turi2 edition #21: Wer heute Markenbotschafterin sein will, muss selbst eine Marke sein.
12. Juni 2023
Echt und ehrlich? In der Werbe-Branche gibt es eine neue, bedeutende Maßeinheit: die Authentizität. Aufmerksamkeit allein war gestern, genau wie die perfekt aufgesagte, aber stumpfe Produktpräsentation vor der Kamera. Marken-Verantwortliche suchen längst nicht mehr nur im Sport oder im Showbusiness nach guten Stimmen oder zählen Follower auf Social Media. Großes Ziel ist heute mehr denn je das “Perfect Match” – danach suchen sie auf allen Kanälen. Ein bekanntes Gesicht kann aber nach wie vor nicht schaden. Dieser Beitrag stammt aus der turi2 edition #21.
Boris Becker wundert sich, jedes Mal wieder, dass er schon drin ist im Internet. Franz Beckenbauer löffelt Suppe. Und irgendwo im Hintergrund verschwinden ein Goldbär im Mund von Thomas Gottschalk und ein gefrorener Spinatwürfel – Blubb – im Topf von Verona Pooth (damals: Feldbusch, Foto bei der Spinaternte im Jahr 2000). Der Blick in den Werbeblock vor 20, 30 oder mehr Jahren erinnert heute an einen bunten Fiebertraum.
Seit es Marken gibt, brauchen sie Menschen, die ihnen Gesicht, Körper und Stimme geben. Denn: “In den meisten Fällen interessiert sich das Publikum weitaus mehr für andere Menschen als für etwas, das ihnen eine Produktmarke erzählen will. Allein schon aus evolutionsbiologischen Gründen”, sagt Max Ströbel, CSO der Agentur Achtung!. Ob ein Tennisprofi wirklich Technikprobleme hat, Gottschalk in Wahrheit eine Gummibärchen-Allergie oder das Testimonial gar komplett erfunden ist (Hallo, Herr Kaiser!) – egal. Bekanntheit erzeugt Aufmerksamkeit, Sympathie schafft Vertrauen – fertig.
Heute ist die Arbeitsanweisung an Markengesichter komplexer geworden. “Ein Produkt ins Bild zu halten und grinsend mit Daumen hoch ‚ist gut, könnt ihr kaufen‘ in die Kamera zu erzählen, ist nicht mehr der Hit”, sagt Frank Behrendt, Senior Advisor Serviceplan PR & Content bei Serviceplan, „Heute geht es um echtes glaubwürdiges Involvement.” Eileen Dillenburg, Chefin der Influencer-Einheit Squad bei FischerAppelt, fasst das so zusammen: “Brand Ambassadors laden Marken mit Sinn auf, übersetzen den Markenkern in Richtung ihrer Themen-Communities und machen die Marke über den eigentlichen Produkteinsatz hinaus erlebbar.”
In einer Welt, in der alles speicher-, überprüf- und kommentierbar ist, in der Gemeinschaft nicht vor TV-Lagerfeuern, sondern in Communities entsteht, zählt nicht mehr Aufmerksamkeit allein. Die neue Währung ist: Authentizität. Thomas Gottschalk kann heute einen Shitstorm provozieren, wenn er für ein Hörgerät wirbt, ohne selbst eines zu tragen. Würde Verona Pooth noch immer für Spinat werben, müsste sie den wahrscheinlich in ihrer eigenen Küche statt am Set zubereiten und sich mit der Smartphone-Kamera fürs eigene Instagram-Profil filmen.
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“Die Welt der Markenbotschafter:innen eine Demokratisierung erfahren”, sagt Szymon Rose, Kreativchef und Partner bei Jung von Matt. Markenverantwortliche suchen längst nicht mehr nur in Sport und Showbusiness und auch nicht mehr nur anhand auf Follower-Zahlen in Social Media, wenn sie nach perfekten Partnerinnen suchen. Wer heute Markenbotschafterin sein will, muss selbst eine Marke sein. “Die Person muss für bestimmte Werte stehen und diese nachweisbar vorleben”, sagt Monika Schaller, ehemalige Kommunikationschefin von Deutsche Post DHL. “Heute ist vor allem wichtig, dass die Persönlichkeit der Botschafter*innen perfekt zur Marke passt”, ergänzt Susanne Cornelius, CEO von Douglas Brands. Der Kosmetikriese wirbt nicht nur mit schönen Stars wie Dianne Kruger und Elyas M’Barek, sondern hat auch mit Unternehmerin Tijen Onaran einen Lippenstift zum Weltfrauentag kreiert – nach vielen Likes für deren Spruch “Lippenstift lässt das Hirn nicht schrumpfen.”
Ob erfolgreiche Unternehmerin auf Linked-in, tanzender TikTok-Star mit riesiger Followerschaft oder Kleinst-Streamer bei Twitch: Arbeiten Marken mit Influencern zusammen, profitieren sie vom Vertrauen der Community und werden idealerweise Teil davon. Sie bekommen Content-Produktion und Plattform aus einer Hand – und eine Portion Marktforschung gleich obendrauf: Ob ein Produkt zur Zielgruppe passt, erleben Influencer durch Kommentar-Feedback quasi in Echtzeit.
Als Gegenleistung dafür müssen Marken: Kontrolle abgeben. Influencer haben eine eigene Marke zu verteidigen, wollen also mitreden – und nicht zwingend alle Entscheidungen des Unternehmens mittragen. Wollen mehr als “ihre Community mit Produktempfehlungen versorgen”, sagt Eileen Dillenburg von FischerAppelt, “Sie haben zunehmend den Anspruch, selbst zu erschaffen.” Aus Influencern werden Creators, die kreativ eigenen Content rund um eine Marke produzieren.
Unternehmen tut da Flexibilität gut, meint Szymon Rose von JVM: “Die Creators wissen am Ende am besten, was bei ihrer Community gut ankommt.” In einer schnelllebigen Welt, in der Partnerschaften zwischen Mensch und Marke oft weder von Dauer noch exklusiv sind, ist Beständigkeit der Jackpot: Dirk Nowitzki ist seit 20 Jahren das Gesicht der ING – und das seit 2017 sogar offiziell “lebenslang”.
Zu Hochzeiten seiner Karriere profitiert die Marke von Nowitzkis Prominenz und inszeniert ihn als Ausnahme-Sportler. Später passt sie die Zusammenarbeit ans Ende seiner Aktivlaufbahn an, zeigt Nowitzki in Alltagssituationen. “In der werblichen Kommunikation ging es dann darum, ihn als authentischen Menschen zu zeigen”, sagt Hanna Maschke, Leiterin Media und Advertising der ING. Außerdem wichtig sei, dass sich Bank und Basketballer gemeinsam in sozialen Projekten rund um den Sport engagieren.
Es gibt sie noch immer: die perfekt retuschierten Plakatgesichter, die chipsknabbernden Sportler, die Allrounder, die routiniert auswendig gelernte Werbesprüche vorlächeln. Boris Becker war inzwischen wirklich drin – 231 Tage Knast wegen Insolvenzverschleppung. Im dazu passenden Clip rät er als Testimonial für einen Fensterversand: “Schmeißen Sie Ihr Geld nicht aus dem Fenster.”
Aber es gibt eben noch viel, viel mehr: die großen und die kleinen Influencer, die Creators, die nicht selten direkt selbst Markenprodukte kreieren – Gin, Kosmetik, Eistee. Die Menschen, die am direktesten für eine Marke stehen, hinter den Verkaufstresen, an den Hotlines, als Postbotin, als CEO auf Twitter, als Mitarbeiter auf Linked-in. “Es ist kompliziert geworden”, resümiert Max Ströbel von Achtung!, “Außerhalb der Medien ist aber alles beim Alten: Hier ist kein Einfluss größer als die Empfehlungen unserer Familienmitglieder, Freundinnen und Freunde.” Irgendwie sind wir also alle Markenbotschafter – ob wir wollen oder nicht.
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