Zusammenbruch der Information: Irina Chevtaeva erklärt Russlands Entlastungspropaganda.
5. März 2022
Russisches Framing: Russland inszeniert den Krieg in der Ukraine als alternativlos und “Rache für die Vergangenheit”, beobachtet Irina Chevtaeva bei epd Medien. “Politologen und Soziologen, die sich auf Russland spezialisiert haben, sehen jetzt aus wie Menschen, die bis zum 24. Februar den Elefanten im Raum nicht bemerkt haben.” Grund dafür sei, dass die Vorzeichen des Krieges von der Propaganda ins Lächerliche gezogen wurden, urteilt die frühere Moskau-Korrespondentin. turi2 publiziert den Text in Kooperation mit epd Medien in der neuen, wöchentlichen Reihe Das Beste von epd Medien bei turi2. (Foto: Privat)
“Uns wurde keine Chance gelassen, etwas anderes zu tun.” Das stand auf einem Plakat mit einem Porträt des russischen Präsidenten Wladimir Putin, aufgehängt am Tag nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine in St. Petersburg. Das Banner wurde schnell entfernt, aber die Idee, die es transportiert, ist sehr wichtig für die Propagandakampagne in Russland. Die These wird zwar durch nichts bestätigt, aber sie soll der russischen Führung die Schuld und Verantwortung für den Krieg abnehmen. Was nicht gelingen kann.
Politologen und Soziologen, die sich auf Russland spezialisiert haben, sehen jetzt aus wie Menschen, die bis zum 24. Februar den Elefanten im Raum nicht bemerkt haben. Eine Ursache dafür ist, dass die westlichen Medien zwar seit Ende 2021 über die Drohung einer russischen Invasion und den Aufbau von Truppen an der Grenze sprachen, diese Äußerungen aber in Russland einfach ins Lächerliche gezogen wurden. Ein TikTok-Video mit der Sprecherin des Außenminis- teriums, Marija Sacharowa, ging viral, als sie zu spät zu einem Briefing kam und sagte: “Ich habe geklärt, ob wir einmarschieren oder nicht einmarschieren, also marschieren wir nicht ein.”
Putins Pressesprecher Dmitri Peskow versicherte: “Russland, das so viele Kriege überstanden hat, ist das letzte Land in Europa, das das Wort ‘Krieg’ überhaupt aussprechen will.” Sacharowa wurde Lügen gestraft, aber Peskow hat schon recht. Die russische Propaganda nennt das, was in der Ukraine passiert, immer noch keinen Krieg; sie verbietet das sogar. Die Medien dürfen keine Wörter wie “Angriff” und “Invasion” verwenden. Die Aufsichtsbehörde Roskomnadzor hat bereits zehn unabhängige russische Medien unter Androhung einer Sperrung aufgefordert, “ungenaue Informationen” zu entfernen.
Mehrere Medien wurden schon gesperrt, darunter die Fernsehsender Doschd und Current Time TV (ein Projekt von Radio Liberty) sowie der Radiosender Echo Moskaus. Auch das Studentenmagazin “Doxa” fiel in Ungnade, weil es Anweisungen dazu publiziert hatte, wie man mit Verwandten und Kollegen über den Krieg diskutiert, wenn sie die von der Propaganda auferlegten Argumente verwenden. Da wären zum Beispiel: “Die russische Armee greift nur militärische Einrichtungen an.” Oder: “Die Einwohner von Donbass hatten all diese acht Jahre Angst, und der Rest der Ukrainer hat nicht an sie gedacht.” Der Krieg wird im russischen Staatsfernsehen als Rache für die Vergangenheit dargestellt. Doch momentan gibt es keine Aufnahmen, wie die “Befreier” von dem angeblichen “Genozid” in der Ukraine freudig empfangen werden. Dafür kursieren viele Videos in sozialen Netzwerken, in denen ukrainische Zivilisten schreien, dass die russischen Soldaten abhauen sollen.
Es gibt viele Informationen über den Krieg und wenig Daten, die man gut überprüfen kann. Die Unterschiede in den Ansätzen Russlands und der Ukraine sind trotzdem zu erkennen. Russland räumte erst einige Tage nach Kriegsbeginn ein, dass es Verluste gab; welche genau, werden wir vielleicht nie erfahren. Die Ukraine hat eine spezielle Website für Angehörige von getöteten oder gefangenen Russen eingerichtet. In Russland wurde diese bereits blockiert.
Viele Menschen wollen sich immer noch einen Überblick über die Fakten verschaffen und sich sogar äußern, obwohl dies immer gefährlicher wird. Tausende Russen in Dutzenden von Städten im ganzen Land protestieren gegen den Krieg, Sammelbriefe an Putin mit dem Aufruf, ihn zu stoppen, werden von Vertretern verschiedener Berufe geschrieben, von Psychologen bis zu Programmierern. Sie haben zwar noch die Möglichkeit, Informationen zu erhalten und darüber zu sprechen, aber es ist klar, dass dieser Raum zusammenbricht. Die russische Propaganda redet praktisch nicht über die Zukunft – vielleicht, weil sie sich diese selbst nicht mehr vorstellt.