf, als er 1969 als erster Mensch den Mond betrat. Ich hatte eine große Tapete mit Raketen, Mond und Planeten – das prägt.
Und später?
Wurde Dietrich Bonhoeffer ein Vorbild – und ist es bis heute geblieben. Weil er extrem glaubhaft, wahrhaftig und konsequent in seinem Handeln war. Heute kann ich auch Helmut Schmidt als Vorbild nennen. Obwohl ich in meiner Jugend gegen den Nato-Doppelbeschluss auf die Straße gegangen bin.
Worin wollen Sie Vorbild sein?
Ich möchte wahrhaftig sein. Das bedeutet: Findet sich das, was ich glaube und sage, auch in meinem Handeln wieder? Da muss man selbst in den Schmerz gehen. Ich habe es mir viele Jahre zur Übung gemacht, mich morgens beim Rasieren vor dem Spiegel zu fragen: Wirst du die schwierige Entscheidung, die du heute zu treffen hast, am Abend vernünftig deinen Kindern erklären können? Das war immer ein guter Gradmesser für mich. Ich habe mich gefreut, als eines meiner vier heute erwachsenen Kinder mal gesagt hat: Papa, du bist im Büro nicht anders als zu Hause.
Abstand halten und Mund-Nase-Schutz: Otto-Chef Alexander Birken im Interview mit Peter Turi im Corona-Sommer 2020
Sie waren früher aktiv in der evangelischen Jugendarbeit.
Ich bin sehr stark christlich geprägt, das ist mir ein wichtiger Wertekompass. Grundlage meines Wertegerüstes ist die protestantische Ethik, der innere Auftrag, das Beste aus mir herauszuholen in meiner Verantwortung vor Gott und den Mitmenschen. Menschen zu fördern, ist mir wichtig. Wenn jemand Führungskraft werden will, frage ich ihn: Bist du wirklich an Menschen interessiert? Liebst du Menschen? Falls nein: Werde bitte keine Führungskraft – du machst dich und deine Mitarbeiter unglücklich. Das ist eine ganz simple Erkenntnis aus 15 Jahren Jugendarbeit.
Und den jungen Talenten ohne große Menschenliebe raten Sie dann, Programmierer zu werden?
Fachkarrieren sind wertvoll! Wir sind tatsächlich dabei, in der Otto Group alternative Wege für Karrieren zu entwickeln. Wir brauchen mehr Anerkennung, Geld und Prestige für Menschen, die als Fachleute voranschreiten und nicht in der Hierarchie. Ein Data Scientist im stillen Kämmerlein kann Großartiges leisten und bestens verdienen.
Sollten Sie sich nicht Jeff Bezos zum Vorbild nehmen?
Damit hätte ich wirklich Probleme. Seine unternehmerische Leistung ist unbestritten, aber seine Werte als Unternehmer entsprechen nicht unseren. Wenn Sie mich fragen: Was kann man von Jeff Bezos lernen? Dann muss ich sagen: die absolut radikale Kundenorientierung.
Aber Bezos geht über Leichen.
Bei aller, sicherlich auch oft berechtigten Kritik: Diese Formulierung halte ich nun doch für unpassend. Aber ja, für uns spielen die Menschen in unserer Organisation eine außerordentlich wichtige Rolle. Wenn wir vormals traditionelle Unternehmen transformieren, versuchen wir, die Menschen mitzunehmen. Werner Otto hat vor Jahrzehnten schon formuliert: Nicht die Menschen sind für die Wirtschaft da, sondern die Wirtschaft für die Menschen.
Wie unterscheidet sich die Otto Group von Amazon?
Ich kann wieder nur über uns sprechen: Wir sind eine Unternehmensgruppe mit rund 30 großen Unternehmen, in denen es darum geht, inspirierende Angebote zu machen, persönliche Services zu bieten, nachhaltige Produkte zu liefern, sozial saubere und umweltfreundliche Lieferketten zu haben. Und last not least gilt auch: Egal wo auf der Welt wir tätig sind – wir zahlen unsere Steuern.
Welche Rolle können traditionelle Werte noch spielen, wenn in der Wirtschaft alles auf einen beinharten Plattform-Kapitalismus, ein digitales Monopoly zuläuft?
Das ist eine spannende Frage. Nehmen wir ein Wort wie Vertrauen: Als Corona uns alle ins Home- Office gezwungen hat, hat es bei uns reibungslos funktioniert, weil wir Vertrauen schenken konnten. Das Bild einer Führungskraft, die kontrollieren muss, ob die Mitarbeiter auch wirklich fleißig arbeiten, ist überwunden. Wir sehen: Das alte Wort Vertrauen hat eine neue Bedeutung und Wirksamkeit in digitalen Zeiten. Genau darum geht es: Wir glauben an den Wert traditioneller Werte, aber wir müssen sie neu interpretieren. Und: Wir sollten auf keinen Fall unsere Werte an der Garderobe der Digitalisierung abgeben.
Trotz all Ihrer Bemühungen wächst Amazon deutlich schneller als Sie. Können Sie auch als Nummer 2 überleben? Oder gilt am Ende dann doch: The winner takes it all?
Wir wachsen schön und kräftig und sind damit sehr zufrieden. Ich glaube nicht, dass es im Handel jemals eine Monopolsituation geben wird. Vor vielen Jahren haben Experten geglaubt, dass Walmart in den USA ein Monopol erreichen würde und alle anderen Einzelhändler verdrängt. Es ist bekanntlich nicht so gekommen. Ich glaube, es wird auch künftig viel Platz neben Amazon sein. Das sehen wir ja auch bei unserer jungen Modetochter About You. Als wir gestartet sind, haben Kritiker gesagt, neben Zalando sei kein Platz. Und trotzdem ist About You eine unglaubliche Erfolgsstory.
Ihr Plan, Otto.de zur Plattform für Händler aller Art zu machen, hat durch die Pandemie vermutlich Rückenwind bekommen, oder?
Nicht erst Corona hat gezeigt, dass rein stationäre Einzelhändler es künftig außerordentlich schwer haben werden. Sie müssen Wege finden, um am Online-Geschäft zu partizipieren – mit verknüpften Services, eigenen Webshops oder über Plattformen. Bei den Plattformen kann jeder sich überlegen, ob er mit Otto.de kooperiert oder mit anderen, die aus den USA oder Asien kommen.
Will Otto also das nachhaltigere, fairere Amazon sein?
Nachhaltigkeit und Fairness spielen für uns seit Jahrzehnten eine prägende Rolle. Das wird auch wahrgenommen – von Konsumenten ebenso wie von Geschäftspartnern. Fair und nachhaltig zu sein, reicht aber nicht aus: Ich muss den besten Service bieten, den man sich auf dem Markt vorstellen kann. Nur weil wir den bieten, sind wir zum Beispiel bei Haushaltsgeräten oder bei Möbeln absoluter Marktführer im Online-Sektor. Die Formel lautet: Service, Inspiration und Fairness.
Wo eigentlich wuseliges Leben herrscht, haben Fotograf Johannes Arlt und Otto-Chef Alexander Birken Ende Juli 2020 reichlich Platz fürs Fotografieren. Inzwischen arbeiten wieder mehr Menschen in der Zentrale – doch das Home-Office als Alternative bleibt.
Wie hat Corona Ihre eigene Arbeit verändert?
Die ersten sechs Corona-Wochen waren eine irrsinnig intensive, arbeitsreiche Zeit, in der ich wortwörtlich sieben Tage die Woche zwölf Stunden am Tag gearbeitet habe. Ich saß mit dem Laptop am Küchentisch in einem sehr kleinen Apartment, weil wir gerade zu dem Zeitpunkt unser Haus kernsaniert haben. Das war im wahrsten Sinn des Wortes schmerzhaft – bis hin zu wirklich intensiven Rückenschmerzen. Trotzdem gab es eine hohe innere Zufriedenheit, nicht nur bei mir, sondern auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen. Es war das gemeinsame Gefühl: Wir kriegen das gemeistert.
Und jetzt?
Sind wir gefühlt in einer Zwischenzeit: Alle reden über das „new normal“, aber keiner weiß, wie es konkret aussieht. Wir suchen die richtige Mischung aus Präsenz- und Remote-Arbeit. Dazu die wichtige Frage: Wie viele Reisen wollen wir in Zukunft überhaupt machen, was können wir besser in Videokonferenzen besprechen? Einerseits tut es mir gut, nicht mehr so viel Zeit auf Flughäfen und Bahnhöfen zu verbringen, andererseits vermisse ich den persönlichen Kontakt. Und ich möchte den einen oder anderen Kollegen auch mal wieder in den Arm nehmen können.
Was hat die Pandemie mit der Otto Group gemacht?
Wir sind wesentlich fokussierter und schneller geworden. Und zwar nicht nur beim Entscheiden, sondern auch im Umsetzen. Einfach, weil wir fokussiert Probleme definiert, sich alle relevanten Kolleginnen und Kollegen eingebracht und sich bei der Umsetzung remote alle gegenseitig unterstützt haben. Die Sabbelkosten waren weg.
Was bitte sind „Sabbelkosten“?
Die entstehen überall dort, wo Menschen sich in eine Diskussion einbringen, damit sie vermeintlich auch einen Beitrag geleistet haben – selbst dann, wenn der Beitrag das Thema nicht wirklich weiterbringt. Wir üben ja seit 2016 in der Otto Group einen umfassenden Kulturwandel: Vertrauen schenken, Transparenz erhöhen, Kollaboration vorantreiben. Wir haben quasi über vier Jahre für die Corona- Situation trainiert – deshalb hat es sofort funktioniert. Die spannende Frage ist jetzt: Wie schaffen wir es, künftig ebenso schnell und entscheidungsfreudig zu bleiben, wie wir es aktuell sind?
Was ist die Antwort?
Die werden wir gemeinsam finden müssen.
Was ist die größte Herausforderung von allen?
Die größte Herausforderung ist, dass wir in der Tiefe der Organisation lieben lernen, dass Veränderung etwas Gutes ist. Die Freude an Veränderungen ist den Menschen nicht in die Wiege gelegt – und schon gar nicht uns Deutschen. Aber die Veränderung in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und in unser aller Leben wird exponentiell weitergehen. Umso wichtiger ist, dass wir Freude an dem Gedanken bekommen: Wir sind nicht Opfer von Veränderung und schon gar nicht von irgendwelchen Wettbewerbern, sondern wir sind auf gutem Weg, Veränderungen mitzugestalten und etwas richtig Gutes daraus zu machen.