Rigider Telepopulismus: Victor Henle über Krawall-Talk im französischen Fernsehen.
4. Februar 2023
Hart, aber unfair: Die Talksendung Touche pas à mon poste im Unterhaltungskanal C8 gehört zu den umstrittensten Formaten im französischen Fernsehen. Der Moderator Cyril Hanouna steht in dem Ruf, sich gern homophob und rassistisch zu verhalten. Mit verbalen Ausfällen ruft er immer wieder die Medienaufsicht und auch Strafgerichte auf den Plan. Dennoch sitzt Hanouna bei C8 fest im Sattel, schreibt Victor Henle (rechts im Bild) bei epd Medien. Der Sender ist Teil der Canal-Plus-Gruppe, die wiederum zum Medienriesen Vivendi gehört. Und dessen größter Aktionär Vincent Bolloré liege mit Hanouna weltanschaulich auf einer Wellenlänge. turi2 veröffentlicht den Beitrag in der wöchentlichen Reihe Das Beste von epd Medien bei turi2.
Mit seinen 22 Jahren ist Louis Boyard der jüngste Abgeordnete der französischen Nationalversammlung, die im vergangenen Jahr neu gewählt wurde. Er war Aktivist in der Schüler- und Studentenbewegung und der Gelbwesten, die Frankreich in eine große Krise stürzten. Die linke bis linksextreme Partei La France insoumise (LFI) stellte ihn in einem Wahlkreis eines Pariser Vorstadtdepartements auf, wo er auf Anhieb direkt gewählt wurde.
Am 10. November 2022 war Boyard in eine der bekanntesten und umstrittensten Sendungen des französischen Fernsehens eingeladen, in Touche pas à mon poste des Unterhaltungssenders C8 (im abkürzungsverliebten Frankreich nur “TPMP” genannt). Der Titel ist eine wortspielerische Umwandlung des Slogans “Touche pas à mon pote” (“Rühr meinen Kumpel nicht an”) der Bewegung “SOS Racisme” und könnte bedeuten: “Rühr meinen Sender nicht an”. Thema war die bevorstehende Ankunft von 234 Flüchtlingen auf dem norwegischen Rettungsschiff “Ocean Viking” im Hafen von Toulon, der die französische Regierung zugestimmt hatte.
In der Debatte kam Boyard auf die Ursachen der Migration aus Afrika zu sprechen. Seine Ausführung begann er mit dem Hinweis, die fünf reichsten Personen Frankreichs seien dieselben, die Frankreich und Afrika verarmten. Als Beispiel nannte er den Milliardär Vincent Bolloré, dessen Unternehmen Kamerun entwaldeten. Da platzte Cyril Hanouna, dem berüchtigten Moderator der Sendung, der Kragen. “Du weißt schon, dass du hier in einem Sender der Gruppe Canal Plus bist”, entgegnete er. “Was machst du hier, verpiss dich!”
C8 ist Teil der Canal-Plus-Gruppe, die ihrerseits zu dem national und international agierenden Medienkonzern Vivendi gehört, dessen größter Aktionär Bolloré ist. Dann schleuderte Hanouna dem verdutzten Boyard einige weitere Invektiven aus dem Arsenal der deftigsten französischen Schimpfwörter entgegen, die in den Worten kulminierten: “Halt’s Maul, du bist nur Scheiße.” Boyard versuchte sich noch zu rechtfertigen, verließ dann aber das Studio, begleitet von kräftigen Buhrufen und Missfallensäußerungen. Dieser Vorgang löste in Publizistik, Politik und Wissenschaft einen Sturm der Entrüstung aus. Er zeigt exemplarisch das dahinterstehende System – festmachen lässt es sich am Gast Boyard, am absolut nicht moderaten Moderator Hanouna und am Sendereigentümer Bolloré.
Louis Boyard ist nicht nur Opfer, er war auch Täter. Die französischen Talkshows – und eine solche ist “TPMP” – haben eine Besonderheit, die in Deutschland unbekannt ist. Neben dem Moderator, den Gästen und dem Publikum gibt es “Chroniqueure”, eine Rolle, die mit Berichterstatter nur unzureichend übersetzt ist. Als Dauereingeladene sind sie über einen längeren Zeitraum in der Sendung präsent. Der Moderator befragt sie zu einzelnen Themen oder bittet sie um ihre Meinung. Sie müssen keine Experten sein. Bei “TPMP” reicht jedenfalls eine gewisse Bekanntheit aus – und der Wille, sich im Interesse von Hanouna zu verhalten.
Ein solcher bezahlter Berichterstatter war Boyard einige Monate bei “TPMP”. Das reizte den Moderator Hanouna zu dem Vorwurf, er kritisiere Bolloré, störe sich gleichzeitig aber nicht daran, von ihm Geld genommen zu haben. In einer Sendung bekannte Boyard, schon mal Drogenhändler gewesen zu sein, was er mit dem Hinweis rechtfertigte, damit sein Jurastudium zu finanzieren. Bei der Eröffnung der 2022 neugewählten Nationalversammlung verweigerte er in seiner Rolle als einer der Sekretäre der Eröffnungszeremonie medienwirksam, einem Vertreter der rechtsextremen Partei Rassemblement National die Hand zu geben. Nachher stellte sich heraus, dass er diese Hände zuvor schon mehrmals geschüttelt hatte.
Cyril Hanouna (48) verkörpert in diesem Medienreigen die schillerndste Person. Der Sohn jüdisch-tunesischer Eltern, die 1969 nach Frankreich einwanderten, begann seine Medienkarriere schon mit 18 Jahren. Seither ist er eine Art medialer Tausendsassa, der im öffentlichen wie im privaten Fernsehen und in einem halben Dutzend Radios auf Sendung war. Das Zentrum seines medialen Wirkens ist jedoch seit mehr als zehn Jahren seine Sendung “Touche pas à mon poste”, die er 2010 bei France 4 aus der Taufe hob. Zwei Jahre danach wechselte er zu dem kleinen Privatsender D8, der gerade vorher von Canal Plus aufgekauft worden war und später in C8 umbenannt wurde. Den Sendungstitel nahm er mit, weil France 4 es versäumt hatte, sich das Titelrecht zu sichern.
Obwohl C8 mit einem Marktanteil um die drei Prozent zu den zahlreichen französischen Kleinsendern gehört, ist sein Bekanntheitsgrad durch “TPMP” sehr hoch. Bei besonders skandalträchtigen Sendungen zu Vorgängen, die die Öffentlichkeit sehr bewegen, steigt der Marktanteil überproportional. Im Jahr 2016, als bei der Medienaufsicht 6.711 Beschwerden gegen “TPMP”-Sendungen eingingen, erreichte eine Ausgabe mit zwei Millionen Zuschauern einen Marktanteil von 8,8 Prozent. Der Höhepunkt wurde im Oktober 2022 erreicht: Nach der Ankündigung einer Sendung über die grausame Ermordung eines zwölfjährigen Mädchens sahen 2,3 Millionen Zuschauer zu (Marktanteil: 9,2 Prozent).
Hanouna wurde bereits strafrechtlich sanktioniert. Wegen Diffamierung einer Person, der er in “TPMP” sexuelle Beziehungen zu einem Callgirl vorgeworfen hatte, verurteilte ihn ein Pariser Gericht zu einer Strafe von 500 Euro sowie zu 2.000 Euro Schmerzensgeld und 2.000 Euro für die Anwaltskosten.
Auch seine medienrechtliche Sanktionsliste weist einen guten Füllstand auf. In einer gestellten Szene im Stil der “versteckten Kamera” nahm Hanouna einen seiner Berichterstatter (Chroniqueur) zu Verhandlungen mit einem amerikanischen Produzenten mit. Als dieser nach einer körperlichen Auseinandersetzung mit Hanouna scheinbar ohnmächtig zu Boden fiel, zwang er den Berichterstatter, die Schuld an diesem Vorfall auf sich zu nehmen. Diese Zumutung und der Zustand des Produzenten wühlten den Berichterstatter, der erst am nächsten Tag aufgeklärt wurde, stark auf. Die Medienaufsicht CSA subsumierte dieses Verhalten unter Verletzung der Würde des Berichterstatters und untersagte C8 für eine Woche jede Werbung in “TPMP” sowie eine Viertelstunde vor und nach der Sendung.
Allerdings hob das von C8 angerufenen oberste Verwaltungsgericht Conseil d’Etat diesen Bescheid auf, weil die Menschenwürde nicht verletzt sei, zumal sich der Betroffene mit der Verbreitung des Films einverstanden erklärt hatte. In einem weiteren Fall, in dem die Medienaufsicht dieselbe Sanktion verhängte, stand ihr der Conseil d’Etat zur Seite. Hanouna hatte eine Berichterstatterin aufgefordert, mit verbundenen Augen seine Körperteile zu berühren und zu identifizieren. Nach Brust und Arm führte er ihre Hände zwischen seine Beine, worauf sie entsetzt aufschrie. Der Entscheidung des Conseil d’Etat merkt man die Verärgerung an, dass sich dieser Verstoß gerade einen Monat nach dem vorherigen Fall ereignete.
Bei Sanktionen von Verstößen in “TPMP”-Sendungen verhält sich die französische Medienaufsicht nicht gerade zurückhaltend. Das Sendeunternehmen C8 schlägt wiederum gern zurück und erhebt auch mal Schadenersatzforderungen. Weil der Conseil d’Etat im Falle der versteckten Kamera den Bescheid der Medienaufsicht aufgehoben hatte, verlangte C8 Schadenersatz in Höhe von 9,5 Millionen Euro wegen ausgefallener Werbeeinnahmen und des angeblichen Rufschadens gegenüber den Werbekunden. Damit fand der Sender teilweise Gehör: Die geforderte Summe hielt das Gericht nicht für gerechtfertigt, verurteilte den CSA jedoch zu einem Schadenersatz von 1,1 Millionen Euro. Im CSA löste das große Betroffenheit und in der Öffentlichkeit ein großes Echo aus.
Ohne Rückendeckung von Vincent Bolloré wäre Hanouna längst nicht mehr Moderator von “TPMP” und anderer Sendungen. Beide sind in Frankreich hoch umstritten. Hanouna wird vorgeworfen, sich gerne megaloman, diffamierend, homophob, sexistisch und rassistisch zu positionieren. In seinen Sendungen mache er viele zu Opfern und gebe Rechtsextremisten und Klima- und Coronaleugnern viel Raum, lautet eine Kritik. Im Oktober 2022 forderte Hanouna in einer Sendung über die bereits erwähnte Ermordung des zwölfjährigen Mädchens, mit der verdächtigten Täterin kurzen Prozess zu machen. Es lägen genügend Beweise vor, sie sofort innerhalb weniger Stunden auf ewig hinter Gitter zu bringen. Die Medienaufsicht rügte das Verhalten, und der Justizminister wies den Moderator öffentlich zurecht. Es sei unverantwortlich, im Interesse hoher Reichweiten den Rechtsstaat zu untergraben.
Bezeichnend ist eine Untersuchung des Historikers Stéphane Encel, der zu dem Schluss kommt, Hanouna sehe sich als Wortführer des Volkes, das ihn jeden Abend mit weit mehr Stimmen wähle als Abgeordnete der Nationalversammlung. So glaube er, sich außerhalb jeder Norm bewegen und zu der Auffassung gelangen zu können, im Namen des Volkes zu sprechen. Das Nachrichtenmagazin “L’Obs” befasste sich in einer umfangreichen Titelgeschichte mit dem System Hanouna und der von diesem Telepopulismus schleichend ausgehenden Gefahr für die Demokratie.
Dennoch hält das Politiker nicht ab, Gast bei “TPMP” zu sein. Jean-Luc Mélenchon, Parteichef des aus dem Studio geworfenen Louis Boyard, trat darin schon häufiger mit dem Ziel auf, die junge und ungebildete Wählerschicht zu erreichen. Ins Studio kamen aber auch die rechtsextreme Marine Le Pen, die derzeitige Ministerpräsidentin Élisabeth Borne und Abgeordnete der Partei von Staatspräsident Macron.
Bolloré steht unbeirrt hinter C8 und Hanouna. Als Mehrheitsaktionär von Vivendi, eines Konzerns mit einer fast unübersehbaren Zahl von Unternehmen in den Bereichen Fernsehen, Radio, Kino, Bücher, Zeitschriften und Werbung, übt er einen erheblichen Einfluss auf Gesellschaft und Politik aus. Neben diesem Medienzweig existiert der in der Groupe Bolloré zusammengefasste, weitgespannte Industriezweig mit vielfältigen, häufig umstrittenen und von Korruption begleiteten Aktivitäten, insbesondere in Afrika.
Der Unternehmer wird als ultrakonservativ und rechtslastig charakterisiert. Für diese Haltung steht Bolloré auch der Nachrichtensender CNews zur Verfügung, in dem er Éric Zemmour, den rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten, groß werden ließ. 2021 verhängte die Medienaufsicht gegen Zemmour ein Bußgeld von 200.000 Euro wegen diffamierender Äußerungen in CNews. Diese Linie setzte Anfang Januar der bekannte Journalist Jean-Claude Dassier im selben Sender fort: Den Muslimen warf er vor, sie kümmerten sich “einen Dreck um die Republik”, sie wüssten nicht einmal, was dieses Wort bedeute. Ein aufsichtliches Verfahren läuft. So verbindet Bolloré und Hanouna dieselbe Geisteshaltung, die in der Sendung am 10. November zu dem Eklat mit Louis Boyard führten.
In der Sendung des nächsten Tages rechtfertigte Hanouna sein eruptives Verhalten mit dem Hinweis, Bolloré sei nicht sein Patron (Arbeitgeber), sondern sein Freund – ein Freund seit 20 Jahren, den er immer verteidigen werde. Dieser Freund gab ihm 2015 für seine Sendung 250 Millionen Euro auf fünf Jahre verteilt, als Hanouna die Absicht hatte, zu Frankreichs größtem TV-Sender TF1 zu wechseln. Und schon 2012 wurde Bollorés Sohn Yannick Teilhaber seiner Produktionsgesellschaft H2O. Deshalb werde er nicht in die Hand spucken, die ihn ernährt, twitterte Hanouna.
Mit dieser für einen Journalisten vernichtenden Loyalität steht er im eklatanten Widerspruch zu seiner eigenen Devise. In seinem Buch “Was mir die Franzosen gesagt haben” bezeichnet Hanouna seine Sendung als Raum der Freiheit, in dem die Leute sagen könnten, was sie wollen, ohne gesteinigt zu werden, sobald sie aus dem Kreis der Vernunft oder aus üblichen Denkweisen ausbrechen. Wenn es aber um die nährende Hand des Sendereigentümers geht, hat diese Freiheit offenbar schnell ihre Grenzen. Deshalb hieße die Sendung “Touche pas à mon poste” besser “Touche pas à mon patron”.