“Es ist erlaubt, Trash-TV zu mögen.” – Kai-Oliver Derks und Alexander Büttner über Fernsehkritik, die das Publikum ernst nimmt.
5. Oktober 2023
Sie lieben das Fernsehen: “Es ist Unsinn, einmal pro Woche textlich mit dem ‘Sommerhaus der Stars’ abzurechnen und wieder mal das Ende der Fernsehkultur heraufzubeschwören”, sagt Kai-Oliver Derks (rechts im Bild), Chefredakteur der Unterhaltungs-Nachrichtenagentur Teleschau, im turi2-Interview für die Screen-Wochen. Auch bei fiktionalen Programmen “sollte sich ein TV-Kritiker schon lange nicht mehr als Besserwisser geben”. Als Mediendienstleister beliefert Teleschau auch gedruckte Programm-Zeitschriften von Klambt sowie die TV-Beilagen von “Süddeutscher Zeitung” und “stern” mit Inhalten und Programm-Listings. Für Geschäftsführer Alexander Büttner (links) keinesfalls ein Geschäft von vorgestern: “Es gibt Millionen von Zuschauerinnen und Zuschauern, die werden sich in ihrem Leben nie und nimmer im Internet oder an ihrem Smartphone über ihr Fernsehprogramm informieren. Das mag die Jugend nicht verstehen, aber es ist so.”
Ihr seid eine Nachrichtenagentur mit dem Schwerpunkt Unterhaltung und Fernsehen. Schon oft wurde das Fernsehen für tot erklärt. Betrachtet Ihr ein sterbendes Medium?
Derks: Wenn dem so sein sollte, tun wir das im Grunde schon seit Jahrzehnten. Ich erinnere mich, dass schon zu Beginn meiner Tätigkeit hier Mitte der 1990er-Jahre die Zukunft des Fernsehens eher düster gesehen wurde. Und heute ist es immer noch da. Also ja, womöglich stirbt lineares Fernsehen. Aber sehr, sehr langsam. Zum Glück.
Ihr seid seit 55 Jahren im Geschäft. Was hat sich in der Berichterstattung über das Fernsehen seitdem verändert?
Derks: Es gibt ein paar wenige Dinge, die sich gar nicht so sehr unterscheiden. 1968 haben wir unseren Leserinnen und Lesern verraten, ob sich ein vom Sender hochgelobter TV-Film unserer Meinung nach wirklich lohnte oder nicht. Und heute tun wir das immer noch. Darüber hinaus verlangt unsere in den Jahren sich stetig verändernde Kundenstruktur neue Präferenzen.
Büttner: Nachdem die Mehrheit unserer Kunden unsere Angebote fürs Netz und nicht für Print nutzt, hat das auch gravierende Auswirkungen auf unsere Erlösmodelle, die sich nicht mehr nur aufs Abonnement unserer Dienste beschränken. Das heißt, wir werden in Teilen im Grunde nach Klicks bezahlt. Das verändert mitunter auch das Themenangebot.
Derks: Leider tut es das, muss ich da in meiner Funktion als Chefredakteur hinzufügen. Viele großartige Sendungen, die womöglich bei kleineren Sendern versteckt sind, erhalten von uns heute nicht mehr die Aufmerksamkeit wie früher. Auch die Berichterstattung über Medienpolitik nimmt bei uns nicht mehr den Raum ein.
Wie hat sich das Genre Film/Fernsehkritik entwickelt?
Derks: Wir halten in vielen Bereichen am Wesen der Kritik fest, passen uns aber sowohl bei der Themenauswahl als auch bei den textlichen Schwerpunkten den modernen Anforderungen an. Bei fiktionalen Programmen sollte sich ein TV-Kritiker im Übrigen schon lange nicht mehr als Besserwisser geben. Die Leserinnen und Leser haben womöglich, dank des riesigen Angebots, unzählige Serien und Filme selbst gesehen und tauschen sich im Netz darüber aus. Sie wissen selbst, was sie gut finden und was nicht. Wir wollen Hintergründe bieten und den Blick auch immer wieder auf die übergreifenden Themen richten. Etwa auf den Zeitgeist, der sich in fiktionalen Produktionen widerspiegelt. Und wir sind gehalten, einen Rosamunde-Pilcher-Film eben als das zu sehen, was er ist und auch so zu beurteilen.
Was bedeutet das alles für Eure Arbeit?
Büttner: Man kann es so deutlich sagen: Mit der klassischen Film- und Fernsehkritik alleine ließe sich ein Unternehmen wie das unsere nicht mehr finanzieren. Daher haben wir neben unserer Nachrichtenagentur, die natürlich auch dieses Genre weiter bedient, weitere Säulen aufgebaut. Als Mediendienstleister arbeiten wir für eine Vielzahl von Kunden und bieten ihnen sowohl für Online als auch für Print individuelle Lösungen an. Bei der Berichterstattung über Entertainment im Allgemeinen und Fernsehen im Speziellen tun wir das seit vielen Jahren unter anderem für die “Süddeutsche Zeitung”, für Web.de & GMX und jetzt ja auch für Klambt, den “Stern” und andere. Aber wir sind journalistisch inzwischen deutlich breiter aufgestellt. Darüber hinaus gibt es den dritten Zweig des Content-Marketings, den wir unter dem Namen Station 19 gegründet und ausgebaut haben.
Wie hat sich das Interesse des Publikums geändert: Welche Art von Beiträgen wird besonders oft geklickt?
Derks: Die großen Ereignisse der vergangenen Jahre, also zunächst Corona und dann der Krieg in Europa, beeinflussen unserer Wahrnehmung zufolge natürlich auch das Nutzerverhalten. Zum einen besteht ein großes Interesse an Informationssendungen wie etwa den namhaften Talkshows, über die wir noch in der Nacht oder am Morgen danach ausführlich berichten. Und zum anderen ist die Sehnsucht nach Zerstreuung spürbar. Ob “Bares für Rares”, Reality-Fernsehen oder eine entspannte Serie – ob linear oder Streaming: Fernsehen gibt allen Menschen auch die Gelegenheit, im Kopf mal zur Ruhe zu kommen. Auch dem tragen wir Rechnung. Am Morgen danach werden Sie bei uns immer auch unterhaltende Texte zu “Wer wird Millionär?”, dem “Tatort” oder “Grill den Henssler” finden.
Was sind eher Rohrkrepierer?
Derks: Viele Schauspielerinnen und Schauspieler, die in den USA gehypt werden, kennen hierzulande weniger Menschen als man annehmen könnte. Selbst ein gutes Interview mit Sylvester Stallone zu “Tulsa King”, für das man früher Anerkennung erfuhr, interessiert heute viele Menschen nicht mehr. Weil Social Media und nicht zuletzt die Stars selbst durch ihre PR-Arbeit für eine Sättigung gesorgt haben. Bei deutschen Stars ist das noch etwas anders. Ihnen fühlen wir uns, obwohl die Welt vermeintlich zusammengerückt ist, deutlich näher. Auch bei Reportagen und Dokumentationen im TV hat sich manches für uns verändert. Ich persönlich halte zum Beispiel die ZDF-Reihe “37°” für eine der besten Erfindungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Die Sendung und ich starteten damals, 1994, fast gleichzeitig in dieser Branche. Auch deshalb fühle ich mich vielleicht diesem Format eng verbunden.
Warum macht Ihr sie trotzdem?
Derks: Über “37°” werden wir immer wieder berichten, weil hier eben jenseits von den großen Triggerthemen unserer Zeit tief hinein in die Gesellschaft geblickt wird. Ein Beispiel: Die Verantwortlichen dort haben unzählige Male den Pflegenotstand anhand von Einzelschicksalen beklagt, schon Jahre, ja gar Jahrzehnte vor Corona. Aber da stand am Dienstagabend nach der Ausstrahlung eben keiner applaudierend auf dem Balkon. Mit der Berichterstattung über ein solches Format dringen wir heute noch seltener durch als früher. Vor allem natürlich nicht im Netz, in dem eine jüngere Zielgruppe den Ton angibt, die im Leben noch nie etwas von dieser Sendung gehört hat. Machen werden wir das trotzdem. Weil Redakteurinnen und Redakteure da eine leidenschaftliche und – wie ich finde – großartige Arbeit verrichten, auf die wir einfach hinweisen wollen.
Ein Teil Eurer Beiträge sind Recaps von Reality-Shows und TV-Sendungen. Sind die Leute wirklich so wild darauf, nachzulesen, was im TV lief?
Derks: Ja. Wobei es übrigens gar keine große Rolle spielt, ob sie die Sendung selbst gesehen haben oder nicht. Was die leichten Formate betrifft, so tun wir am nächsten Morgen eigentlich nichts anderes als die TV-Sender: Wir wollen mit unseren Texten unterhalten. Wichtig ist dabei, dass wir hier mit Autorinnen und Autoren zusammenarbeiten, die diese Genres mögen. Es ist Unsinn, einmal pro Woche textlich mit dem “Sommerhaus der Stars” abzurechnen und wieder mal das Ende der Fernsehkultur heraufzubeschwören. Früher sahen TV-Kritiker das anders: Aber es ist erlaubt, Trash-TV zu mögen. Wenn sich die Zuschauerinnen und Zuschauer dabei ernst genommen fühlen, dann darf ab und an durchaus auch bei uns ein bisschen Ironie durchscheinen. Bei unserer Nachberichterstattung zu den politischen Talkshows ist es natürlich anders. Da wollen sich Menschen im Nachhinein vor allem informieren. Oder sie wollen sich darüber streiten – das Netz lebt auch davon.
So etwas ist heutzutage doch gar nicht mehr so wichtig, wo man alles, was man live verpasst hat, jederzeit in der Mediathek nachschauen kann – oder überhaupt nur dort schaut. Hat das Interesse an den Recaps abgenommen?
Derks: Nein, keinesfalls. Wissen Sie, die Mediatheken und die Streaming-Dienste laufen ja über. Unser Text zu “Hart aber fair” liest sich in fünf Minuten. Die Sendung dauert 75. Mit den gewonnenen 70 Minuten lässt sich viel Sinnvolles anfangen.
Wie ernüchternd ist es, wenn Ihr große Interviews macht, am Ende aber doch die Zusammenfassung vom “Sommerhaus der Stars” oder “Bares für Rares” am meisten geklickt werden?
Derks: Ernüchternd ist es nicht. Manchmal vielleicht ein bisschen schade, zumal der zeitliche Aufwand für ein großes Interview beträchtlich ist. Aber wir haben ja auch bis heute noch Kunden, die auf gute Interviews setzen. Und wir wissen, dass es auch deren Leserinnen und Leser durchaus schätzen. Die Zielgruppe ist eben nur deutlich kleiner als früher. Und viele der “Stars” sind leider auch deutlich vorsichtiger in ihren Formulierungen.
Büttner: Ein fragmentierter Markt muss auch kein Nachteil sein. Es gibt Kunden, die sich ihre spitze Zielgruppe mühsam erarbeitet haben und die sie halten möchten. Wir unterstützen sie gerne dabei, indem wir ihnen sehr breites Themenspektrum bieten, das von Mainstream bis Nische vieles abdeckt – und dabei vor allem das Spannende hervorhebt.
Immer mehr, vor allem junge Menschen, sagen von sich, dass sie kein Fernsehen mehr schauen und auch keine klassischen TV-Inhalte. Ist es eigentlich Einstellungsvoraussetzung bei Euch, immer noch TV-Dauergucker zu sein?
Derks: Um Gottes willen nein. Da wären meine älteren Kolleginnen und Kollegen und ich bald schon ziemlich alleine hier. Es ist vielmehr unsere Aufgabe, das Interesse der jungen Menschen an den Medien generell zu wecken. Streaming-Dienste schauen ja fast alle, was wir zunächst mal gut finden. Aber dass sich für eine Folge von den “Rosenheim-Cops” oder “Wilsberg” in der Regel ein Vielfaches an Menschen interessiert als etwa für eine Folge einer hochgelobten Netflix-Serie, müssen wir hier immer wieder erst einmal erklären. Im besten Falle wecken wir dann im Verlauf der Ausbildung ihr Interesse. Und da sind wir wieder bei der Mutter aller Voraussetzungen für unseren Beruf: Neugier.
Büttner: Hinzu kommt, dass die Älteren in unserem Haus natürlich auch deutlich von den Jungen profitieren. Dort gibt es keinerlei Berührungsängste zu allen sozialen Medien. Und auch nicht zur KI. Die Jungen fragen: “Nutzt mir das?” Und manche Älteren: “Schadet das?” Es gilt für uns, innerbetrieblich bei allen die Lust am Experimentieren zu fördern. Wir müssen Dinge ausprobieren, mal was wagen. Und auch mal bei der Jugend genau hinhören …
Derks: Ich gebe mir Mühe. Auch wenn ich mir eine Welt ohne TikTok schon immer noch sehr gut vorstellen kann (lacht).
Als Mediendienstleister liefert Ihr auch Inhalte und Programm-Listings für Programmzeitschriften. Mal ehrlich, gedruckte TV-Programme sind doch wirklich etwas von vorgestern.
Büttner: Sie sind vorgestern erfunden wurden. Deshalb müssen sie noch lange nicht “von vorgestern sein”. Aber ich weiß natürlich, was Sie meinen. Print mag es auch durch sinkende Anzeigenerlöse und höhere Produktionskosten schwerer haben. Aber wir wissen sehr genau, dass gerade die Programmzeitschriften eine treue Leserschar haben: Es gibt Millionen von Zuschauerinnen und Zuschauern, die werden sich in ihrem Leben nie und nimmer im Internet oder an ihrem Smartphone über ihr Fernsehprogramm informieren. Das mag die Jugend nicht verstehen, aber es ist so. Und wir sind eine Agentur, die sich auf die Fahne geschrieben hat, für alle da zu sein. Für jedes Geschlecht, für jedes Alter. Wer ein Abonnement für eine Zeitung oder eine Zeitschrift bezahlt, hat ein Recht darauf, ernst genommen zu werden. Und ein Recht auf eine gewisse Exklusivität bei den Inhalten.
Derks: Deshalb interviewen wir Calvin Kleinen und Schlecky Silberstein, Barbara Schöneberger und Uschi Glas. Von Dating-Show bis “Verstehen Sie Spaß?” – Fernsehen macht eine ganze Menge und darf das auch. Und während rein werbefinanzierte Medien das tun, was sie tun müssen, tun wir das, was wir eben tun dürfen. Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf Unterhaltung und Information.
Welche Fernsehsendung ist ein echter Geheimtipp?
Büttner: Zugegeben, etwas älter, aber gerade deshalb immer noch oder wieder ein Geheimtipp. Ich liebe die österreichische Serie Braunschlag. So viel schwarzen Humor, schräge Wendungen und brillant ausgearbeitete Charaktere habe ich lange nicht mehr gesehen. Ein echter Spaß. Und ich empfehle selbstverständlich jeden Film mit dem Schauspieler Kurt Russell, der eine Art Gründungsvater unserer Agentur ist.
Derks: So grundsätzlich kann ich da im Grunde gar kein Programm nennen. Alles bekommt seine Chance, so begreife ich meinen Beruf. Aber ich gebe zu: Einiges bekommt dann eben keine zweite mehr. Den Hype um Tiger King habe ich zum Beispiel nie verstanden.
Büttner: Ich bemühe mich, zur richtigen Zeit gar nicht erst einzuschalten.
Dieser Text ist Teil der Screen-Wochen bei turi2. Bis 8. Oktober beschäftigen wir uns auf turi2.de mit Entwicklungen und Trends für Bildschirme – von der Smartwatch bis zum großen Werbescreen.
Foto: Teleschau
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