“Offenheit nach außen” – Dennis Horn schlägt ein Konzept für eine öffentlich-rechtliche Plattform vor.
29. April 2023
Eine für alle: Eine gemeinsame Mediathek wäre für ARD und ZDF eine Chance, ihre Inhalte “so zusammenzuführen, dass sie sich gegenseitig guttun”, schreibt Digitalexperte Dennis Horn bei epd Medien. Eine öffentlich-rechtliche “Diskursplattform” könnte zudem einen Raum schaffen, “in dem nicht die lautesten Kommentare gewinnen oder die sensationalistischsten Inhalte nach oben gespült werden”. Damit die Plattform Erfolg hat, sollten ARD und ZDF sie allerdings für andere Anbieter öffnen – und gleichzeitig ihre eigenen Inhalte anderen zur Verfügung stellen, meint Horn. turi2 veröffentlicht den Beitrag in der wöchentlichen Reihe Das Beste von epd Medien bei turi2.
Guter Inhalt allein reicht nicht. Spätestens seit ARD und ZDF reihenweise digitale Formate an den Start bringen, von Podcasts über Social-Media-Angebote bis zu Mediathek-first-Produktionen, hat sich diese Erkenntnis in vielen Redaktionen durchgesetzt: Einfach nur Inhalte ins Netz zu stellen und dann auf das Publikum zu warten, führt vor allem dazu, dass kein Publikum kommt. Zum Wandel in der Mediennutzung gehört, dass sich Menschen in Silos zurückziehen: in die Newsfeeds der sozialen Netzwerke, in die Kommunikation in Messengern – oder in die Suchmaschine als Ausgangspunkt für eine “Reise ins Netz”. Darunter leiden die Onlineangebote der Medienhäuser.
Erfolg oder Misserfolg
Der journalistische Schaffensprozess hat sich erweitert: Zu Themenfindung, Recherche und Produktion gesellt sich die Distribution. Die Arbeit daran, wie Nutzerinnen und Nutzer auf Formate stoßen und sich an sie binden lassen, ist in den Formatentwicklungsprozessen vieler Redaktionen heute elementar – denn sie entscheidet über Erfolg oder Misserfolg.
Was für einzelne Formate gilt, das gilt zunehmend auch für das gesamte Angebot: Wie kann ein starker öffentlich-rechtlicher Rundfunk im digitalen Raum aussehen? Was braucht er, damit er es mit den großen Plattformen aus dem Silicon Valley aufnehmen kann? Für die Medienpolitik ist die Sache klar: Sie fordert eine gemeinsame “Plattform” von ARD, ZDF und Deutschlandradio – und keinen Wildwuchs aus Mediatheken und Audiotheken, Social-Media-Angeboten, Apps und Websites.
Die Rundfunkkommission der Bundesländer hat die öffentlich-rechtlichen Sender im Januar ermahnt, die verschiedenen Mediatheken und Audiotheken zu einem Angebot zusammenzufassen – mit den Inhalten von ARD, ZDF und Deutschlandradio, aber auch der europäischen Perspektive von 3sat und Arte. Für die SPD-Politikerin Heike Raab, die Koordinatorin der Rundfunkkommission, scheint das auch der Weg zu sein, sich gegen die Konkurrenz der Streamingdienste durchzusetzen: “Wir haben bei den Öffentlich-Rechtlichen über 100 Apps identifiziert, das kann nicht die Lösung sein”, sagte Raab. Sie verwies auf Spotify oder Netflix, die ihre Inhalte auf einer “Plattform” bündeln.
Die ARD hat den Ball dankend aufgenommen. Der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke freute sich über den “Rückenwind” aus der Medienpolitik. Zu Recht fließt immer mehr Geld in die Mediatheken, immer häufiger werden Formate, Filme und Serien so produziert, dass sie zwar im Fernsehprogramm ausgestrahlt werden können – vor allem aber in der Mediathek gut laufen.
Im Dezember 2022 hatte Gniffke im “Spiegel” über die Weiterentwicklung der Mediatheken gesprochen. Darüber, “im besten Fall gemeinsam” mit dem ZDF eine Kommentarfunktion für die Mediathek zu schaffen – eine “Dialogplattform”, wie WDR-Intendant Tom Buhrow sie nannte. Noch in diesem Jahrzehnt wolle die ARD “der wichtigste Streaminganbieter in Deutschland werden”, sagte Gniffke dem epd (epd 8/23). Die ARD wolle “mehrere hundert Millionen Euro in die Entwicklung von Technologie investieren”, zunächst für den Aufbau einer “Streamingplattform” mit dem ZDF. Das Problem: Sowohl die Medienpolitik als auch die öffentlich-rechtlichen Entscheider sprechen über viele Dinge – aber was sie mit Plattform meinen, ist unklar.
Der Begriff der Plattform stammt aus der Informatik. Er bezeichnet eine einheitliche technologische Grundlage, auf der dann zum Beispiel die Programme laufen, die wir nutzen. Typische Plattformen sind Betriebssysteme wie Android oder iOS. Sie bilden die Grundlage für alles, was an Software auf unseren Smartphones läuft. Plattformen sind aber auch digitale Marktplätze, die eine Infrastruktur für Angebot und Nachfrage bieten, wie Amazon. Und auch die großen sozialen Netzwerke gehören zu den Plattformen – weil auf ihrer Grundlage Inhalte-Anbieter und Nutzerschaft zusammenkommen. Viele Plattformen zeichnen sich heute aber noch durch ein weiteres Merkmal aus: Sie haben sich zu Ökosystemen entwickelt, die es verstehen, die Nutzer so zu binden, dass sie die Mühe scheuen, die Plattform zu verlassen.
Beispiele für solche Ökosysteme gibt es zuhauf. Wer ein iPhone besitzt, nutzt eher die Apple Watch. Wer die Apps von Google nutzt, greift eher auf andere Apps von Google als auf die der Konkurrenz zurück. Und wer Spotify nutzt, bleibt dem Dienst den Tag über treu – am Bluetooth-Lautsprecher im Bad, am Smartphone unterwegs und am Computer auf der Arbeit. Der digitale Markt ist geprägt von Plattformen und Ökosystemen. Wer auf diesem Markt bestehen möchte, muss sich Gedanken darüber machen, wie er diese Plattformen und Ökosysteme für sich nutzen kann oder selbst zu einem Ökosystem wird.
Stolz auf die Mediatheken
In der öffentlichen Debatte sind, wenn von “Plattformen” die Rede ist, häufig Streamingdienste gemeint (wenn die Medienpolitik spricht) oder die hauseigenen Mediatheken (wenn die Rundfunkanstalten sprechen). ARD und ZDF sind in ihrem Selbstverständnis als Fernsehsender mit ihren Mediatheken einen weiten Weg gegangen. Als im November 2022 die ARD/ZDF Onlinestudie erschien, betonten die Anstalten stolz, dass ihre Mediatheken von mehr als der Hälfte der Deutschen genutzt werden – auch wenn unterging, dass andere Streamingdienste schneller wachsen und in der regelmäßigen täglichen und wöchentlichen Nutzung deutlich vor den Mediatheken liegen (epd 46/22).
Die Bundesländer wiederum dürfte es mit Stolz erfüllen, dass sie Weitsicht bewiesen haben, als sie 2014 ein rein digitales Jugendangebot beauftragten. Der frühere SWR-Intendant Peter Boudgoust irrte sich, als er damals sagte, ohne eine Verbindung zu Fernsehen und Hörfunk werde es “schwer, das Jugendangebot zum Fliegen zu bringen” (epd 43/14). Funk wurde, befreit von allen Lasten des linearen Programms, zur Erfolgsgeschichte. Ähnlich weitsichtig könnte es sein, eine öffentlich rechtliche Plattform ins Leben zu rufen – wenn am Ende mehr daraus wird als nur eine aufgebohrte Mediathek.
Als der ARD-Vorsitzende Gniffke im März an der Evangelischen Akademie Tutzing über die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sprach, ließ er durchblicken, welche Dimension diese Idee annehmen könnte. Eine Streamingplattform mit dem ZDF könnte der Nukleus für “etwas noch viel Größeres” sein, sagte Gniffke: “Ein Marktplatz für alle deutschen Medien. Dabei geht es darum, eine Medieninfrastruktur zu schaffen, die die Chance hat, die Macht der Social Networks und der großen Plattformbetreiber zu brechen.”
Ein Ort, an dem Nutzer sich aufhalten
Ein Beispiel dafür, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk von seinem Onlineangebot bis zu einer solchen Plattform noch einen Weg vor sich hat, ist die ARD Audiothek. Sie wirbt damit, dass sie die “besten Podcasts und Audio-Geheimtipps” biete, und verspricht ihren Nutzern, “was Sie wollen, wann Sie wollen”. Laut der Beschreibung der ARD im App-Store gibt es in der Audiothek “immer etwas, das Sie interessiert”. Dieses Versprechen gilt so lange, bis man als Nutzer einen Podcast sucht, der nicht von ARD oder Deutschlandradio stammt. Denn die Audiothek enthält zwar öffentlich-rechtliche Produktionen, aber anderen Anbietern steht sie nicht offen.
Für ein Podcast-affines Publikum ist sie damit kein gutes Angebot. Nur ein Teil der Nutzer dürfte daran interessiert sein, ausschließlich Inhalte von ARD und Deutschlandradio abzurufen. Wer regelmäßig Podcasts hört, greift eher auf Apps zurück, in denen sämtliche Inhalte bereitstehen – auch die öffentlich-rechtlichen. Würde die ARD aus der Audiothek eine Podcast-App machen, könnte sie eine Plattform schaffen. Diese App wäre ein Ort, an dem Nutzer sich aufhalten, auch wenn sie über den öffentlich-rechtlichen Tellerrand hinausblicken möchten. Sie böte die Chance, dass Nutzer Routinen um eine ARD-App herum entwickeln. Und ein zusätzliches exklusives Angebot wäre sogar ein Grund, dauerhaft in die App zu wechseln.
Wie könnte ein solcher Weg für die Mediatheken aus sehen? Wie könnte der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine Plattform schaffen, die mit den großen Ökosystemen mithalten kann? Welche technologischen Grundlagen bräuchte es? Welche Entscheidungen müsste man dafür treffen? Das sind die Fragen, vor denen der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht – und die über eine eindimensionale Betrachtung der Mediatheken als Streamingdienste weit hinausgehen. Tatsächlich könnte die “Diskursplattform”, von der Buhrow und Gniffke im Dezember 2022 sprachen, ein Bauteil sein – wenn es nicht bei einem öffentlich-rechtlichen Facebook bleibt, für das ARD und ZDF die Inhalte ihrer Mediatheken einfach mit Kommentarfunktion ausstatten.
Das Jugendangebot Funk bricht schon heute immer wie der das Sender-Empfänger-Prinzip auf und entwickelt seine Social-Media-Formate gemeinsam mit den Communitys weiter. Angehängt an die Talkshows oder andere journalistische Inhalte hätte der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Möglichkeit, zusammen mit seiner Nutzerschaft eine andere politische und gesellschaftliche Debatte zu entwickeln.
Eine öffentlich-rechtliche Plattform könnte sich auch darüber hinaus von den großen sozialen Netzwerken absetzen. Sie könnte die Personalisierung und den Einsatz von Algorithmen außerhalb klassischer Marktmechaniken umsetzen und einen Raum schaffen, in dem nicht die lautesten Kommentare gewinnen oder die sensationalistischsten Inhalte nach oben gespült werden.
Digitale Strategien
Eine gemeinsame Plattform wäre auch die Chance, die Vielzahl digitaler öffentlich-rechtlicher Angebote so zusammenzuführen, dass sie sich gegenseitig guttun. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk betreibt zwar Funk, aber eine Strategie, wie man die Nutzer (und Macher) bei ARD und ZDF hält, wenn sie aus der Zielgruppe hinauswachsen, ist bisher nicht erkennbar.
Einzelne Anstalten beginnen zwar damit, zum Beispiel in Podcasts andere digitale Formate aus dem eigenen Haus zu bewerben, aber eine Strategie, das schlagkräftig auf ARD-Ebene umzusetzen, ist bisher nicht erkennbar. Die Redaktionen von ARD und ZDF stellen eine Menge digitaler Inhalte online, aber auch hier ist keine Strategie erkennbar, wie daraus ein im großen Maßstab konkurrenzfähiges Angebot werden könnte. Auch die Offenheit nach außen könnte ein Baustein für eine öffentlich-rechtliche Plattform sein. Da wäre zum einen die Offenheit für Inhalte anderer Anbieter – wie im schon skizzierten Szenario für die ARD-Audiothek. So etwas könnte Gniffke gemeint haben, als er vom “Marktplatz für alle deutschen Medien” sprach.
Einen solchen Weg möchte der Österreichische Rundfunk (ORF) mit seinem Streamingdienst ORF Sound gehen. Zum Start im August 2022 kündigte Generaldirektor Roland Weißmann an, der ORF wolle sich vom klassischen Sender zur “multimedialen Public Service Platform” wandeln. ORF Sound sei ein Beispiel für die Kooperationsmöglichkeiten mit der privaten Konkurrenz, die – sobald die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen seien – ebenfalls über die Plattform zu empfangen sein soll. Bleibt die Frage der Offenheit gegenüber existierenden Plattformen. Mit dem Fediverse gibt es eine technologische Grundlage für soziale Netzwerke oder andere Onlinedienste, die untereinander kommunizieren können. Zusammen bilden sie ein Ökosystem als Gegenmodell zu den kommerziell betriebenen Plattformen.
Bekannt geworden ist das Fediverse vor allem durch Mastodon, eine nicht-kommerzielle Twitter-Alternative, zu der viele Nutzer nach der Übernahme durch Elon Musk wechselten. Tatsächlich könnte es ein interessanter strategischer Schachzug sein, sich mit einer öffentlich-rechtlichen Plattform dem Fediverse anzuschließen. Der nicht-kommerzielle Ansatz passt bestens zu ARD und ZDF. Es wartet eine Plattformwelt, die sich noch gestalten lässt und auf die schon Onlinedienste aus den USA aufmerksam werden. Und ein paar (sehr engagierte) Nutzer wären auch schon dort.
Kein Rückzugsort
Klar ist, dass ARD und ZDF nicht in kurzer Zeit aufholen können, wofür Google, Meta oder Netflix seit vielen Jahren große Teams an Entwicklern einsetzen. Es ist unmöglich und auch nicht sinnvoll, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in einen Techkonzern nach Silicon Valley-Vorbild zu verwandeln. Aber alle diese Ideen könnten Bausteine für eine Plattform sein, sie zeigen den Weg auf: ARD und ZDF müssen an ihrem Selbstverständnis arbeiten. Weg vom klassischen Medienhaus, das mit Erfolg rechnet, wenn der Inhalt gut genug ist, hin zum technologieorientierten Medienunternehmen.
Es wäre aber falsch, allein auf eine öffentlich-rechtliche Plattform hinzuarbeiten. Sie dürfte vor allem nicht zu einem Rückzugsort für ARD und ZDF werden, wenn die sich nicht mehr den Spielregeln der Techkonzerne beugen möchten. Sie darf nicht der einzige Ort sein, an dem Menschen mit öffentlich-rechtlichen Inhalten in Kontakt kommen. Ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft – vor allem Menschen, die jeder Form von Staatsnähe kritisch gegenüberstehen – würde eine solche Plattform von ARD und ZDF nicht nutzen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk aber hat den Auftrag, die gesamte Gesellschaft zu erreichen.
Der Medienstaatsvertrag hat darauf schon eine Antwort: ARD, ZDF und Deutschlandradio können sich “zur Erreichung der Zielgruppe aus journalistisch-redaktionellen Gründen” dafür entscheiden, dass sie “Telemedien auch außerhalb des dafür jeweils eingerichteten eigenen Portals anbieten” – ihre Inhalte also auf schon bestehenden Plattformen verbreiten. Es ist sinnvoll, auch diesen Weg weiter zu verfolgen – und sich zugleich um eine eigene starke Plattform zu bemühen.