1 Frage, 5 Antworten: Was wird das nächste große Ding in den Medien?
6. Dezember 2023
Schöne neue News: Krisen und KI verschwinden nicht mit dem Jahreswechsel, deshalb bleiben das die beiden großen Themen, die die Medien auch 2024 prägen werden. Das erleben auch unsere fünf Gastautoren, die Medieninhalte verfassen, verantworten, verlegen und vermarkten – und optimistisch in die Zukunft blicken: Yasmine M’Barek sieht Grenzen schwinden und prophezeit ein überraschendes Comeback. Julia Becker freut sich für Funke auf das “Jahr der Nachricht”. Henrik Pabst will bei Seven One Glaubwürdigkeit in Zeiten täuschend echter Deepfakes sichern und schmiedet dafür unverhoffte Allianzen. Niddal Salah-Eldin will für Springer von den “KI-Kraftzentren der Welt” lernen. Und Republic-Chef Ingo Müller glaubt fest daran, dass sich Qualität langfristig durchsetzen wird.
Yasmine M’Barek: Authentisch sein, nahbar, aber professionell
Ich glaube, 2024 treffen Jung und Alt mehr denn je aufeinander und es geht um Inhalte wie noch nie. Dieses Jahr zeichnete sich bereits auf TikTok ab, dass junge Menschen das Format des langen Video-Essays favorisieren. Also Inhalte, die informiert, detailliert, aber auch optisch professionell und vorausschauend sind. Und zusätzlich: die Welt miteinander verbinden und Zusammenhänge erklären.
Um über Themen wie Krieg, Mode, Psychologie oder Medizin zu sprechen, werden solche Videoformate auch ein Tool sein, das Influencer und Intellektuelle nutzen werden. Und Journalisten müssen dabei ganz vorne sein. Das heißt: schnelles Aufspüren von Trends, Wissenshunger und ein Auge für Selbstinszenierung. Authentisch sein, nahbar, aber professionell – das macht Medien wieder cooler.
Hot Take: Die Zeitung könnte ein Revival feiern. Es wird immer cooler, sie auf dem Tisch zu haben, auf Texte zu verweisen, als informiert zu gelten. Es werden immer mehr wöchentliche Lesetipps aus renommierten Medien von kleinen Content Creators veröffentlicht. Im Internet werden Zielgruppen wie Booktok, junge Akademiker-(vor allem)Frauen, Ästhetik- sowie Popkultur-Interessierte eine neue Art des Essayierens und Debattierens mitprägen – und fordern.
Inhalte und Debatten verlieren damit auch generationenübergreifende Gedankensperren. Es ist edgy, mit Älteren zu sprechen, Perspektiven und Wissen von Älteren einzubauen und Sehgewohnheiten in normativen Medienformaten abzulegen. Die Prämisse bleibt: Journalismus ist dann gut, wenn er genauso gut ist wie die, die die Grenzen zwischen Journalismus und Influencerdasein verwischen. Wenn er mitmischt und sich nicht in seiner vermeintlichen Seriosität verheddert.
Yasmine M’Barek ist Journalistin und Podcasterin
Julia Becker: Menschen für journalistische Produkte begeistern
Das nächste große Ding ist ein zeitloses: Guter Journalismus! Alles, was es an technologischen Innovationen gibt, alle digitalen, KI- und Data-Möglichkeiten müssen wir nutzen, um den besten Journalismus mit den besten Journalistinnen und Journalisten zu machen und zu unseren Leserinnen und Lesern, Userinnen und Usern zu bringen. Unabhängig muss dieser Journalismus sein, gründlich recherchiert, hartnäckig der Wirklichkeit auf den Grund gehend, lösungsorientiert und fair, anschaulich und klar aufbereitet. Dabei ist es völlig egal, auf welchen Kanälen er die Menschen erreicht, er muss sie nur erreichen.
Denn guter Journalismus ist wichtiger denn je. Auch 2024 werden zahlreiche Krisen unser Leben prägen. Wir müssen die Hintergründe, Zusammenhänge und Konsequenzen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, des Krieges im Nahen Osten oder auch der Finanzkrise in Deutschland verstehen, um uns Urteile bilden und unser Leben entsprechend gestalten zu können. 2024 ist auch ein wichtiges Wahljahr in Deutschland. Europawahl, Kommunalwahlen in vielen Bundesländern, Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg – überall versuchen Extremisten einfache Antworten auf komplexe Fragen zu geben, überall drohen demokratische Kräfte an Boden zu verlieren. Guter Journalismus beleuchtet alle Seiten, erklärt die Zusammenhänge und schafft die Grundlage, damit sich Userinnen und Usern eine eigene Meinung bilden können.
Genau deshalb unterstützen wir bei Funke mit ganzer Kraft das “Jahr der Nachricht”, das die Initiative #UseTheNews zusammen mit vielen Medienunternehmen und Sendeanstalten im kommenden Jahr auf die Beine stellt. Vor allem junge Menschen sollen erfahren, dass guter Journalismus relevant für das eigene Leben ist. Wir werden eine große Kampagne erleben, neue News-Formate in den sozialen Medien ausprobieren, News Camps anbieten und Projekte mit Schulen initiieren. Unser Ziel ist klar: Wir wollen Menschen für journalistische Produkte begeistern und gewinnen. Davon, dass das gelingt, hängt viel ab: für unsere Demokratie und unser gemeinsames Leben, für, wie es in der Funke-Vision heißt, “eine offene, informierte Gesellschaft”!
Der Kanzler spricht in einem Werbespot über “Bild”. Und es wirkt, als würde Olaf Scholz wirklich über die einst so mächtige Boulevard-Zeitung sprechen. Ein Deepfake. KI macht es an vielen Stellen nahezu unmöglich, dass wir unterscheiden können, was wahrhaftig oder was eben ein Deepfake ist. Das “Bild”-Marketing-Team hat es in seinem Kanzler-Spot natürlich ausgewiesen.
Und trotzdem macht KI nicht einfacher, was 2024 für alle Medien gilt: Wir müssen so sensibel wie noch nie darauf achten, dass wir unsere Glaubwürdigkeit nicht beschädigen. Wann setzen wir wo und wie KI ein, ist dabei nur eine Frage.
Was müssen und können wir ändern, sodass wir für unsere Zuschauerinnen und Zuschauer weiter wahrhaftig bleiben? Wem müssen wir eine Stimme geben? Diese Aufgabe diskutieren wir täglich mit unseren Journalistinnen und Journalisten – aber auch mit allen anderen, die bei uns Filme und Shows machen. Wir tragen gemeinsam eine große Verantwortung für unser höchstes Gut: Glaubwürdigkeit. Alle. Journalisten, Fimemacher und Showproducer. Private Sender, Streamer und das öffentlich-rechtliche System.
2024 werden wir zudem weltweit Entwicklungen im Medien-Business erleben, die sich viele vor einigen Jahren noch nicht vorstellen konnten. Wir werden Allianzen erleben, die man bis dato als unmöglich erachtet. Was meint das? Viele, vielleicht sogar alle Player arbeiten an neuen Formen von Kooperationen. Dabei geht es um einzelne Projekte – und um große strategische Allianzen. Dabei wird sich das Denken, das in den vergangenen Jahren zu Entscheidungen geführt hat, radikal ändern: Nur mit den richtigen Allianzen – über alle Grenzen hinweg – wird jeder einzelne sein Geschäft ausbauen können. Das wird uns alle beleben. Die Zuschauerinnen und Zuschauer, die Userinnen und User werden davon profitieren.
Henrik Pabst verantwortet als Geschäftsführer der Seven.One Entertainment Group alle Inhalte auf Joyn, Sat.1 und ProSieben
Niddal Salah-Eldin: Kompetenzlücken identifizieren und schließen
Vom Jahr der KI ins Jahr der KI. Der Wandel ist rasant, intensiv und unaufhaltbar. Wir haben bei Axel Springer in diesem Jahr entschieden: Wir werden nicht warten, bis alle Fragen beantwortet sind. Wir wollen von Künstlicher Intelligenz profitieren und den Wandel proaktiv mitgestalten.
Für uns bedeutet das, uns immer wieder zu hinterfragen, dabei mutig und aufgeschlossen sein. Wir setzen bei KI auf drei Säulen: auf Bildung und Austausch, auf die Optimierung bestehender Abläufe und auf die Exploration neuer Themen, Produkte und Geschäftsmodelle. Darum schicken wir auch eine Handvoll Führungskräfte und Fachexpertinnen in die (neuen) KI-Kraftzentren der Welt. Rein ins Geschehen anstatt distanzierter Ferndiagnosen.
Warum Aus- und Weiterbildung? Weil es mit Produkt- und Prozessoptimierung und Exploration nicht getan ist. Es ist Zeit für Arbeitgeber, Kompetenzlücken zu identifizieren und zu schließen. Wer damit erfolgreich sein will, muss nicht nur an den technologischen, sondern auch an den kulturellen Stellschrauben drehen. Es ist auch ein klares Führungsthema. Um den sich verändernden Bedingungen und Anforderungen gerecht zu werden, braucht es im Jahr 2024 eine wahre Reskilling-Revolution in der Medienbranche. Denn die Halbwertszeit von Skills nimmt ab. Was man vor 20 oder 15 Jahren gelernt hat, kann heute längst irrelevant sein.
Lebenslanges Lernen und Offenheit für Technologie und Tools machen den Unterschied. Das gilt vom Journalistenschüler über die Geschäftsführerin hin zum Vorstand. Weiterentwicklung geht alle etwas an. Das ist kein Selbstläufer, sondern eine bewusste Entscheidung. Um einen Schritt voraus zu sein, müssen die Themen Upskilling und Reskilling in 2024 dringend und unbedingt auf der Agenda jedes Medienunternehmens stehen. Nur so kann eine inspirierende und kollaborative Kultur gestärkt und Erfolg ermöglicht werden.
Ich bin überzeugt: Wer es schafft, unternehmensweit Begeisterung für KI zu wecken und die Mitarbeiter/innen entsprechend zu befähigen, wird einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil haben.
Niddal Salah-Eldin ist Leiterin des Vorstandsressorts Talent & Culture bei Axel Springer
Ingo Müller: Wie wäre es mit Qualitätsjournalismus?
Naheliegend wäre jetzt sicherlich, ein Thema rund um KI und Marketing-Automation aufzugreifen oder über Lösungen für die Post-Cookie-Ära zu sprechen. Oder man interpretiert die Frage grundsätzlicher: Was ist in diesen herausfordernden Zeiten wirklich von grundsätzlichem Wert für Gesellschaft und Kommunikation und damit ein nachhaltig großes Thema abseits der schnelldrehenden Agenda?
Wie wäre es mit Qualitätsjournalismus, der den Namen auch verdient? Von Medienmarken, die sich über Jahrzehnte das hohe Vertrauen ihrer Leser, aber auch einer breiten Öffentlichkeit hart erarbeitet haben und ihre Leistung jeden Tag aufs Neue unter Beweis stellen. Die auch neue Technologien wie KI klug zum Vorteil der Nutzerschaft, aber eben auch mit Bedacht und in voller Transparenz einsetzen. Die einen Journalismus anbieten, von dem Debatten in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik profitieren. Weil er auf Fakten entlang einer fundierten Recherche, tiefen Analysen sowie verschiedensten Perspektiven basiert. Und ein wirkmächtiges Auditorium adressiert, das Komplexität und Uneindeutigkeit akzeptieren kann und nicht nur ein vereinfachendes oder gar populistisches Schwarz-Weiß angeboten bekommen möchte.
Aus meiner Perspektive ist genau dieser Themenkreis ein wirklich großes Ding von Relevanz und nicht einfach “das nächste große Ding”.
2024 ist das Jahr der Demokratie, die Bundesrepublik und unser Grundgesetz feiern gemeinsam ihr 75-jähriges Jubiläum. Und mit ihnen feiert auch die “FAZ” – die “SZ” hat das 75-Jahr-Jubiläum bereits 2020 begangen. Beide Medienmarken widmen sich dem Themenkreis intensiv über alle Kanäle. Mit Serien oder Spezialen, die auch immer auf die Zukunft fokussieren – auf die Welt, in der wir morgen gemeinsam leben und in der Medienmarken weiter an Relevanz über die Summe ihrer Kanäle gewinnen werden.
Auch werbliche Kommunikation profitiert nachweislich durch den sogenannten Halo-Effekt von Qualitäten eines unabhängigen, glaubwürdigen und facettenreichen Journalismus. Der Halo-Effekt beschreibt dabei die Übertragung von Reputation und Vertrauen auf die im Umfeld platzierte Werbung. Um diese Wirkmechanismen noch besser zu verstehen, werden wir in Kürze eine neue Studie zum Thema vorstellen. Diese wird weitere Argumente liefern, warum auch Werbungtreibenden von dem “großen Ding” Qualitätsjournalismus profitieren.
Ingo Müller ist Geschäftsführer von Republic, dem Werbevermarkter der “FAZ” und der “Süddeutschen Zeitung”
Dieser Text ist Teil der Agenda-Wochen 2024. Bis 17. Dezember blickt turi2 in Interviews, Podcasts und Gastbeiträgen zurück auf 2023 und voraus auf 2024.