turi2 edition #13: Christian Maertin über Kommunikation ohne Framing.
9. Januar 2021
Postfaktische Bedrohung:Christian Maertin, Leiter Unternehmenskommunikation bei Bayer, blickt mit großer Sorge darauf, wie sich immer mehr Menschen der Realität verschließen und Verschwörungs-Ideologien anhängen. Auf Wunsch von Verleger Peter Turi hat Maertin seinen Gastbeitrag aus der turi2 edition #13 nochmal erweitert. Maertin beschreibt im folgenden unter anderem, wie Medien und PR-Stellen auf die immer polarisierenderen Debatten reagieren sollten: mit längeren Gesprächsformaten und dem konsequenten Verzicht auf Framing. Sie können das Buch hier als kostenloses E-Paper lesen oder gedruckt bestellen.
Es war einer dieser Momente, die sich ins Gehirn einbrennen und sich dort für Monate festsetzen: Oktober 2020. Beim Friseur. Seit Jahren lasse ich mir von Maria die Haare schneiden. Maria beherrscht ihr Handwerk. Sie steht mit beiden Beinen im Leben, hat Höhen und Tiefen erlebt, hat zwei Kinder und einen Mann erzogen. Sie ist politisch weder besonders links noch besonders rechts. An diesem Samstag geht es – wie könnte es anders sein – um Corona. Die Medien berichten, dass bald der erste Impfstoff zugelassen werden könnte. Maria fragt: „Wirst Du Dich impfen lassen?“ Ich antworte, leicht irritiert: „Ja, natürlich“.
Sie entgegnet: „Ich wahrscheinlich nicht. Es weiß ja niemand genau, ob diese Sachen wirklich ausreichend getestet sind. Ich weiß sowieso nicht mehr, welchen Medien und Geschichten ich noch glauben soll.“ Sie erzählt, wie viele YouTube-Videos ihr Freunde und Bekannte schicken und was „erfahrene Wissenschaftler“ wie Wolfgang Wodarg, Sucharit Bhakdi oder Karina Reiss ihr darin raten.
Diese 30 Minuten beim Friseur passen leider ins Gesamtbild: 70 Millionen Amerikaner glauben, die Wahl zum Präsidenten sei gefälscht. Nur etwas mehr als die Hälfte der Deutschen will sich gegen Corona impfen lassen, obwohl genau das der schnellste Weg aus dieser furchtbaren Pandemie ist. Oder aus meinem beruflichen Umfeld: Mehr als drei Viertel der Deutschen sprechen sich für ein Verbot von chemischen Pflanzenschutzmitteln aus – und ignorieren damit komplett, dass ohne diese Produkte bis zu 40 Prozent der weltweiten Ernten durch Krankheiten und Schädlinge vernichtet würden.
Was treibt Menschen dazu, absurden Theorien zu folgen, für die es keinerlei glaubhafte Belege gibt? Was verleitet sie, Forderungen zu erheben, die bar jeglicher Vernunft sind und katastrophale Folgen hätten? Antworten auf diese Fragen sind zweifellos komplex.
Ein zentraler Punkt kommt bei der Suche nach Erklärungen aus meiner Sicht aber bislang deutlich kurz: Den Menschen geht es nicht wirklich gut. Psychisch meine ich, nicht physisch oder gar finanziell. Als Gesellschaft müssen wir uns eingestehen: 70 Jahre Frieden, Wirtschaftswachstum und technologischer Fortschritt haben uns zu wohlhabenderen, aber nicht unbedingt zu glücklicheren Menschen gemacht. Da mögen wir uns in Umfragen noch so zufrieden mit unserem Leben zeigen, wer genauer hinschaut, sieht ein anderes Bild: Zwischen 1997 und 2019 hat sich die Zahl der Berufsunfähigkeitstage wegen psychischer Erkrankungen verdreifacht.
Im Edelman Trust Barometer 2020 haben 73 Prozent der Befragten Angst davor, ihren Job zu verlieren. Sechs von zehn Deutschen glauben, „das System versagt“ und 55 Prozent sagen, der Kapitalismus in seiner heutigen Form würde „mehr schaden als nutzen“. Jeder Zweite fühlt sich mit der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts überfordert.
Ein solches Ausmaß an Verunsicherung ist doch kein Wunder, bei den Ereignissen im Jahr 2020, sagen Sie? Doch. Die Umfrage fand im Herbst 2019 statt.
Wer eine Erklärung dafür sucht, warum tausende von Menschen seit Monaten auf die Straße gehen und als angebliche „Querdenker“ absurde Verschwörungstheorien verbreiten, sollte sich daher nicht nur auf das Jahr 2020 konzentrieren, sondern auch einen Blick werfen auf die seelische Gesundheit der Gesellschaft. Wer sich fragt, warum so viele Menschen Populisten auf den Leim gehen und sich nach einfachen Antworten auf gesellschaftlich wichtige Fragen sehnen, sollte sich anschauen, wie sehr die Komplexität und Schnelligkeit der Welt zunehmend droht, uns alle zu überfordern. Nie zuvor wurde dies so deutlich wie im Corona-Jahr 2020.
Begriffe wie „Information Overload“ oder „Always-On-Mentalität“ mögen vielen von uns ein Begriff sein, den wenigsten ist jedoch bewusst, wie groß die Herausforderung wirklich ist. Allein in den wenigen Jahren zwischen 2007 und 2017 hat die Weltbevölkerung so viele Daten generiert, wie in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor. Prognosen gehen davon aus, dass das Volumen in den kommenden Jahren um etwa 60 Prozent steigen wird – pro Jahr. 2020 luden Social Media Nutzer 147.000 Fotos bei Facebook hoch, teilten 347.000 Instagram-Posts und verschickten 42 Millionen What’s App-Nachrichten – pro Minute. Die Deutschen verbringen heute zehn Mal so viel Zeit im Internet wie im Jahr 2000. Jeden Tag konsumieren wir Informationen, die umgerechnet dem Volumen von fast 200 Tageszeitungen entsprechen.
In einer immer schnelleren Welt, die uns ständig vor neue persönliche und berufliche Herausforderungen stellt, versuchen Millionen von Menschen dem täglichen Informationstsunami zu entkommen, indem sie auf komplexe Fragen nach einfachen Antworten suchen. Digitale Medien wie YouTube, Instagram oder TikTok sind wie geschaffen für diese Zeit. Einerseits treiben sie mit ihren Milliarden von Nutzern den Information Overflow selbst massiv an. Andererseits bedienen sie mit ihren kurzen Infoschnipseln perfekt die Folgen – nämlich eine kontinuierlich zurückgehende Aufmerksamkeitsspanne.
Die Netflix-Dokumentation „Das Dilemma mit den sozialen Medien“ zeigt in beeindruckender Form, welch negative Auswirkungen die digitalen Plattformen auf den gesellschaftlichen Diskurs haben. „Provokation und Empörung werden gleich dreifach belohnt. Erstens von Menschen, die sich freuen, wenn mal jemand den Mund aufmacht und klare Kante zeigt. Zweitens reagieren Menschen, die anders denken und sich provoziert fühlen. Und drittens geben die technischen Algorithmen genau dieser provozierenden Art der Diskussion die meiste Reichweite“, schreibt Kommunikationsberater Timo Lommatzsch im aktuellen „PR-Report“.
Das oberste Ziel von Journalisten genauso wie von PR-Profis ist es, sich Gehör zu verschaffen. Jede Form der Kommunikation, egal ob redaktioneller Beitrag oder Pressemitteilung, ist nur dann gut, wenn sie bei der Zielgruppe auf Resonanz stößt. Die Explosion der Informationen, zwingt uns alle jedoch in einen nie dagewesenen Wettbewerb um das kleine bisschen Aufmerksamkeit unserer Stakeholder. Selbstredend stellen wir alle uns auf dieses Konsumverhalten ein. Die Folge ist, dass Journalismus wie PR immer lauter werden – lauter im Sinne von spektakulärer, kürzer, undifferenzierter, polarisierender. So verpacken wir selbst die Komplexität der Welt auf gefährliche Weise in kleine, leicht konsumierbare Häppchen.
Aber funktioniert das dauerhaft? Sollten wir uns nicht bemühen, diesem Trend entgegenzuwirken und zu verhindern, dass gesellschaftlicher Diskurs noch weiter in Oberflächlichkeit, Polemik und Gereiztheit abgleitet?
In der Kommunikation von Bayer haben wir vor drei Jahren den Claim „Dialog statt Deckung“ eingeführt. Dahinter steckt die Überzeugung, dass miteinander reden grundsätzlich besser ist, als übereinander zu reden. Dass es in der PR nicht nur darauf ankommt, für die eigene Perspektive zu kämpfen, sondern auch, zu einem gesamtgesellschaftlichen Konsens beizutragen. Diesen Ansatz verfolgen wir konsequent – auch mit Kritikern, im persönlichen Austausch, auf Podiumsdiskussionen, in Linked-in-Live-Talks oder im digitalen Community Management. Einzige Bedingung: Auch die andere Seite muss ein aufrichtiges Interesse an einem konstruktiven Austausch haben.
Dabei müssen wir Emotionen wagen! Viele Menschen sind mit nüchternen Fakten nicht (mehr) zu erreichen. Wer den Anspruch hat, sie dort abzuholen, wo sie stehen, muss es schaffen, kommunikativ häufiger den Bauch und weniger den Kopf zu treffen. Grundvoraussetzung dafür ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Kommunikations- und Marketingabteilung.
Komplexe Themen lassen sich schwer in 30 Zeilen oder in 2:30 Minuten diskutieren. Deshalb suchen wir gezielt Formate, die den Raum bieten für einen wirklich differenzierten Austausch. Längere Interviews, Streitgespräche, Radiomagazine oder Podcasts.
Was die Rolle der Medien angeht, steht es mir als Vertreter der PR nicht zu, kluge Ratschläge zu erteilen. Sehr vielsagend fand ich allerdings, wie Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der „Zeit“, im turi2-Podcast Ende Dezember den erneuten Auflagenrekord seines Blattes erklärte. Neben vielen anderen Punkten nannte er: „Auf Argumente fokussieren, nicht auf Haltung“ und „unterschiedliche Perspektiven abbilden“. Hilfreich finde ich auch den obersten Vorsatz für 2021, den Michael Bröcker, Chefredakteur bei Gabor Steingart und The Pioneer, twitterte: „Den Gedanken zulassen, dass der andere Recht haben könnte.“
Als Gesellschaft werden wir dem ständig steigenden Daten- und Informationsvolumen wohl nur begegnen können, wenn wir uns davor schützen – durch konsequente Fokussierung auf das wirklich Wesentliche und möglichst viele digitale Auszeiten. Im Englischen gibt es bereits ein Modewort dafür: Digital Detox. Klar ist aber auch: Mit Blick auf die häufig polemischen und populistischen Debatten auf den digitalen Plattformen haben wir als Medien- und Kommunikationsprofis eine Vorbildfunktion. Wer, wenn nicht wir, weiß, wie man einen Ton richtig setzt?
Ertragen wir es also mal wieder, dass eine andere Meinung nichts per se Schlechtes ist. Kommentieren wir die Tweets Andersdenkender nicht polemisch, sondern sachlich (oder vielleicht mal gar nicht). Diskutieren wir nicht empört und ad hominem, sondern differenziert und faktenbasiert.
Mein Appell an alle Medienmacher und Medienmacherinnen: Verzichten Sie auf Framing! Begriffe wie Staatsfunk, Gute-Kita-Gesetz, Ackergift oder Genmanipulation, mögen in Politik und PR erlaubt sein, haben in den Medien aber nichts zu suchen.
Wenn wir uns doch alle ständig daran stören, wie emotional und gereizt der gesellschaftliche Diskurs geworden ist, dann würde ich mir wünschen, dass wir uns in diesem Jahr mal an der eigenen Nase fassen. Halten wir es mit Mahatma Ghandi, der einmal sagte: „Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt.“