Der bange Blick nach innen: TV-Talkshows und die Debatte über Migration und Terror.
4. Oktober 2024
Thematische Einfalt: Nach der Rückkehr aus der Sommerpause waren die politischen TV-Talkshows in den vergangenen Wochen “Getriebene und auf zwiespältige Weise auch Treiber der gesellschaftlichen Debatte”, analysiert Thomas Gehringer bei epd Medien. Abgesehen von wenigen Ausnahmen widmeten sich praktisch alle Talkshows dem “Dreiklang aus Migration, Ostdeutschland und Ukraine-Krieg”. Bei der Gästeauswahl falle auf, dass Politik und Medien “weitgehend ein Selbstgespräch führen”, Erkenntnisgewinn und Unterhaltungswert der “Selbstbespiegelung” blieben überschaubar. turi2 veröffentlicht diesen Text in der Reihe Das Beste von epd Medien bei turi2.
Von Thomas Gehringer
Ein kurzer Überblick über den Spätsommer 2024 könnte – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – etwa so lauten: Nach einem islamistischen Anschlag in Solingen mit drei Toten und einem Rechtsruck bei drei Landtagswahlen folgt eine ausufernde Debatte über Asyl und Migration. Ein Hochwasser in Mitteleuropa fordert Todesopfer und verursacht Milliardenschäden. Volkswagen stellt Werksschließungen und Stellenabbau in Aussicht. In Dresden stürzt eine Brücke ein. Die Zahl der politischen Gewalttaten in Deutschland erreicht einen Höchststand. Und das Sterben in der Ukraine und im Nahen Osten geht weiter, ohne dass eine politische Lösung in Sicht wäre. Währenddessen schleppt sich eine zerstrittene Bundesregierung ins letzte Jahr der Legislaturperiode.
Nüchtern betrachtet heißt das: Es gibt Redebedarf und Gesprächsthemen im Überfluss. Fernseh-Talkshows, die immerhin ein Millionen-Publikum erreichen, sind also keineswegs überflüssig, sondern im Gegenteil wichtiger denn je. Ihnen wird gerne vorgeworfen, zugunsten der Quote auf Streit und Zuspitzung zu setzen. Dem muss man die politische Binsenweisheit entgegenhalten, dass es eine Demokratie ohne Streit niemals geben wird, außer sie ist keine Demokratie. Und Gesprächsrunden, in denen sich alle gegenseitig auf die Schulter klopfen, sind nun tatsächlich kein Vergnügen. Unterhaltsam darf es sein, wenn der öffentlich ausgetragene Disput eine Bereicherung sein soll. Dass dabei die Qualität der Rhetorik eine Rolle spielt, liegt auf der Hand.
Zwiespältige Treiber der Debatte
In den vergangenen Wochen waren die Talkshows allerdings – ähnlich wie die Politik selbst – Getriebene und auf zwiespältige Weise auch Treiber der gesellschaftlichen Debatte. Drei der fünf Shows im Ersten und im ZDF, “Caren Miosga“, “Maischberger” und “Markus Lanz“, kehrten wenige Tage nach dem Anschlag von Solingen am 23. August und direkt vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen am 1. September aus der Sommerpause zurück. In der Woche darauf folgte “Maybrit Illner“, während “Hart aber fair” bereits mit zwei Ausgaben am 5. und 12. August auf Sendung gegangen war.
Nach dem Solinger Anschlag, der Mängel im europäischen Dublin-Verfahren offenbarte, wagte es kein Parteivertreter mehr anzuzweifeln, dass weitere Maßnahmen im Kampf gegen “irreguläre Migration” notwendig seien. Und die Ergebnisse der Landtagswahlen trieben Regierung und Opposition in einen Wettstreit um die wirkungsvollsten Methoden, um Flüchtende möglichst vor der Einreise zu stoppen. Man kann also nicht ernsthaft kritisieren, dass über Migrationspolitik sowie über die politische Situation im Osten Deutschlands diskutiert werden musste.
In den zahlreichen Sendungen wurde über Einwanderung fast ausschließlich in Kombination mit Asylmissbrauch und Terror geredet. Und das in einer schwer erträglichen Wiederholungsschleife. Doch man kann das Desaster nicht allein den Redaktionen anlasten. Die vierwöchige Dauerdebatte nannte der Migrationsforscher Gerald Knaus am 26. September bei “Markus Lanz” einen “Brandbeschleuniger für die AfD”. Denn von allen Seiten seien Vorschläge gemacht worden, die alle nicht umsetzbar seien und nicht wirkten.
Ergriffen von Angst-Starre
Während nicht mal eine politische Einigung auf die am wenigsten untaugliche Maßnahme zu gelingen scheint, marginalisierte der bange Blick nach innen alle anderen Themen. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck sprach bei “Caren Miosga” am 22. September treffend von “Angst-Starre”. Jedenfalls in den ersten Wochen nach der Sommerpause schienen auch die Talkshows davon ergriffen.
Folgerichtig, dass der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine nicht nur in Bezug auf Flüchtlinge, sondern auch aus der Perspektive einer möglichen Koalitionsbildung auf Länderebene mit dem “Bündnis Sahra Wagenknecht” (BSW) diskutiert wurde. Und nicht einmal eine aktuelle Hochwasser-Katastrophe sorgte dafür, dass Talkshows sich noch in nennenswertem Umfang für die mit der Erderwärmung zusammenhängenden Fragen interessieren. Sieht man von wenigen Ausnahmen ab, etwa der “Markus Lanz“-Ausgabe vom 18. September mit drei Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Paralympischen Spiele, widmeten sich praktisch alle Talkshows dem Dreiklang aus Migration, Ostdeutschland und Ukraine-Krieg, ab und zu ergänzt durch einen Ausblick auf die US-Präsidentschaftswahlen.
Mittlerweile öffnet sich behutsam das Fenster wieder für andere Themen. Dennoch reibt man sich beinahe verwundert die Augen, wenn bei “Maischberger” (25. September) mit Ex-Telekom-Chef René Obermann mal kein Politiker, Journalist oder prominenter Künstler auftaucht und auch mal über Ökonomie gesprochen wird. Weil Obermann Verwaltungsratschef von Airbus ist, einem Konzern, der unter anderem Rüstungsgüter produziert, ging es wieder um den Angriffskrieg Russlands. Rätselhaft allerdings, warum die Moderatorin nach all den vielen Migrationsdebatten das Thema ausgerechnet jetzt ausklammerte. Angesichts des Fachkräftemangels und der dringenden Appelle der Wirtschaft, Zuwanderung zu erleichtern, wäre es eine Gelegenheit gewesen, das emotional aufgeladene Thema Migration aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
Politik und Medien im Selbstgespräch
Nach wie vor fällt bei der Gästeauswahl auf, dass Politik und Medien weitgehend ein Selbstgespräch führen, bei dem es häufig um Spekulationen um Personalien und echtes oder vermeintliches Insiderwissen geht. Dann drehen sich Talkshows allerdings oft im Kreis, Erkenntnisgewinn und Unterhaltungswert der Selbstbespiegelung bleiben überschaubar. In den insgesamt 38 Ausgaben von “Caren Miosga” (NDR/5), “Hart aber fair” (WDR/6), “Maischberger” (WDR/8), “Markus Lanz” (ZDF/15) und “Maybrit Illner” (ZDF/4) nach der Sommerpause (bis einschließlich 26. September) waren 182 Gäste eingeladen, davon 74 Politikerinnen und Politiker (40,7 Prozent) sowie 71 Journalistinnen und Publizisten (39 Prozent).
Thorsten Frei (CDU) war in vier Sendungen zu sehen, dahinter folgen mit jeweils drei Einladungen Kevin Kühnert (SPD), Sahra Wagenknecht und Amira Mohamed Ali (jeweils BSW) sowie die “Spiegel”-Journalistin Melanie Amann. Bei den Parteien lautet die Rangfolge: CDU (21 Gäste), SPD (15), Bündnis 90/Die Grünen (10), BSW (9), Die Linke (5), FDP (3) sowie AfD und CSU (jeweils 2). Hinzu kamen einige parteilose Bürgermeister und Landräte sowie ausländische Politiker (7). Außerdem wurde in 18 von 38 Sendungen die Expertise von insgesamt 23 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (12,6 Prozent) einbezogen. 112 Gäste (61,5 Prozent) waren männlich, 70 weiblich (38,5 Prozent).
Vor rund einem Jahr hatte die ARD eine Neuausrichtung der Talkshows beschlossen. Zentral seien Vielfalt und Ausgewogenheit bei Themen und Gästen, ebenso das Sichtbarmachen gesellschaftlicher Unterschiede, hieß es in einer Erklärung nach der Sitzung der Intendantinnen und Intendanten in Frankfurt am Main. Im Sog der Migrationsdebatte erscheint mehr als fraglich, ob das gelungen ist. Am nächsten kam dieser Zielvorgabe nach der Sommerpause wohl das überarbeitete WDR-Format “Hart aber fair” mit Louis Klamroth, bei dem der Moderator auch als Reporter mehrfach selbst nach Ostdeutschland gereist war und Menschen, die er vor Ort traf, in die Studiosendung einbezog.
Nur vereinzelt waren unter allen Talkshow-Gästen People of Color oder aus Einwandererfamilien. Und während insbesondere darauf geachtet wurde, Stimmen aus Ostdeutschland zu berücksichtigen, wurde wieder konsequent über anstatt mit Geflüchteten geredet. Auch Vertreter der Zivilgesellschaft, die sich im Bereich Migration engagieren, wurden nicht eingeladen – niemand von Flüchtlingsorganisationen, niemand von den Kirchen oder Sozialverbänden. Neben einigen Musikern, Kabarettisten und Schauspielern sah man nur einen Gewerkschafter, Jochen Kopelke von der Gewerkschaft der Polizei. Vor allen Dingen missfalle ihm, sagte Gauck bei “Caren Miosga“, “dass wir keine ausreichende Erzählung haben von den Gewinnen, die wir erlangt haben durch Zuwanderung”.
AfD-Sound auch ohne AfD
Überdies verstellte der Blick auf Migrationsgipfel, EU-Recht, Waffengesetze und Grenzsicherung den Blick auf Motive und Ursachen, auf die islamistische Ideologie und die offenbar enorme Mobilisierung nach dem von der Hamas in Israel verübten Massaker am 7. Oktober 2023. Der Psychologe und Publizist Ahmad Mansour bei “Markus Lanz” (27. August), der Politikwissenschaftler Peter Neumann bei “Maischberger” (28. August) und der Journalist Eren Güvercin wiederum bei “Markus Lanz” (28. August) wiesen kurz nach dem Anschlag darauf hin. Doch anschließend blieben Debatten, die nicht nur Messerverbote, Bürgergeld-Streichung und Grenzschließung zum Inhalt hatten, sondern auch Prävention, Bildungsarbeit oder die Frage, wie mit Propaganda und Hetze in den sozialen Medien umzugehen wäre, weitgehend aus. Sollten Talkshows, zumal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, nicht den Mut haben, sich dem Zeitgeist deutlicher als in den vergangenen Wochen zu widersetzen?
Der AfD-Sound war jedenfalls auch ohne AfD-Vertreter allgegenwärtig. Und die Strategie, möglichst viele Probleme im Land mit dem Thema Migration zu verknüpfen, scheint endgültig aufgegangen zu sein. Vier Tage nach dem Anschlag von Solingen sagte Jens Spahn (CDU) bei “Markus Lanz“: “Wir sehen eine starke Häufung von Messerangriffen etwa in Deutschland, wir sehen drei Gruppenvergewaltigungen am Tag. Wir sehen, dass Integration zu oft nicht gelingt.” Widerspruch oder wenigstens Nachfragen des darin ja durchaus geübten Moderators, der einen Tag später SPD-Generalsekretär Kühnert wegen angeblicher Untätigkeit der Bundesregierung hart ins Kreuzverhör nahm, gab es nicht. Die Journalistin Anne Hähnig (“Zeit Online”) bemerkte später immerhin, es gebe ein “unangenehmes Wording, wenn wir über Asylbewerber reden”. Am Ende schien auch Markus Lanz der Tonfall der Diskussion nicht mehr ganz geheuer gewesen zu sein. “Integration ist auch eine Erfolgsgeschichte”, betonte er. Dies ausdrücklich hinzufügen zu müssen, ist leider bezeichnend.
Nur punktuell kam es zu einer kritischen Überprüfung populistischer Phrasen, etwa als Caren Miosga am 15. September den NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU) mit einem Redeausschnitt des CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz konfrontierte und anschließend fragte: “Migranten sind an allem schuld, demnächst auch an kaputten Brücken?” Miosga sorgte in diesem Gespräch wieder für eine angenehme, aufgeräumte Atmosphäre. Blöd nur, dass viel Zeit für die K-Frage bei der Union verstrich. Die Antwort gab Wüst, der sich bei Miosga noch bedeckt gehalten hatte, dann am nächsten Tag.
Therapeutischer Ansatz
Rassismus kam vereinzelt auch zur Sprache. Zum Beispiel, als die aus Sachsen-Anhalt stammende Soziologin und Autorin Katharina Warda (“Dunkeldeutschland”) bei “Hart aber fair” am 23. September zu Gast war. Und weil sie gleich mal dem BSW und somit der anwesenden Sahra Wagenknecht “rassistische Narrative” vorwarf, erfüllte sie wohl die von der Redaktion zugedachte Rolle. Doch allzu sehr interessierte sich Moderator Louis Klamroth für Warda, ihre Arbeit und ihre persönlichen Erfahrungen auch wieder nicht.
Im Vordergrund stand vielmehr der therapeutische Ansatz, eine Fleischereifachverkäuferin aus Brandenburg – sozusagen stellvertretend für den gesamten Osten – wieder mit den Vertretern etablierter Parteien in Gestalt von Kühnert und dem CDU-Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor zu versöhnen. Der freundliche und zugewandte Moderator aus dem Westen gab sich redlich Mühe, keinen Anlass für den beliebten Vorwurf zu liefern, dass er jemanden “in die rechte Ecke stellen” wolle. Die bedenkliche Kehrseite für das ehrliche Bemühen von Gesprächsbereitschaft scheint allerdings zu sein, dass man auf kritische Nachfragen lieber verzichtet.
Überhaupt überboten sich die meisten Talkshows, die ja alle im Westen produziert werden, gegenseitig im Versuch, den Osten zu verstehen und dem Publikum zu erklären. Interessanterweise beteiligte sich die einzige in der DDR geborene und aufgewachsene Moderatorin nicht an dem beliebten Gesprächsreigen “Wie tickt der Osten?”. Maybrit Illner demonstrierte nach dem gescheiterten Asyl-Gipfel zwischen Ampel-Regierung und CDU/CSU am 12. September, dass sich auch ein komplexes Thema einigermaßen verständlich sortieren und unaufgeregt diskutieren lässt. Aber vielleicht erschien diese “Maybrit Illner“-Sendung auch nur deshalb so gelungen, weil anschließend bei “Markus Lanz” in der Migrationsdebatte wieder vieles durcheinander ging, womit es das ZDF fertigbrachte, den Erkenntnisgewinn im Overkill des eigenen Programms umgehend zu konterkarieren.
Tiefe Gräben
Einen “interessanten Abend” wollte Lanz auch am 19. September erlebt haben. Gleichzeitig räumte er indirekt sein Scheitern ein. Eigentlich wollten “wir”, wer immer damit gemeint war, “ein bisschen konstruktiv tätig sein”, sagte er. Doch zuvor hatte CSU-Generalsekretär Martin Huber ausdauernd bestätigt, dass seine Partei keinesfalls mit den Grünen koalieren werde. Daneben saß der Grünen-Politiker Anton Hofreiter und berichtete, welche Folgen der Satz des Ministerpräsidenten Markus Söder (“Die Grünen gehören nicht zu Bayern”) für seine persönliche Sicherheit und die seiner Familie hatte. Manche Gräben sind mittlerweile derart tief, dass Talkshows auch ein wenig versöhnen wollen. “Hat nicht so richtig geklappt”, sagte Lanz am Ende.
Wenn dies einem gelungen ist, dann Louis Klamroth und einem Punk-Musiker aus dem Osten: Jan “Monchi” Gorkow, Sänger der Band “Feine Sahne Fischfilet”, hielt am 9. September bei “Hart aber fair” eine derart flammende, optimistische Eloge auf die Zivilgesellschaft im Osten, dass sogar Herbert Reul (CDU), der als Innenminister für die Polizei in Nordrhein-Westfalen zuständig ist, dem linken, einst vom Verfassungsschutz beobachteten Musiker applaudierte. Gorkow, der sich mit einem Musikfestival in seiner Heimatstadt Jarmen in Vorpommern engagiert, ist überzeugt: “Hier geht noch was.” Knapp zwei Wochen später klang auch Gauck ein wenig wie “Monchi”. Das Land sei noch durchzogen von einem Netzwerk des Guten, sagte der ehemalige Bundespräsident bei “Caren Miosga“. In der medialen Wahrnehmung sei alles Solidarische nicht mehr existent, aber: “So ist es nicht.”