“Der Sonnenuntergang allein ist zu wenig” – MairDumont-Verlegerin Stephanie Mair-Huydts über Tourismus mit Haltung.
6. Dezember 2023
Hin und weg: Gerade in Krisenzeiten wollen die Deutschen ihrer Sehnsucht nach neuen Eindrücken in die Ferne folgen und “die letzten Paradiese anschauen, bevor sie nicht mehr sind”, sagt Reiseführer-Verlegerin Stephanie Mair-Huydts. Gut fürs Familienunternehmen MairDumont, das unter anderem “Baedeker”, “Marco Polo” und “Lonely Planet” herausbringt – und dabei auch in Zukunft auf Print setzen will: Als haptisches “Vorfreude-Objekt” biete der Reiseführer auch in Konkurrenz zu Travel-Posts auf Instagram Mehrwert, als kuratierter Vor-Ort-Begleiter Sicherheit in einer komplexen Welt. Warum sie trotzdem auf Apps und Influencerinnen setzt und Haltung auf dem Silbertablett statt mit erhobenem Zeigefinger serviert, erklärt Mair-Huydts im Interview mit Anne-Nikolin Hagemann für die Agenda-Wochen 2024.
Wenn ich Nachrichten lese, sieht die Welt nicht gerade einladend aus. Auto und Flieger sind schlecht fürs Klima, die Bahn ist unpünktlich. Da habe ich keine große Lust, meine Koffer zu packen. Wie überzeugen Sie mich, dass ich das trotzdem tue?
Zum Glück geht es nicht allen Leuten wie Ihnen – denn Reisen ist ein totales Grundbedürfnis von uns Deutschen. Das haben wir auch nach Corona gesehen: Sobald es wieder erlaubt war, waren die Leute unterwegs. Das Hauptargument für Reisen ist: abschalten. Je schlimmer die Lage gerade ist, desto stärker ist der Wunsch. Ein anderes, pessimistischeres Argument, vor allem für die Fernreise: die letzten Paradiese noch anschauen, bevor sie nicht mehr sind. Die Welt sehen, wo sie noch möglichst ursprünglich ist. Für mich ist es auch ein guter Grund, auf Reisen zu gehen, dass ich dabei Neues entdecke, neue Kulturen kennenlerne. Von einer Reise kommt man immer mit einem anderen Mindset und neuen Ideen und offenerem Geist wieder: Wenn ich in einem islamischen Land gewesen bin oder gesehen habe, wie Juden ihre Feste feiern, habe ich ein bisschen was zur Weltöffnung und dem Abbau von Vorurteilen getan.
Welche Argumente gegen das Reisen dämpfen die Aufbruchstimmung?
Natürlich sind da die Zukunftsängste und die Frage: Kann ich mir das leisten? Das Schöne ist aber: Die Leute sagen “Mein Urlaub ist mir heilig”, machen kürzere Reisen und buchen ein Hotel mit einem Stern weniger. Auch Reisewarnungen für Kriegsgebiete oder Gebiete mit Seuchen weltweit sind ein Thema. Aber da kann man oft – Gott sei Dank – in andere Gebiete ausweichen. Wir haben Reiseführer, Berater und Informationen zu allen Destinationen.
Welche Ziele sind denn gerade gefragt?
Inseln wie die Malediven und Seychellen sind die letzten zwei, drei Jahre unglaublich hochgegangen im Ranking. Nicht nur als letzte Paradiese, die vom Verschwinden bedroht sind. Nach den Strapazen der vergangenen Jahre ist da auch der Wunsch: ab auf meine Insel, in mein Traumland, weg von allem. Aber auch Europa ist unglaublich gefragt gewesen, dieses Jahr vor allem Griechenland. Die Fernreisen insgesamt sind noch nicht da, wo sie 2019 waren, aber Ziele in Europa liegen darüber. Das beliebteste Reiseziel der Deutschen ist und bleibt aber nach wie vor: Deutschland.
Wie schnell können Sie als Verlag Ihr Angebot anpassen an aktuelle Trends?
Schnell. Während Corona haben wir mehr Destinationen und Aktiv-Guides in Deutschland ins Programm genommen. Nach Corona mussten wir gar nicht so viel anpassen: Wer früher Mittelmeer geliebt hat, ist jetzt auch wieder am Mittelmeer. Leute, die gerne Schiffsreisen gemacht haben, sind auch jetzt wieder auf dem Schiff. Sportreise-Fans machen wieder Sportreisen. Am Mindset des einzelnen Reisenden hat sich also nicht viel geändert. Ein wichtiger Trend insgesamt ist das Thema Nachhaltigkeit: Einer unserer Bestseller bei “Lonely Planet” ist Zug statt Flug.
Ihr Verlag verkauft seit mehr als 70 Jahren Reiseliteratur, hat also schon einige Trends kommen und gehen sehen.
Früher hat man Urlaub gemacht um sich zu erholen, der Gesundheit etwas Gutes zu tun, die klassische Sommerfrische. Dann kam die Zeit, in der Fliegen für eine Massenzielgruppe möglich war. Wir fingen an, Thailand zu entdecken und Australien, viele weite Flüge zu machen. Dann sind die Leute fast überall schon gewesen – und es ging ums Erlebnis: Tauchen, Surfen, Wandern. Eigentlich egal wo, aber das Erlebnis muss beeindrucken. Und heute kommt, auch mit dem Thema Nachhaltigkeit im Hinterkopf, der Wunsch: Ich will mich auf die Destination einlassen, Land und Leute erleben: Was ist das Besondere? Was kann ich von dort mitnehmen, das mein Leben bereichert? Erholen, Neues Erkunden, Erlebnis: All diese Bedürfnisse beim Reisen gibt es immer noch. Aber der Trend des nachhaltigen Sich-Darauf-Einlassens kommt immer mehr. Für uns ist das natürlich sehr gut: Unsere Autoren leben fast alle vor Ort und können schreiben, worauf es dort ankommt, wo man abseits vom Massenstrand mit Menschen interagieren kann, wo man essen kann, was dort wächst. In dieser komplexen Welt unterstützen wir den Reisenden, sich besser zurechtzufinden und geben ihm dadurch Sicherheit.
Als Verlag sind Sie nicht nur abhängig von den Trends der Reise- sondern auch von denen der Medienbranche. Wo liegen da Ihre Baustellen?
Es gibt heute natürlich wesentlich mehr Medien als früher. Dazu kommen die Vielfalt und die Parallelität der Medien. Es ist eben nicht so, dass das eine das andere ersetzt: Wer einen Reiseführer kauft, geht sicher auch ins Netz und guckt auf Instagram. Jedes Medium muss das leisten, was es am besten kann. Und häufig bieten wir mehrere Medien in einem Produkt an, zum Beispiel den “Marco Polo”-Reiseführer mit der passenden Touren-App dazu.
Was kann ein gedruckter Reiseführer am besten?
Komischerweise nehme ich an den Strand doch nicht so gerne mein Handy mit – und außerdem muss es irgendwie geladen werden und vielleicht habe ich nicht den passenden Stecker. Ein Reiseführer ist überall verfügbar, auch ohne Strom und Netz. Er ist etwas Haptisches: Wir machen keine Ansammlung an Informationen und Adressen, wir machen Vorfreude-Objekte. Die liegen auf meinem Schreibtisch oder zu Hause im Wohnzimmer, ich kann Eselsohren reinmachen und sie mir nach der Reise ins Regal stellen. Viele lieben auch die Fokussierung: In einen “Marco Polo” packen wir auf 120 Seiten eine ganze Destination. Ich habe dann natürlich nicht 100 Restaurants, sondern zehn. Aber die sind wirklich spitze. Eine Kuratierung je nach Marke, für den “Marco Polo”-Typ, den “Lonely Planet”-Reisenden, den “Baedeker”-Leser: Das ist die Kunst.
Ihr Großvater hat das Familienunternehmen 1948 gegründet. Würden Sie heute noch einen Verlag für Reisemedien neu aufziehen?
Diese Frage habe ich mir nie gestellt, weil der Verlag einfach so in unserer DNA ist. Aber ja, das würde ich tun. Die Idee, Reisende zu motivieren, zu inspirieren, ihren Horizont zu erweitern und dadurch ein bisschen zur Völkerverständigung beizutragen, finde ich einfach schön.
Die heutige MairDumont Reiseverlagsgruppe wird 1948 als “Kartographisches Institut Kurt Mair” in Stuttgart gegründet und ist zunächst auf die Herstellung von Landkarten mit kleinem Maßstab spezialisiert. Heute, nach zahlreichen Zukäufen und Expansionen, steht der Verlag hinter zahlreichen Reiseliteratur-Marken – gedruckt wie digital. Darunter sind “Marco Polo”, “Lonely Planet” und der Verlag Karl Baedeker sowie der Falk-Verlag und der Kunth Verlag. mairdumont.com
Was haben Sie von Ihrer Familie übers Reisen gelernt?
Wir sind eine Reisefamilie, die einfach gerne loszieht und sich die Dinge selbst anschaut. Auch für unseren Verlag ist Recherche vor Ort das A und O. Das kann man nicht im Netz machen. Nur vor Ort versteht man die Zusammenhänge. Es ist auch wichtig, andere Kulturen zu achten und zu reflektieren: Welche Rolle spiele ich dort als Tourist und wie muss ich unser Land dort vertreten? Für eines seiner ersten Bücher hatte mein Großvater alle Alpenstraßen abgefahren. Er war einer der ersten, die nach dem Krieg aus Deutschland nach Italien gekommen sind. In seinem Buch hat er dann sinngemäß geschrieben: Achtung, wir haben den Krieg verloren, passt auf, wie ihr dort auftretet. Noch mit sehr erhobenem Zeigefinger, das verpacken wir in unseren Büchern heute anders.
Sie selbst sind seit 1989 im Geschäft. Was hat sich seitdem verändert?
Die Komplexität und die Schnelligkeit. Früher war eine Karte eine Karte und ein Reiseführer bestand hauptsächlich aus Text-Informationen. Denken Sie an die ersten “Baedeker”, die waren schwarz-weiß, mit ein paar Zeichnungen. Heute ist ein Reiseführer ein komplexes Produkt: Informationen, aber schön geschrieben, hochwertige Fotografie mit speziellen Anforderungen. Dann habe ich ganz viel Kartografie drin, von kleinen Kärtchen bis Ausklappkarten. Und bei fast allen ist ein digitales Ergänzungsprodukt dabei, zum Beispiel eine Touren-App oder zumindest ein GPX-Track zum Runterladen. Früher hatten wir eine eigene Druckerei, heute kaufen wir Druckleistungen weltweit ein. Früher saßen die Mitarbeiter hier bei uns in Stuttgart, heute können sie aus dem Home Office schreiben. Der Vertrieb läuft über Multi-Channel statt nur über den stationären Buchhandel. All das erfordert Flexibilität, ist aber auch eine riesige Chance: Ich mache ein Multimedia-Produkt, kann daran mit Menschen von überall auf der Welt zusammenarbeiten und es ganz vielen Leuten an ganz vielen Orten anbieten.
Wie haben unsere durch Social Media gelernten Sehgewohnheiten Ihr Produkt verändert – müssen alle Ziele bei Ihnen aussehen wie bei Instagram?
Da erzähle ich Ihnen eine Anekdote: Unsere Bücher sollen als Vorfreude-Objekt schön sein – was immer das bedeutet. Also wollten wir schicke, moderne Bilder reinbringen. Einen Marktplatz übers Kopfsteinpflaster fotografiert, ganz edel, so etwas. Diese Bilder sind bei unserem anspruchsvollen Publikum voll durchgefallen. Und wir haben gelernt: Wenn im Bild nicht eine Aussage, eine Information drin ist, die den Reisenden in seiner Reiseplanung oder seinem Erlebnis weiterbringt, sondern es nur um Ästhetik geht, wollen es unsere Nutzer nicht. Der Sonnenuntergang allein ist ihnen zu wenig.
Den kriegt es dann bei der Instagram-Influencerin.
Wir arbeiten auch mit Bloggern und Influencern zusammen, haben zum Beispiel eine Serie, in der Influencerinnen uns ihre Hotspots zeigen. Aber auch da muss ich auf den Bildern sehen, wo ich hingehe und was ich da erleben kann. Für einen anderen Titel haben wir mit einem ganz wunderbaren Influencer zusammengearbeitet, der Fun-Parks in Deutschland und Europa testet. Auch unsere Instagram-Kanäle lassen wir teilweise von Influencern bespielen, die uns mit auf ihre Reisen nehmen oder unsere Touren nachreisen. Und wir schicken unsere Produkte an Influencer, damit sie sie testen und bewerten.
Was beeinflusst denn die Reiseplanung am meisten – Influencer-Bilder, klassische Werbung oder etwas ganz anderes?
Schon früher war es so, dass der Rat von Freunden den Konsumenten am meisten beeinflusst. Und zu Freunden im allerweitesten Sinne könnte ich heute vielleicht auch die Influencer zählen.
Beim Thema Reisen auf Social Media spielt ja auch Selbstdarstellung eine Rolle. Sind Reisen heute mehr denn je Statussymbol?
Wenn man den Bildern auf Instagram glaubt: ja. Die Art und Weise, wie ich etwas erlebe, ist schon sehr geprägt davon, wie das die Influencer machen. Die schlimmste Folge davon sind die tödlichen Unfälle, die passieren, weil jemand genau dieses eine Bild vor genau diesem einen Abgrund haben möchte. So etwas zerreißt mir das Herz.
Sind virale Ziele auch Thema in Ihren Reiseführern?
Bei “Marco Polo” haben wir Fototipps für das beste Bild mit drin: “Fotografiere diese Sehenswürdigkeit am besten von dieser Seite, nicht von dieser” oder “Eine Pfütze im Vordergrund macht hier eine schöne Spiegelung”. Was auf der anderen Seite immer zieht, sind die Insider-Tipps: Wo kann ich was erleben abseits der großen Touristenströme? Bei uns suchen die Leute die Erlebnisse, für die sie eben nicht in der Masse Schlange stehen müssen.
Wie viel Haltung steckt in Ihren Reiseführern – zum Beispiel beim Thema Nachhaltigkeit?
Das Thema haben wir immer schon drin, aber jetzt noch mehr. Aber eben nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern inspirativ: Überleg doch mal, das Kanu zu nehmen und damit lautlos an der Bucht vorbeizugleiten, statt mit dem Jetski. Oder wie wäre es mit dem Nachtzug nach Wien – morgens mitten in der Stadt aussteigen statt zu fliegen? Immer so, dass der Leser selbst das Erlebnis kreieren kann. Ich gebe ihm nichts vor, ich biete ihm aber auf dem Silbertablett Möglichkeiten, wie er konsumieren kann.
Wie viel politische Haltung muss in einem Reiseführer stecken?
Eine ganz heikle Frage. Wir wollen die Wirklichkeit darstellen, so neutral wie möglich. In einem Israel-Führer stellen wir die Themen da, die das Land beschäftigen, in einem USA-Führer die Spaltung zwischen Republikanern und Demokraten und was das mit diesem Land macht. Die Haltung dazu, die Entscheidung, was das Richtige ist, muss der Leser selbst finden.
Haben Sie da manchmal das Gefühl, dass sich die Welt zu schnell verändert für das Medium Reiseführer?
Ja und nein. Wir werden zwar überall täglich überflutet mit Informationen, aber die Grundhaltungen, in die diese Nachrichten einzuordnen sind, ändern sich nicht so schnell. Wir helfen, das Wesentliche herauszuarbeiten, das große Ganze zu sehen, um welche Themen es geht in einem Land. Aus demselben Grund hat auch eine Wochenzeitung wie die “Zeit” nach wie vor ihre Berechtigung, weil sie einfach das Geschehen der Woche einordnet. Wenn ich nur nach der Nachrichtenlage gehe, müsste ich eigentlich minütlich in die Newsticker und auf die Bildschirme schauen. Aber manchmal bringt einem eben das größere Bild mehr als das tagtägliche.
Ich möchte Sie zu einem kleinen Blick in die Zukunft einladen: Wie sieht das Reisen in der Zukunft aus? Sitzen wir nur noch mit der VR-Brille auf dem Sofa und reisen rein virtuell?
Wir haben selbst schon verschiedene Szenarien entworfen. Wir glauben: Die VR-Brille wird es nicht sein, zumindest nicht in den kommenden 20 Jahren. Weil bei uns allen der Wunsch nach Erleben vor Ort so stark ist. Deshalb gibt es jetzt auch seit ein paar Jahren den Outdoor-Trend: Man möchte draußen sein, die Natur erspüren. Wir werden gucken müssen, wie sich die Fortbewegungsmittel verändern: Werden wir noch fliegen können? Machen wir nicht sechs Kurztrips jährlich, sondern vielleicht nur alle zwei Jahre einen langen und bleiben dann drei Wochen? Ich glaube nicht, dass die Fernreise wegfällt und hoffe, dass die Flugindustrie eine Lösung findet.
Was machen Sie in zehn Jahren – noch immer gedruckte Reiseführer?
Ja, da glaube ich fest dran. Das Buch wird in Zukunft noch enger gekoppelt sein an andere Medienformen. Darin liegt für mich die Zukunft: In der Kombination aus schnellen und gedruckten Medien.
Wenn wir alle 2024 nur eine Reise machen möchten: Welche drei Ziele können Sie empfehlen?
Ich war 2023 auf den Lofoten und fand sie toll. Aber ich weiß nicht, ob ich da jeden hinschicken würde. Ich würde eine Reise nach Europa empfehlen. Wenn man in eine warme Region möchte: Mallorca, unser Bestseller. Wer es lieber kühler möchte, den würde ich nach Südschweden schicken. Und als Städtereise kann man mit Paris nichts verkehrt machen. Das ist auch gut mit dem Zug zu erreichen.
Dieses Interview ist Teil der Agenda-Wochen 2024. Bis 17. Dezember blickt turi2 in Interviews, Podcasts und Gastbeiträgen zurück auf 2023 und voraus auf 2024.