“Es wäre dumm, die 50- bis 59-Jährigen zu vernachlässigen” – Hirschen-CEO Marcel Loko über die Zukunft des Fernsehens und der Werbe-Branche.
2. Februar 2023
Generationenfrage: RTL möchte die Zielgruppe der 14- bis 59-Jährigen etablieren, ProSiebenSat.1 hält dagegen. Marcel Loko, CEO der Hirschen Group, findet, dass eine Eingrenzung auf 14 bis 49 Jahre nicht mehr zeitgemäß ist. Im Interview mit turi2-Chefredakteur Markus Trantow erklärt er, warum ihm das öffentliche Tauziehen der Sendergruppen um die Zielgruppen-Definition im Alltag trotzdem “ziemlich egal” ist. Außerdem spricht er darüber, warum die Arbeit in der Werbung heute komplexer ist als früher, und er sagt, was die Werbebranche jungen Menschen heute bieten kann – und was nicht.
RTL und ProSiebenSat.1 diskutieren aktuell über Bande, also über die Medien, darüber, ob die Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen noch relevant ist oder ob man auf 14 bis 59 Jahre erhöhen sollte. Kannst du als Werber die Aufregung um die Altersfrage nachvollziehen?
Marcel Loko: Zum Teil schon. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das Publikum zwischen 50 und 59 Jahren inzwischen so groß ist wie das Publikum zwischen 14 und 49 Jahren. Die Fernseh-Nutzung ist bei der bisherigen “jungen Zielgruppe” eben dramatisch niedriger als in der auf 59 erweiterten. Es ist einfach ein Unterschied, ob ich sagen kann, meine Werbung für den neuen Opel Mokka haben 500.000 Menschen gesehen oder 1,1 Millionen. Und deswegen kann ich verstehen, dass man einfach wegen der Größe der Zahlen die Zielgruppe ausweiten möchte. Aber es ist nicht nur dieses psychologische Moment, das Gesetz der großen Zahl, weswegen die Eingrenzung auf 14 bis 49 Jahre nicht mehr aktuell ist. Wir, die wir über 40 und teilweise über 50 sind, wissen, dass wir nicht so unflexibel sind, wie unsere Eltern-Generation in dem Alter noch war. Wir sind in der großen Masse gesund und aktiv, stehen Mitten im Leben. Wir sind bereit, neue Marken zu entdecken und zu kaufen. Deswegen wäre es sogar dumm, wenn man die 50- bis 59-Jährigen vernachlässigen würde.
Aber hat ein 15-Jähriger wirklich die gleichen Bedürfnisse wie eine 55-Jährige?
Natürlich nicht. Aber es geht auch eher um die Zahl der Menschen, die eine Sendung und damit die in dem Umfeld gezeigte Werbung erreicht. Und die Programme, bei denen sowohl 15-Jährige als auch 55-Jährige einschalten, gibt es ja noch. Ich denke etwa an große politische Ereignisse, Sport oder bestimmte Shows. Und es gibt bestimmte Produkte, für die sich alle interessieren. Das beste Beispiel ist Elektronik, z.B. das iPhone: Als 15-Jähriger interessiert mich das so richtig und auch mit Mitte 50 gucke ich mir das an, weil ich das ja brauche. Was ich mich als Werbetreibender fragen muss, ist eher: Wen spreche ich wie an? Da hat sich in den vergangenen 100 Jahren westlicher Wirtschaftsgeschichte gezeigt, dass es sinnvoll ist, eher jüngere Menschen anzusprechen. Einfach der Logik folgend, dass ich ein innovatives Produkt oder ein neues Angebot besser in junger als in betulicher Sprache kommuniziere.
Wie bedeutend ist das Zielgruppen-Marketing über das Alter als wichtigste Größe heute überhaupt noch – auch mit Blick auf die Entwicklungen der vergangenen Jahre?
Es ist sicherlich weniger wichtig als früher, weil ich viel zielgruppenspezifischer kommunizieren kann. Heute produziere ich nicht einen Werbespot für alle, sondern ich kann meine Werbe-Assets für jeden Kanal passend machen. Wir befinden uns ja in einer Zeit der extremen Selbstoptimierung und der Ego-Sicht, sodass tendenziell jeder seinen eigenen Werbespot bräuchte oder sogar erwartet. Ich nenne das immer “Republic of Me” als Zielgruppe. Aber die Zielgruppe auf so etwas wie “14 bis 49” oder “bis 59” einzuengen hat einen entscheidenden, kommunikativen Vorteil: Sie ist leicht zu merken und es ist die einfachste und plausibelste Art, eine Zielgruppe einzugrenzen. Und das ist der Grund, aus dem sie noch da ist. Als Beispiel: Mit Werbung für Treppenlifte brauche ich – qua Altersargumentation – nicht zu ProSieben zu gehen. Natürlich gibt es auch die ganzen sozio-ökonomischen Faktoren, die ich herausstellen kann. Aber mit denen wird es in einer Diskussion oft deutlich komplizierter als wenn man über das Alter argumentiert.
Was macht das mit Euch als Player in der Werbebranche, wenn sich die beiden großen Sendernetzwerke ProSiebenSat.1 und RTL nicht einig sind, welche Zielgruppe sie auswerten und am Ende auch ansprechen wollen?
Das ist uns im Alltag tatsächlich ziemlich egal. Denn wir produzieren ja nicht für ProSieben, RTL, Facebook oder TikTok. Wir produzieren für unsere Kunden, was sie gerade brauchen. Aber auf intellektueller Ebene und aus Interesse an der Entwicklung unserer Branche, beobachte ich das und finde den Vorstoß zu einer erweiterten Zielgruppe nachvollziehbar.
Trotz Verlusten gerade beim jüngeren Publikum ist das Fernsehen laut Nielsen noch immer das volumenstärkste Werbemedium – wer Reichweite machen will, kommt am TV kaum vorbei. Wie beurteilst du die Zukunft des Fernsehens?
Das ist eine wirklich spannende Frage, denn der Tod des Fernsehens wurde ja schon vor 20 Jahren beschworen. Was damals viele unterschätzt haben, ist die Reformfähigkeit der TV-Anbieter. Wenn es um Events geht, ist TV nach wie vor einzigartig. Und dazu zähle ich alles, wo erwartbar etwas Neues, Aktuelles passiert. Von den Nachrichten-Sendern über Fußball bis zu “GNTM”. Spannend weil ich weiß, ich erfahre dort das Allerneueste, bei Heidi fliegt auf jeden Fall eine Kandidatin raus und beim Fußball wird immer irgendwie gepunktet. All das läuft als erstes im Live-Fernsehen. Und diese Events sind nach wie vor Schulhof-Thema. Dazu kommt, dass das lineare TV heute ja nur noch einer von mehreren Ausspielwegen ist, wir haben die Mediatheken und diverse andere digitale Anhängsel, z.B. in Social Media. Am Ende sprechen wir nicht mehr von TV-Sendern, sondern von Kommunikations-Plattformen, die von Werbekunden finanziert werden, die darüber viele potenzielle Kunden erreichen.
Mit Corona, Krieg und Wirtschaftskrise stecken wir seit Anfang 2020 in einer schwierigen Zeit, in der viel passiert, aber wenig Gutes. Werbekunden tun sich schwer, in solchen Umfeldern Geld auszugeben…
Das stimmt. Aus rein werblicher, kommunikativer Sicht war die Corona-Krise sicher der schwerste Einschnitt. Wir wussten schlicht nicht: Dürfen wir jetzt noch lachende Menschen zeigen oder Menschen, die miteinander reden? Ein Krieg, so dramatisch das klingt und so schrecklich der ist, ist aus Werbe-Sicht leichter händelbar. Denn Kriege hat es immer gegeben. Das sieht man übrigens auch, wenn man heute fernsieht. Es gibt wieder lachende, feiernde Menschen. Auch weil viele Marken sagen, dass sie dem trüben Trend aus den Nachrichten etwas entgegensetzen und zeigen wollen: Wir sind jetzt erst recht positiv und wollen ein bisschen Freude ins Leben zurückbringen – trotz all der doofen Nachrichten um uns herum.
Die Werbebranche leidet wie nahezu alle anderen Wirtschafts-Zweige unter dem Fachkräfte-Mangel. Was rätst du jungen Menschen, die heute in die Werbung wollen?
Als Scherz könnte man sagen: Lass es bloß sein! … Nein, natürlich nicht. Ich habe mich tatsächlich vor zehn Jahren gefragt, ob ich meiner Tochter empfehlen würde, noch in die Werbung zu gehen. Denn, machen wir uns nichts vor: Die Attraktivität ist heute eine andere als vor 30 Jahren, als ich angefangen habe. Damals haben wir vor allem tolle TV-Spots gemacht und dann sind wir nach Hause gegangen. Heute ist die Arbeit in der Werbung komplexer. Aber dadurch wird sie intellektuell auch anspruchsvoller. Und die jungen Menschen, die ich treffe, sind sich dessen auch bewusst. Sie verstehen die Komplexität von Kommunikation und nehmen das als eine interessante, seriöse Aufgabe wahr. Wer Glamour und Fame sucht, ist heute vielleicht mit TikTok oder einem YouTube-Kanal besser beraten.
Was tut die Agentur-Branche, damit die Leute auch bleiben und nicht nach kurzer Zeit sagen: “Das ist nicht meins?”
Das ist eine schwierige Frage, denn das Versprechen, das uns früher teilweise gemacht wurde – wenn du durchhältst, dann hast du am Ende Fame und Fortune – das ist im Grunde weg. Mit Werbung bist du eben nicht mehr der einzige Ferrari-Fahrer in der Stadt. Im Gegenteil: eher Twingo. Im Grunde ist Werbung heute eine im besten Sinne seriöse Branche mit vielen unterschiedlichen Jobs: Vom Fulfillment, das sehr stabil ist und wo es viele Routinen gibt, bist zu strategischen und kreativen Aufgaben, bei denen es darum geht, Botschaften über bis zu 50 unterschiedliche Kanäle zu spielen. Nach zwei Jahren weißt du in der Regel, ob die Branche was für dich ist. Und da gibt es natürlich auch diejenigen, die sagen, dass ihnen das zu stressig ist. Obwohl das nur ein Bruchteil des Stresses ist, den wir früher hatten. Denn die Branche ist nach wie vor schnell und braucht schnelle Reaktionen.
Welchen Fehler sollte man als Werber unbedingt vermeiden?
Unseriös sein – auch wenn es spießig klingt. Egal, ob in der Kommunikation mit den Kunden oder mit den Endkunden: Eine respektvolle Wahrhaftigkeit ist etwas, was ich jedem ans Herz legen würde. Der durchgeknallte Werber der 80er-Jahre, der seine Arbeit im Drogenrausch macht, ist definitiv nicht mehr zeitgemäß.