turi2 edition #20: Düzen Tekkal über Kraft und Krisen.
12. Februar 2023
Störsenderin: Nein-Sagen steckt Düzen Tekkal im Blut. Als Menschenrechtsaktivistin will sie so unbequem wie möglich sein. “Nichts ist so toxisch wie die Komfortzone. Ich verlasse meine jeden Tag”, sagt sie im großen Interview in der turi2 edition #20. Dass sie dabei auch Schwäche zeigen darf, musste sie erst lernen.
Düzen, wir haben es jetzt 13 Uhr. In wie vielen Ländern warst du gedanklich heute schon?
Ich war im Irak, im Iran, in Afghanistan und in der Türkei, weil ich mich über Erdogans geplante Luftangriffe auf kurdische Stellungen geärgert habe. Und ich war gedanklich in der Schweiz, bei der Iran-Sondersitzung des UN-Menschenrechtsrats in Genf.
Wenn du dich jetzt in ein Land beamen könntest, welches wäre das?
Ich bin hier gerade genau richtig, um die Aufmerksamkeit unserer politischen Entscheidungsträger und die der Gesellschaft darauf zu lenken, welche Menschenrechtsverletzungen in Ländern wie Afghanistan oder dem Iran gerade passieren. Es ist ja nicht zuletzt Aktivismus in Ländern wie Deutschland zu verdanken, dass der Fokus auf diesen Themen liegt – dass die UN zu einer historisch einzigartigen Sondersitzung zusammenkommt; oder dass unsere Organisation Háwar Help kürzlich gemeinsam mit anderen Aktivistinnen beim Bundeskanzler eingeladen war.
Was bewegt so ein Treffen mit Olaf Scholz? Ist es mehr als eine Geste?
Es ist auf jeden Fall mehr als eine Geste. Das Kanzleramt zeigt damit, dass es die Hilferufe aus dem Iran ernst nimmt. Wir waren so laut, dass man irgendwann nicht mehr an uns vorbeikam. Es wäre Symbolpolitik, wenn wir diese Legitimation nicht nutzen würden – aber das tun wir. Durch solche Treffen werden wir auch ernster genommen. Am Anfang der Protestwelle im Iran hieß es ja teilweise noch, wir würden die Sache größer reden, als sie ist.
Wie schaffst du es, gedanklich so viele Baustellen gleichzeitig zu beackern?
Großfamilie! Meine Eltern kamen in den 70ern als kurdisch-jesidische Einwanderer aus der Südosttürkei nach Deutschland, ich habe zehn Geschwister. Bei uns war immer Chaos, und das haben wir gar nicht mal als negativ empfunden. Ich habe nicht den Anspruch, dass alles geordnet sein muss.
Du bist eine der bekanntesten deutschen Aktivistinnen, die aus dem Iran berichtet. Hast du dir diese Rolle bewusst ausgesucht?
Ich bin vor allem Aktivistin für Menschenrechte – und das ist ein universalistischer Anspruch. In dem Moment, wo Frauen entmenschlicht und entrechtet werden, gehe ich rein und mische mich ein. Das wäre auch bei chinesischen oder türkischen oder arabischen Frauen der Fall. Es wäre traurig, wenn die Menschen vor Ort mit dem, was ihnen widerfährt, allein gelassen und wir als Gesellschaft sagen würden: Das geht mich nichts an.
Hast du Verständnis für Menschen, die nach Krisen wie Corona, Ukraine und Inflation keine Kraft mehr haben, sich gedanklich auch noch um den Iran zu kümmern?
Absolut. Alles andere wäre extrem anmaßend. Jeder Mensch hat per Gesetz das Recht darauf, unpolitisch zu sein. Aber das ist ein Wahnsinnsprivileg. Und große Teile der Menschheit haben dieses Privileg nicht. Ich als Kurdin, als Jesidin, als Frau hatte nie den Luxus, unpolitisch zu sein. Und ich bin überzeugt davon, dass es uns Menschen glücklicher macht, wenn wir uns für etwas einsetzen, das über unser eigenes Leben, über Ego und Konsum hinausgeht. Nichts ist so toxisch wie die Komfortzone. Ich verlasse meine jeden Tag.
Was hat dich politisiert?
Schon als ich klein war, hat mein Vater Medien darüber aufgeklärt, wer die Jesiden sind, wo wir herkommen und warum wir verfolgt werden. In unserem Haus in Hannover sind Kamerateams ein- und ausgegangen, als ich gerade mal drei oder vier Jahre alt war. Ich kann mich an Pressekonferenzen und Demonstrationen erinnern, die er mitorganisiert hat. Er hat dafür gesorgt, dass in Hannover ein Friedhof für Jesiden errichtet wird. Und es haben ständig Menschen an unserer Tür geklingelt, die Hilfe gebraucht haben. Dann hat sich mein Vater um deren Asyl- und Bleiberecht gekümmert, Wohnungen und Jobs für diese Menschen gesucht. Mit diesem Menschenrechtsaktivismus und diesem Widerstandsgeist bin ich groß geworden – ich konnte also gar nicht anders.
Und trotzdem hast du dich von bestimmten Werten deiner Familie gelöst, nämlich der klassischen Erwartung an eine Frau, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Was hat das in deiner Familie ausgelöst?
Ein richtiges kurdisches Migrations-Drama. Es sind die Fetzen geflogen. In meinen Zwanzigern stand wirklich kurzzeitig die Frage im Raum: Familie oder Freiheit. Ich habe meiner Familie dann klargemacht, dass ich diese Unfreiheit in einer freien Gesellschaft nicht akzeptieren werde, niemals. Ich habe doch in meiner kurdisch-jesidischen Familie gelernt, „Nein“ zu sagen und mich zu wehren. In dem Moment, als mir angeboten wurde, jemanden zu heiraten, für den ich mich überhaupt nicht interessiert habe, wurde mir klar: Nein sagen ist ein Überlebensmechanismus. Das Nein war ein Ja zu mir und meiner Freiheit. Da haben meine Eltern dann verstanden: Sie meint es ernst. Und sie meinten es auch nicht böse. Der Druck der Gesellschaft, dass nur eine verheiratete Tochter eine gute Tochter ist, war sehr groß.
Konntest du das verstehen?
Die Angst meiner Eltern war, dass sie ihr Gesicht verlieren. Und dass ich den Bezug zu meiner Kultur verliere und entwurzelt werde. Das kann ich verstehen. Sie gehören einer Religionsgemeinschaft an, die seit Anbeginn verfolgt wird, deren Frauen seit Jahrhunderten vergewaltigt werden, unter anderem vom IS. Diese Urangst ist in den Knochen meiner Eltern. Gleichzeitig – und das ist das Ambivalente – hatten meine Eltern den riesigen Anspruch, dass ich und meine zehn Geschwister etwas aus unserem Leben machen. Meine Mutter hat immer gesagt: „In einer freien Gesellschaft habt ihr die Verpflichtung, alles zu geben“. Es war schon eine Art Drill-Instructor-Mentalität. Und noch heute sagt sie: „Vergleicht euch mit den Besten“ – auch, was Menschlichkeit angeht.
Mit wem vergleichst du dich?
Als Jugendliche habe ich mich mit den Mädchen verglichen, die freier waren als ich. Heute vergleiche ich mich in erster Linie mit mir selbst, mit meinem eigenen Menschlichkeitsmuskel. Es ist wichtig, sich regelmäßig selbst zu konfrontieren. Man sagt ja: Mit dem Vergleich mit anderen endet das Glück.
Du hast deine Hilfsorganisation Háwar Help 2015 mit deinen Schwestern gegründet. Wie konntest du sie davon überzeugen?
Es muss immer eine geben, die die Revolution beginnt – und das war in diesem Fall ich. Damit habe ich aber wieder mal Krieg nach Hause gebracht. Es ging 2014 um den Überfall des IS auf die Jesiden in Irak. Meine Eltern hatten Angst um mich, denn ich wollte als Kriegsreporterin berichten, mein sicheres Deutschland verlassen. Der Widerstand, für den ich heute geliebt werde, erntete damals Kopfschütteln, selbst in der eigenen Familie. Es hat also gedauert. Als dann klar wurde, dass meine Freiheit auch ihre Freiheit bedeutet, kam die bedingungslose Unterstützung. Ich habe so gelernt: Es geht immer darum, zu sich selbst zu stehen. Es muss mir egal sein, was Außenstehende darüber denken.
Und, ist es dir wirklich immer egal?
Wäre das so, wäre ich erleuchtet. Aber das bin ich nicht. Wenn ich überziehe, dann kann ich gerne mal wackeln und auch mal aus der Kurve fliegen. Dann braucht man Menschen, die sagen: Steh auf! Ich bin so froh, dass meine Schwestern und Freunde das machen.
Háwar Help
ist eine registrierte NGO in Deutschland und Irak, gegründet 2015 von Düzen Tekkal und ihren Schwestern. Die Organisation betreibt Entwicklungs-, Bildungs- und Aufklärungsprogramme in Irak, Afghanistan und Deutschland und tritt für Menschenrechte u.a. im Iran ein. Gefördert wird sie etwa von der Bundesregierung, der Deutschen Bahn und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit
Gönnst du dir denn gedankliche Pausen?
Ich musste lernen, dass Aktivismus kein 24-Stunden-Job sein darf, wenn ich gesund bleiben will. Die Quelle der Freude muss bleiben. Man darf kein schlechtes Gewissen dabei haben, etwas zu tun, was einem Freude bereitet. Und wenn das bedeutet, dass ich mir ein schönes Kleid kaufe, dann eben das.
Was sind sonst noch deine Quellen der Freude?
Meine Familie, meine Freunde, meine Nichte, die mich fragt: „Tante Düzi, kannst du mir Lasagne kochen?“. Ich schenke mir gerne selbst Blumen. Und ich genieße es total, allein zu sein, Spaziergänge zu machen und dabei zu empfangen, statt immer nur zu senden. Und Zeit zu verbringen mit meinen Tanten und Onkeln und über Themen zu sprechen, die ganz weit weg sind von meinen. Kurz gesagt: zu klatschen und zu tratschen. Ich habe nicht den Anspruch, immer überkorrekt zu sein, nur weil ich harte Menschenrechtsthemen behandle.
Wie schaffst du es, morgens aufzustehen und aufs Handy zu schauen, wenn du genau weißt, dass Schreckensmeldungen aus dem Iran darauf sein werden?
Im Moment empfinde ich es einfach als unterlassene Hilfeleistung, nicht aufs Handy zu schauen. Wenn ich Material aus dem Iran bekomme, wo das Internet gedrosselt ist, dann sehe ich es als Verpflichtung, dieses Video zu teilen, weil es Beweiskraft bedeutet. Aber natürlich ist es wahnsinnig anstrengend, rund um die Uhr Fotos und Videos von toten Menschen zu schneiden und zu posten.
Wie verifizierst du das Material?
Der wichtigste Grundsatz für mich ist: believe the victim. Ich nehme jedes Material erst einmal ernst. Aber natürlich verifizieren mein Team und ich nach bestem Wissen und Gewissen. Intuition und Erfahrungswerte helfen. Außerdem haben wir Kontakt zu langjährigen Quellen vor Ort. Natürlich ist mir auch schon mal eine Falschinformation untergekommen. Dann kannst du nur um Entschuldigung bitten und dafür gerade stehen.
Kommt diese Verpflichtung zum Posten vielleicht auch durch ein schlechtes Gewissen, dass du empfindest, weil du in der privilegierten Situation bist, in Deutschland zu leben?
Nein. Die Zeiten sind zum Glück vorbei. Eine IS-Überlebende hat mal zu mir gesagt: „Das schlechte Gewissen nützt weder den Lebenden noch den Toten.“ Ich habe nicht das Gefühl, zu wenig zu tun, weil ich mein Privileg einsetze. Und ich möchte, wenn ich so viel Kraft in den Aktivismus stecke, mich trotzdem darüber freuen dürfen, auf den Weihnachtsmarkt zu gehen und dort Kartoffelsuppe mit Würstchen zu essen. Es gibt einen Unterschied zwischen Freizeit und Freiheit. Was nützt es mir denn, wenn ich frei habe, aber mich nicht frei fühle? Dann klappt die ganze Nummer nicht.
Für Háwar Help und die Bildungsinitiative German Dream arbeiten rund 40 Personen. Wolltest du immer schon Chefin sein?
Ich habe keine Angst vor Verantwortung. Wenn man lernt, damit umzugehen, kann sie einem viel geben. Ich fühle mich ganz oft wie eine Löwenmama. Wenn es mir zu viel wird, denke ich: Mama und Papa haben es doch auch geschafft, und das mit gebrochenen Deutschkenntnissen und wenig Geld.
Wie verdienst du als Aktivistin Geld?
Oftmals wird erwartet, dass Ehrenamt und Care-Arbeit unvergütet sein müssen. Es ist aber ein Trugschluss, dass man für Aktivismus kein Geld nehmen darf, denn das brauchen wir nun mal für unsere Arbeit. Ich bin dankbar, dass wir unseren Mitarbeitern, die mit Herzblut bei der Sache sind, auch ein Einkommen bieten können. Unsere Projekte bei Háwar Help werden gefördert, unter anderem von der Bundesregierung. Ich verdiene mein Geld als Unternehmerin und für meine Arbeit als Journalistin, Autorin und Rednerin schreibe ich ganz normal Rechnungen.
Wann war der Punkt, an dem du gemerkt hast, dass du Journalismus nicht mehr von Aktivismus trennen kannst?
Als ich 2014 im Irak war, um dort über die Jesiden zu berichten, die vom IS verfolgt und ermordet wurden. Ich musste mich damals dafür rechtfertigen, die Neutralität verlassen zu haben, aber die Zeit hat mir recht gegeben. Es gibt doch auch gar keine neutralen Journalistinnen, was soll das sein? Selbst wenn ich einen Beitrag über Käse mache, habe ich doch eine Meinung dazu. Der richtige Umgang für mich bedeutet Transparenz, den Prozess offenlegen und sagen, dass man befangen ist. Das ist für mich auch guter Journalismus.
Zu Beginn der Iran-Proteste gab es viel Kritik, die Medien würden nicht ausreichend darüber berichten. Wie siehst du das mittlerweile?
Es ist besser geworden, aber noch nicht genug. Die Aktion von Joko und Klaas, die ihre Instagram-Reichweiten an Aktivistinnen gegeben haben, war ein Gamechanger. Es war wahnsinnig entlastend zu wissen, wir sind nicht mehr nur eine Handvoll Aktivistinnen und Journalistinnen.
Welche Themen haben aus deiner Sicht 2022 zu viel Platz in den Medien eingenommen?
Es wäre anmaßend, da etwas rauszupicken. Jeder Mensch hat seine eigenen Probleme, die man ihm oder ihr zugestehen muss. Wenn jemand nicht weiß, wie er am Ende des Jahres Rechnungen bezahlen soll, ist beispielsweise die Inflation für diese Person ein sehr reales Problem und dementsprechend wichtig, dass darüber berichtet wird.
Würdest du noch über Themen berichten wollen, für die du nicht brennst?
Das schaffe ich tatsächlich nicht mehr. Es muss immer etwas sein, das mich stört oder aufregt. Es gibt sicherlich einfachere Leben – Prinzessin bin ich ja offensichtlich nicht geworden – trotzdem bin ich mir und dem lieben Gott dafür dankbar, dass ich jeden Morgen die Freiheit habe, das zu tun, was ich will, und was mir wichtig ist.
Welchen Preis zahlst du für diese Freiheit?
Die Unfreiheit durch die Gefährdung meiner Sicherheit. Veranstaltungen wie Demos kann ich ohne Begleitschutz nicht mehr machen. Ich lege mich eben mit mächtigen Gegnern an: dem Iran, der Türkei und Russland, mit Geheimdiensten, Despoten und Unrechtsregimen – da hat sich meine Mutter sicherlich auch etwas anderes für mich gewünscht. Ich mache mir natürlich auch Gedanken um die Sicherheit meiner Angestellten und meiner Familie. Andererseits hat mir mein Vater beigebracht, dass wir keine andere Wahl haben. Wenn wir in die Knie gehen und uns Angst machen lassen, dann sind wir ja schon tot.
Darfst du als Aktivistin Schwäche zeigen?
Ich habe lange gedacht, dass ich es nicht darf – mit verheerenden Folgen für meine seelische Gesundheit. Das ist zum Glück vorbei. Ich habe mir Hilfe geholt und gelernt, dass ich nicht so streng sein darf mit mir. Dass ich inspirierende Gegenüberschaft brauche. Dass Selbstschädigung immer dann beginnt, wenn man überzieht. Und dass ich die Welt nicht alleine retten kann – und muss.
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Ist Angst eine Schwäche?
Nein. Wer Angst als Schwäche bezeichnet, hat das Leben nicht verstanden. Angst ist ein wichtiger Ratgeber. Es ist aber eine Frage der Dosierung. Angst sollte uns nicht lähmen. Ich lebe aktuell in einer Zwischenwelt: Einerseits das sichere Leben in Deutschland, andererseits die Gefahren im Iran, im Irak und anderen Ländern. Ich habe dabei gemerkt: Man kann es sich unter einem Damoklesschwert wohnlich machen.
Hast du ein Ziel im Leben, das du noch erreichen willst?
Das Tolle ist, dass ich mir nichts mehr beweisen muss. Meine Wünsche sind eher solche Dinge wie Gesundheit und mentale Stärke. Meine Oma ist 107 Jahre alt geworden. Ich wünsche mir, ihre Löwenkraft so lange wie möglich in mir zu tragen.
Willst du wirklich 107 Jahre alt werden?
Klar, ich möchte noch ganz viel Gutes tun. Und noch ganz viele Leute stören und nerven.
Düzen Tekkal
Geb. 1978 in Hannover
2002 Studium Politikwissenschaft und Germanistik in Hannover
2007 Redakteurin und Reporterin bei der Mediengruppe RTL, u.a. bei „Spiegel TV“ und „stern TV“
2014 freie Journalistin, Filmemacherin, Kriegsberichterstatterin und Autorin
2015 Dokumentarfilm „Háwar – Meine Reise in den Genozid“
2015 Gründung der Menschenrechtsorganisation Háwar Help
2019 Gründung der Bildungsinitiative German Dream
2019 Fachkommission Fluchtursachen der Bundesregierung
2021 Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz