Herausfordernde Erzählungen – Warum die RTL+-Serie zum Podcast “Zeit Verbrechen” mehr ist als eine weitere Krimi-Serie.
8. November 2024
Kriminelle Transformation: “Zeit Verbrechen” ist mit 55.000 Auflage für die “Zeit” ein echter Zeitschriften-Erfolg, der Podcast von Sabine Rückert zählt mit rund 5 Mio Streams pro Monat zu den erfolgreichsten in Deutschland und hat das Genre True Crime geprägt. Seit Mittwoch gibt es vier der Fälle aus dem Podcast auch als TV-Serie, die, nachdem Paramount ausgefallen ist, bei RTL+ ein Zuhause gefunden hat. Die Serie überzeugt mit Mut zu erzählerischen Ambivalenzen, findet Patrick Seyboth bei epd Medien. Seine Serien-Kritik veröffentlichen wir in der Reihe Das Beste von epd Medien bei turi2.
von Patrick Seyboth / epd Medien
Mit rund fünf Millionen Streams im Monat ist der Podcast “Zeit Verbrechen” schon lange eine eigene Marke in Sachen “True Crime”. Man könnte sagen, es sei doch nur eine Frage der Zeit gewesen, bis daraus auch eine Serie für den Bildschirm würde. Doch aus der Masse an filmischen und seriellen Bearbeitungen realer Kriminalfälle ragen die zunächst vier einstündigen Filme der neuen Reihe deutlich heraus.
Von Jorgo Narjes von X-Filme ursprünglich für Paramount+ produziert und nach dem weitgehenden Rückzug von Paramount aus dem deutschen Markt zu RTL gewechselt, bürgen bereits die Regie-Namen für den Willen, hier keinesfalls Durchschnitt zu liefern: Jan Bonny (“Wintermärchen”), Mariko Minoguchi (“Mein Ende. Dein Anfang.”), Faraz Shariat (“Futur Drei”) und Helene Hegemann (“Axolotl Overkill”) stehen für unterschiedliche, sehr individuelle Handschriften.
Bei der Auswahl von Geschichten aus dem großen Pool der für den Podcast akribisch recherchierten Fälle hatten sie ebenso freie Hand wie bei ihrer filmischen Herangehensweise. Und so testet jeder der vier Filme auf seine eigene, unverwechselbare Weise aus, was im Genre True Crime möglich ist.
Auf den ersten Blick erkennbar ist der allen gemeinsame Mut, aus den aktenkundigen menschlichen Schicksalen filmische Erzählungen zu machen, die ihre Wahrheit nicht in den nackten Fakten suchen – diese lassen sich in vier die Reihe flankierenden Dokus nachvollziehen -, sondern in der künstlerischen Einfühlung und Gestaltung.
Odysee durch die Nacht
So erzählt Mariko Minoguchi in ihrem bewegenden Film “Dezember” weitgehend als “One-Take” und ganz nah an der Hauptfigur die Odyssee des 18-jährigen Tim durch die Nacht, von beschwingter Feierei mit Freunden in einem Club über den alkoholbedingten Kontrollverlust und einsames, total verwirrtes Herumirren in Kälte und Dunkelheit bis zum tragischen Ende. Als Zuschauer fragt man sich an jeder Wendung der so immersiv erzählten Geschichte, an jeder Begegnung des von Samuel Benito grandios gespielten Tim, wer wie viel Verantwortung an dessen Tod trägt, wer genauer hätte hinschauen können und müssen.
Doch Fragen von Schuld lassen sich hier wie in den anderen Fällen kaum eindeutig beantworten. Am verstörendsten ist diese Vieldeutigkeit in Helene Hegemanns Episode “Deine Brüder”, obwohl man gerade bei ihr aufgrund der Rahmung als Gerichtsdrama auf eine lückenlose rationale Klärung des Falles hoffen könnte. In Rückblenden entfaltet sich die Geschichte einer jugendlichen, unzertrennlichen Freundesclique. Wie tief verwurzelt ihre Verbindung ist, zeigt Hegemann in kurzen, poetischen Einschüben, in denen die jungen Männer buchstäblich wieder zu Kindern werden, etwa wenn sie einmal nachts ins Bassin des Freibads eintauchen.
In der Jetztzeit allerdings stehen sie vor Gericht, als Angeklagte, bis auf einen von ihnen, der tot ist: Cem (Zethphan Smith-Gneist) hatte Charisma, war mitreißend und einfühlsam, doch auch extremen, destruktiven Stimmungsschwankungen ausgesetzt und zunehmend unberechenbar. Seine Gewaltausbrüche wurden zur Gefahr für die Clique und andere. Ist Cems Tod ein Akt von “Bandenkriminalität”, wie der Staatsanwalt postuliert, oder vielleicht eine Art “ausgelagerter Suizid”, wie ein Verteidiger meint?
Furiose Performance
“Deine Brüder” erzählt erstaunlich vielschichtig von einem Charakter, der jede Ordnung – und letztlich auch jede rationale Nachvollziehbarkeit – sprengen muss. Doch wie nebenbei werden auch die Folgen von Erfahrungen wie Fremdheit und Ausgrenzung migrantisch geprägter Jugendlicher zum Thema.
Jan Bonnys ambivalente Gangsterballade “Der Panther” wirkt greller, das liegt nicht zuletzt an Lars Eidinger, der mit einer furiosen Performance als exzentrischer Gangster Johnny mit einer Schwäche für Koks und für Rilke den Film trägt. Die Mischung aus Amüsement, Abscheu und doch auch Mitgefühl, die diese Spielernatur erweckt, ist ungemütlich. Er will mit allen, auch brutalsten Mitteln in einer kriminellen Bande aufsteigen, ist jedoch gleichzeitig als V-Mann tätig. Außerdem möchte er seiner drogensüchtigen Tochter ein neues Leben ermöglichen. Und viel zu lange glaubt der unverbesserliche Trickser, er könne alle anderen an der Nase herumführen – bis sein Kartenhaus in einem Strom von Blut, Kotze und Koks zusammenbricht.
Erzählen, das herausfordert
“Love by Proxy” heißt Faraz Shariats Episode. Auch sie stürzt die Zuschauer in ein Wechselbad aus Anteilnahme und Unverständnis, wenn sich der verwitwete Ralf (Jan Henrik Stahlberg) vor Liebe verzehrt für die schöne und geheimnisvolle junge US-Amerikanerin, die er im Internet kennengelernt hat. In Ghana will sie das Millionenerbe ihres Vaters antreten, gerät jedoch in höchste Gefahr, denn ihr Vater hatte Feinde. Nur mit immer neuen Geldsendungen von Ralf kann sie überleben.
Faraz Shariat hat einen wunderbaren Dreh gefunden, die Projektionen des einsamen Mannes ins Bild zu setzen und parallel zu dekonstruieren, indem er sie mit der harten Realität des “Love-Scam” aufeinanderprallen lässt. Clever erzählt er vom Erbe der kolonialen Vergangenheit und rassistischen Stereotypen. Nur in wenigen Momenten tragen die Dialoge ein wenig zu demonstrativ die Message vor sich her.
“Zeit Verbrechen” wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ensemblepreis beim Deutschen Schauspielpreis und als beste Krimiserie des Jahres beim Fernsehkrimi-Festival in Wiesbaden. Alle vier Folgen der Reihe sind Musterbeispiele für ein Erzählen, das keine vorgefassten Genre-Schablonen nachzeichnet, um vermeintliche Publikumserwartungen zu erfüllen, sondern das irritieren will und herausfordern. Hier wird das Krimigenre genutzt, um existenzielle Geschichten zu erzählen.
Zeit Verbrechen, Miniserie nach dem Podcast von Sabine Rückert, ist seit 6. November bei RTL+ verfügbar. plus.rtl.de (€)