Kurzandacht in der Wohnzimmerkapelle – Hermann Rotermund über die “Tagesschau” als beruhigende Welterzählung.
3. Juni 2023
Fortsetzung folgt: Wie schafft es die “Tagesschau” trotz schwindender Relevanz weiterhin hohes Vertrauen zu genießen? Mit dieser Fragestellung analysiert Medienwissenschaftler Hermann Rotermund bei epd Medien die Nachrichtensendung. In vielen Berichten beobachtet er “Viertklässler-Didaktik” und “bebildertes Radio”. Von den Themen bleibe beim Publikum oft nicht viel haften. Letztlich sei die “Tagesschau” eine “stabile kulturelle Form”, eine “prinzipiell auf Unendlichkeit angelegte Fernsehserie”. turi2 veröffentlicht den Beitrag in der wöchentlichen Reihe Das Beste von epd Medien bei turi2.
Die “Tagesschau” gilt als vertrauenswürdigstes Nachrichtenangebot der deutschen Medien. Die Forschung zur Nachrichtennutzung verweist allerdings auf merkwürdige Diskrepanzen. Beispielsweise ergaben die JIM-Studien, dass nur gut fünf Prozent der 12- bis 19- Jährigen die “Tagesschau” gern sehen, aber 84 Prozent ihre Nachrichten für glaubwürdig halten. Wie schafft es ein Medienformat, Vertrauen zu erzeugen, ohne überhaupt nennenswert rezipiert zu werden? Interessant wäre im Übrigen eine Differenzierung zwischen den Fernsehnachrichten und den Social-Media-Formaten, die von der “Tagesschau”-Redaktion beschickt und betreut werden. Gibt es bereits Anzeichen dafür, dass sich die Erfahrungen aus diesen dialogischen Umgebungen auf das althergebrachte monologische Fernsehformat auswirken?
Empirisch arbeitende Kommunikationswissenschaftler untersuchen die “Tagesschau”-Nachrichten recht häufig. Inhaltsanalysen oder Themenstrukturanalysen analysieren allerdings gar nicht die Inhalte der Sendungen, sondern programmatisch nur deren Extrakt: Themen, Orte und Akteure. “Themen” sind eine Art Hülle, die den Berichtsinhalten übergezogen wird. Sie sind immer das Resultat von Auswahlentscheidungen der Forscher. Ein Bericht über die geforderte Verschiebung eines Gebäudeenergiegesetzes kann sehr verschieden etikettiert werden, etwa mit Klimawandel oder Koalitionskrise. Standardisierte Inhaltsanalysen erfassen – oft mit maschineller Unterstützung – abzählbare Merkmale, die mit dem “Inhalt” tatsächlich oft nur in einer vagen Beziehung stehen.
Typische Erscheinungsformen
Nachrichten werden dabei keineswegs auf die gleiche Weise gelesen, betrachtet und gehört, wie Medienrezipienten es tun. Manche Analysen widmen sich auch der Tonalität, der Perspektive oder der Tendenz von Nachrichten und Kommentaren. Das Ziel ist dann, vermutete Einseitigkeiten der Berichterstattung zu bestätigen oder zu widerlegen. Allerdings sagen Faktoren wie Ausgewogenheit oder Vielfalt noch nicht viel über die Qualität der Berichterstattung aus. Auf Inhalte zielende Untersuchungen hingegen müssten sich beispielsweise damit auseinandersetzen, was überhaupt die Neuigkeit der jeweiligen Nachricht ausmacht. Weiterhin könnte gefragt werden, warum und für wen ein Berichtsgegenstand interessant ist – und warum Nachrichten über andere Gegenstände unterbleiben. In diesem Artikel soll anders verfahren werden. Die leitenden Fragen einer eingehenden Sichtung von zehn “Tagesschau”-Ausgaben sind: Wodurch wirkt diese Fernsehsendung nach wie vor anziehend, und mit welchen Mitteln gelingt es der Redaktion, Vertrauen zu produzieren? Im Hintergrund steht dabei die Frage, wie relevant das deutsche Nachrichtenflaggschiff für die private und öffentliche Meinungsbildung heutzutage noch ist. Sie lässt sich allerdings mit dieser kleinen Unternehmung nicht beantworten.
Die folgende Darstellung basiert auf den 20-Uhr-Ausgaben von acht aufeinanderfolgenden Tagen – Sonntag, 16. April, bis Sonntag, 23. April 2023 – sowie den Ausgaben am 8. und 9. Mai (Montag und Dienstag). Die Sichtung kann nicht repräsentativ sein (zum Beispiel ist in keiner der zehn Ausgaben die Hauptstadt-Korrespondentin Tina Hassel zu sehen), aber sie offenbart genügend typische Erscheinungsformen, die sich auch bei spontanem Zuschauen wiederfinden lassen.
Der Aufbau einer “Tagesschau”-Ausgabe folgt einem streng durchgehaltenen Konzept. Ein Intro startet drei Sekunden vor 20 Uhr, und 22 Sekunden später wird die erste Meldung verlesen. Hinter der Sprecherin oder dem Sprecher wird ein Bild eingeblendet, links erscheint ein Textinsert mit einer thematischen Dachzeile und einem Meldungstitel.
Es folgen etwa acht Berichtselemente, dann das Wetter. Vor 20 Jahren gab es in der Regel noch zwölf Elemente. In den meisten Fällen besteht heute ein Element aus einer Sprechernachricht mit einem Hintergrundbild und einem mit einer Autorenangabe versehenen Berichtsteil. Diese Form, meist zwei oder zweieinhalb Minuten lang, wird zusammenfassend als Bericht bezeichnet. Es gibt auch Sprechernachrichten von etwa 30 Sekunden Länge ohne nachfolgenden Bericht oder sogenannte Nachrichten im Film mit unsichtbaren Sprechern. Das letzte Berichtselement ist oft ein “weiches” Thema, womöglich mit einem heiteren Akzent.
Herumschwenkende Kamera
Am Montag, 17. April, ist Judith Rakers die Sprecherin. Die Reihenfolge der Berichte: 1. Expertenrat zum Klimaschutz legt Prüfbericht vor. 2. Neues CDU-Grundsatzprogramm. 3. Ordensverleihung an Angela Merkel (30-sekündige Nachricht im Film). 4. Beratungen der G7-Außenminister in Japan. 5. Chinesischer Verteidigungsminister in Moskau. 6. Verurteilung eines “Kreml-Kritikers”. 7. Import von Getreide aus der Ukraine in Ungarn und Polen verboten. 8. Disney-Wanderausstellung zum hundertjährigen Jubiläum.
Die Dachzeile und der Titel der ersten Meldung lauten: “Bericht des Expertenrats. Fachleute sorgen sich um Klimaschutz”. Rakers steht vor dem Foto einer sechsspurigen Autobahn und sagt, dass ein Expertenrat die Bundesregierung davor gewarnt habe, das Klimaschutzgesetz zu verwässern. Hintergrund seien Pläne der Koalition, die CO2-Sparvorgaben für einzelne Bereiche zu verändern. Werden die Vorgaben in einem Sektor verfehlt, könne das durch andere Sektoren ausgeglichen werden. Dadurch werde nach Ansicht des Expertenrats das Risiko, die Ziele insgesamt zu verfehlen, größer.
Im Video sind nun die Rümpfe mehrerer Personen zu sehen, die eine Broschüre in die Kamera halten. Den Text spricht Claudia Buckenmaier. Der Bericht stelle der Bundesregierung kein gutes Zeugnis aus, heißt es. Die Kamera schwenkt im Saal der Bundespressekonferenz herum und erfasst zeitweilig das Display eines mitfilmenden iPhones. Die stellvertretende Vorsitzende des Expertenrats gibt ein Statement vor einem ARD-Mikrofon ab: Die Ziele wurden 2022 bei Gebäude und Verkehr nicht eingehalten, und bei der Industrie sei die Einhaltung oft nur auf Produktionsminderung “wegen der Energiekrise” zurückzuführen. Sie sagt für das nächste Jahr steigende Emissionen voraus.
Eine animierte Infografik mit der Überschrift “Deutschlands Klimaziele” erscheint. Die CO2-Emissionen sollen 2030 gegenüber 1990 um 65 Prozent verringert werden, derzeit seien höchstens 55 bis 60 Prozent erreichbar. Das Hintergrundfoto zeigt nun dampfende Kühltürme und Schlote eines Kraftwerks. CO2-Reduktionen in sieben Sektoren sollen geprüft werden. Bei der Erwähnung von Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude und Verkehr sind zeitgleich im Bewegtbild wieder dampfende Kühltürme und der Zweig einer Goldnessel zu sehen, dann eine Kleinstadtstraße, wobei die Kamera einem silbernen Kombi folgt. Zum zweiten Mal ist zu hören, dass die Bereiche Gebäude und Verkehr wiederholt ihre Ziele verfehlt haben. Die zuständigen Ministerien müssten nun schnell Änderungsvorschläge präsentieren – im Bild einige miteinander scherzende Bundesminister –, doch die Koalition habe beschlossen, das Klimaschutzgesetz zu ändern. Einzelne Ministerien sollen ihre Werte überziehen können, wenn andere besonders viel einsparen.
Ideenlosigkeit und Viertklässler-Didaktik
Statement des stellvertretenden FDP-Vorsitzenden vor dem ARD-Mikrofon: Das Verkehrsministerium muss nun “Dinge” vorlegen, die dafür sorgen, dass der Klimaschutz erreicht wird. Das muss aber zusammen mit den anderen Ministerien funktionieren. Zusammenfassung der Berichterstatterin, die am Spreeufer vor dem ARD-Hauptstadtstudio steht, im Rücken das Paul-Löbe-Haus: “Der Expertenrat kritisiert, dass eine Verrechnung zwischen den Ministerien möglich sein soll. Die Wissenschaftler fürchten, dass sich damit der Druck, die Klimaziele zu erreichen, auf die einzelnen Sektoren verringern könnte. Sie fordern daher weiter verbindliche Vorgaben für jedes Ressort.”
Die Aussage des Expertenrats wird somit nach dem bereits Sorgen andeutenden Meldungstitel innerhalb von zweieinhalb Minuten drei Mal variiert. Die Bildfolge des Berichts changiert zwischen Ideenlosigkeit (Schwenks auf der Pressekonferenz) und Viertklässler-Didaktik (dampfende Kraftwerke, Verkehr). Erklärende Kompetenz, die beispielsweise die stärksten CO2-Beiträge aus dem Verkehrsbereich (Diesel) und dem Bauwesen (Beton) in die Darstellung einbezogen hätte, fehlt im Beitrag. Die Expertin und der FDP-Abgeordnete erhalten die Gelegenheit zu Statements, wo Fragen und Antworten sinnvoller gewesen wären. So besteht der Beitrag letztlich aus einer Kette von institutionellen Selbstdarstellungen ohne journalistische Akzente. Er wird durch den gesprochenen Text dominiert, die Videopassagen sind abgesehen von der Infografik illustrierendes Beiwerk ohne eigenes Gewicht und ohne Informationsgehalt.
Der zweite Beitrag vom 19. April bestätigt die beschriebene Grundstruktur und auch das Verfahren der Bebilderung. Das Textinsert am Beginn lautet: “Deutsche Sicherheitsbehörden. Wachsende Bedrohung durch Cyber-Attacken”. Hinter Thorsten Schröder zeigt ein Computer-Display bunt und mit künstlicher Unschärfe irgendeinen Programmcode. Angriffe prorussischer Akteure hätten zugenommen, habe der BKA-Präsident mitgeteilt. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik sieht die größte Gefahr in Ransomware-Attacken, bei denen die Täter Lösegeld fordern.
Bebildertes Radio
Im nun startenden Videobericht schwenkt die Kamera die klassizistische Fassade des Potsdamer Rathauses herunter. Vor einem halben Jahr warnten Sicherheitsbehörden die Stadtverwaltung vor einem Cyberangriff, daraufhin ging die Stadtverwaltung offline – im Bild nimmt eine Person einige Akten aus einem Hängeregister. Eine Sprecherin der Stadt sagt in einem Statement, dass sie der Angriff überrascht habe. Nun ist drei Sekunden lang ein mit sechs Männern besetztes Konferenzpodium im Potsdamer Hasso-Plattner-Institut im Bild, dann erfolgt ein Umschnitt zu einem Raum, in dem viele Personen in Reihen vor Computern sitzen. Es handelt sich um eine Nato-Übung in Estland, wie der Berichterstatter Markus Reher erklärt, während die Kamera kurz wieder Code auf einem Laptop zeigt. Die Zahl der Cyberangriffe sei seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine gestiegen.
Im Bild jetzt eine nicht erklärte Projektion aus dem Raum der Nato-Übung, offenbar ein Organigramm mit der Teamaufteilung der Übung. Nach zwei weiteren kurzen Blicken in den Übungsraum (viele Computer, das grüne Team leicht erkennbar, eine Teilnehmerin hat den Aufkleber “Think local, hack global” auf ihrem Laptop) erhält der Sprecher einer deutschen Arbeitsgruppe “Kritische Infrastrukturen” das Wort: Deutschland müsse sich bei der Abwehr von Cyberangriffen besser aufstellen und die verstreute Expertise bündeln. Noch einmal ist die Sicherheitsexpertin der Stadt Potsdam zu sehen, an einem Computer tippend und im Gespräch mit einem Kollegen: Nun ist Potsdam nach drei Monaten harter Arbeit wieder online.
Auch hier wird den Rezipienten bebildertes Radio geboten. Die im Bericht montierten Videoelemente erzählen nicht, zeigen auch nichts – telling und showing sind Kernelemente der dokumentarischen Videopraxis –, sondern laufen als pure Illustration neben dem gesprochenen Text her. Der Bericht insgesamt ist jedoch ansatzweise wie eine Erzählung aufgebaut. Die Rahmenhandlung bildet der Angriff auf die Potsdamer IT, die Nato-Übung erinnert an noch größere Bedrohungspotenziale, und der Experte deutet Rückstände in der Koordination der heimischen Kräfte an (wie sie auch vom Katastrophenschutz bekannt sind). Das Arrangement der Berichtsteile – die lahmgelegte digitale Infrastruktur der Stadt Potsdam, das Nato-Manöver und die Möglichkeit einer nationalen Bedrohungslage – wird mit der Andeutung verbunden, dass “russische Akteure” aktiver geworden seien. Ein substanzieller Beleg dafür wird jedoch nicht geliefert. Auch dieser Beitrag weist somit journalistische Defizite auf.
In den 78 gesichteten thematischen Elementen – 62 Beiträge und 16 Sprechernachrichten oder Nachrichten im Film – finden sich kaum Eigenrecherchen außerhalb von institutionellen Bezügen. Entsprechend taucht vor allem der Typus des Sprechers oder Akteurs einer Organisation im Beitrag auf. Bei Berichten über ein Kriegsgeschehen oder eine Katastrophe werden allerdings auch immer Opfer oder Betroffene ins Bild gerückt. In der Regel spricht dann eine Frau über das Unglück, das über ihre Familie und ihren Besitz gekommen ist. Diese Elemente wirken wie vorfabrizierte Videobausteine, auch wenn es sich um aktuelle Aufnahmen handelt. Ihre Herkunft bleibt jedoch häufig unklar, zumal ARD-Reporter oft nicht persönlich an den Schauplätzen präsent sind.
Sanft-autoritärer Tonfall
Die Sprechermeldung der “Tagesschau” ist eine Präsentationsform, die sich seit 1952 kaum verändert hat. Sprecherinnen und Sprecher haben sich vom Schreibtisch erhoben, stehen nun an einem Pult und schauen starr in den Teleprompter. Statt Ereignisse zu erklären oder die Berichtsfolge zu moderieren, verlesen sie Zusammenfassungen der redaktionell ausgewählten beziehungsweise als solche definierten Ereignisse. Der Tonfall ist sanft-autoritär und lässt keinen Zweifel darüber zu, dass es so und nicht anders in der Welt zugeht.
Mit dieser Form der Nachrichtenpräsentation hat das deutsche Fernsehen im internationalen Vergleich annähernd ein Alleinstellungsmerkmal. In der BBC und bei anderen nicht-kommerziellen Nachrichtensendern gibt es Präsentatoren, die schon allein aufgrund ihrer Körpersprache nicht als Autoritätsfiguren eingeordnet werden können. Sie sind überdies Mitglieder der Nachrichtenredaktion, also Journalisten. Diese Präsentatoren unterbreiten Gesprächsangebote (die Rezipienten dann in ihrer eigenen Umgebung aufgreifen können) und fungieren nicht als Verkünder unangreifbarer Wahrheiten.
Bei der “Tagesschau” wird journalistische Arbeit durch die Form der Verkündung unsichtbar gemacht. Andere journalistische Medien haben als Reaktion auf die Entwicklung der digitalen Kommunikation an ihrer Sichtbarkeit und Dialogfähigkeit gearbeitet. Doppelmoderationen in Nachrichtensendungen, auch die knappen Dialoge zwischen Presenter und Reporter (wie sie in etwas gestelzter Form auch in den “Tagesthemen” vorkommen) können Funken hervorbringen, die auf die Rezipienten überspringen und dort Gespräche auslösen. Die “Tagesschau”-Redaktion hingegen scheint Wert auf die Vermeidung des Dialogs zu legen. Die Sendung vermittelt den Eindruck einer Kurzandacht in der Wohnzimmerkapelle.
Die Autoren der auf die Sprecherpassagen folgenden Berichte bleiben oft völlig unsichtbar. In angelsächsischen Nachrichtensendungen werden Berichte, wo immer es möglich ist, als Reportagen gestaltet. Unter den 62 gesichteten “Tagesschau”-Beiträgen gibt es keine Reportagen oder Interviews. Stattdessen basieren sie auf verlesenen Texten, die durch Statements und andere eingefangene Äußerungen unterbrochen werden. Die Bildspur illustriert die gesprochenen Texte und hat keine eigene informative Funktion. Text-Bild-Scheren sind nicht selten.
Informationsrituale
Die Bildauswahl erfolgt oft aus dem Didaktik-Baukasten: Verkehr = Auto, Regierung = Minister plaudern miteinander, irgendeine Konferenz = Podium mit einer Reihe von Personen, Digitalisierung oder KI = buntes Codegeschwurbel auf einem Display. Die gesprochenen Beitragstexte strahlen die gleiche sanfte Sachautorität wie die Sprechermeldungen aus. Die Bildspur collagiert Videosequenzen mit bemüht assoziativen Bezügen zum Beitragstext. Die Berichterstatter bleiben als Autoren und Redakteure im Hintergrund und treten nicht als journalistische Akteure in Erscheinung, wie das sonst international in vielen Nachrichtensendungen gängig ist. Wie wirkt ein solches Konstrukt auf die Fernsehzuschauer?
Von den Themen und Losungen des Tages bleibt regelmäßig nicht viel haften. Wiederholt durchgeführte eigene Experimente mit studentischen Gruppen ergaben eine halbe Stunde nach der Präsentation einer “Tagesschau”-Aufzeichnung zutreffende Erinnerungen an etwa ein Drittel der Beiträge. Regelmäßig kamen Verwechslungen und sogar hinzuerfundene Ereignisse vor. Die heute gegenüber den Jahren um 2010 geringere Anzahl von Beiträgen und die höhere Redundanz innerhalb jedes einzelnen Beitrags mag die Erinnerungsquote etwas erhöhen. Die Gedächtnisforschung lehrt allerdings, dass die Erinnerung vor allem dann sprunghaft ansteigt, wenn sich Rezipienten aktiv, zum Beispiel durch eigene Gesprächsbeteiligung, neues Wissen aneignen.
Die gesichteten Nachrichten beziehen sich zu einem auffällig geringen Teil auf Ereignisse, die ganz allgemein auch als solche verstanden würden. Naturkatastrophen, Aufstände und Kriege, Erfolge im Klimaschutz und bei der Rettung natürlicher Ressourcen, Wahlen, Regierungsbildungen, folgenreiche politische Beschlüsse und dergleichen kommen offenbar nicht häufig genug vor, um damit eine Nachrichtensendung zu füllen. Es gibt stattdessen viele Berichte, die erst durch ihre aktive Auswahl und Konfiguration Ereignischarakter erhalten, wenn dieser auch vage bleibt.
Ein Beispiel ist der Bericht zum Beginn der G7-Außenministerkonferenz am 17. April mit diesen Videobildern: Fahrt eines US-Zerstörers durch die Straße von Taiwan, Außenminister lassen sich an einem Tisch fotografieren, einige Sekunden aus einem Redebeitrag des japanischen Außenministers an diesem Tisch, Außenminister stellen sich im Garten in Reihe auf, Stellungnahme von Ministerin Baerbock zum Krieg in der Ukraine, konferenzbedingte Straßensperre in Karuizawa, friedliches Gewässer dort in der Umgebung, blühende Kirschblütenzweige. Die im gesprochenen Text vermittelten Botschaften sind: China halte sich nicht an verbindliche internationale Regeln, Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine wird einhellig verurteilt. Den Abschluss bildet ein möglicherweise als “Einordnung” gedachter 13 Sekunden langer Aufsager des Korrespondenten Christian Feld: Für die Außenminister rückt nun China in den Mittelpunkt des Interesses.
Selbst auferlegter Formatzwang
Durch den selbst auferlegten Formatzwang werden letztlich alle Ereignisse nivelliert. Auch echte Katastrophen können durch die mit Stereotypen gesättigten Aufarbeitungen ihren Schrecken verlieren. Fraglich ist, ob standardisierte Berichte, die durch Reisen und Treffen von Politikern, durch Konferenzen, Messen und andere Veranstaltungen veranlasst werden, überhaupt eine Informationsqualität im strengen Sinne besitzen. Im Grunde liefern sie keine Neuigkeiten, sondern eher die Bestätigung der unermüdlichen Tätigkeit der ins Bild gerückten Akteure und damit der von ihnen vertretenen Institutionen. Sie vermitteln den Eindruck, dass die Welt nicht völlig in Unordnung sein kann, solange diese Rituale funktionieren.
Von dem Medienwissenschaftler Knut Hickethier war in den 90er Jahren zu lernen, dass das Publikum die Nachrichten nicht mit einer vormedialen Realität vergleicht. Es schaut nur auf die Mechanismen der Darstellung und schöpft Vertrauen, wenn diese ihm vertraut sind. Es geht nicht einmal darum, welche Nachrichten die Redaktion auswählt und zu Ereignissen erhebt. Es kommt ausschließlich darauf an, wie sie geformt sind und präsentiert werden.
Die “Tagesschau”-Berichte bilden eine stabile kulturelle Form, die für das Informationsbudget steht, das die Allgemeinheit zur Orientierung im politischen und kulturellen Alltag benötigt. Die Berichte arbeiten hochgradig mit Stereotypen und Redundanzen, sie zeigen Charaktere und Situationen, die dem Publikum vertraut sind. Auch wenn sie selten mit einer Lösung enden, sind sie Teilelemente einer charakteristischen Erzählform, einer prinzipiell auf Unendlichkeit angelegten Fernsehserie. In Serien schaffen zu viele überraschende Elemente Unsicherheit, wenn nicht gar Verstörung. Die eine Weile nach der Ausrufung der “Epochenwende” 2022 sich stärker zeigende Tendenz zur Nachrichtenvermeidung ist ein Signal dafür.