“Journalismus, der uns in die Zukunft führt” – Welche Erfahrungen Funke und Madsack mit dem Umstieg von Print auf E-Paper gemacht haben.
10. September 2024
Zeitung ohne Zellulose: Die Zeitungsverlage Funke und Madsack haben 2023 damit für Aufsehen gesorgt, dass sie die Zustellung gedruckter Zeitungen in einzelnen, unwirtschaftlichen Regionen eingestellt haben. Bei Funke war es die “Ostthüringer Zeitung” in Teilen des Landkreises Greiz. In Brandenburg hat Madsack den “Prignitz-Kurier” in gedruckter Form komplett beerdigt und macht Lokaljournalismus dort nur noch digital. Beide Verlage gehen ähnliche Wege und stehen vor den gleichen Herausforderungen, wird in Gesprächen mit Nils R. Kawig (links), Chefredakteur der “Ostthüringer Zeitung”, und Denni Klein, Leiter Editorial Development bei Madsack, klar. Doch die Ergebnisse unterscheiden sich, wie turi2-Redakteur Björn Czieslik erfahren hat.
Chefsache Digitalisierung: Marketing-Mitarbeiter Hendrik Zweimann (2. v. li.) und Chefredakteur Nils Kawig (hinten) zeigen zwei Abonnentinnen der “OTZ”, wie sie die Zeitung am Tablet lesen können. (Foto: Funke)
Anfang März 2023 teilte Funke Medien Thüringen mit, dass der Verlag ab 1. Mai die Zustellung der gedruckten “Ostthüringer Zeitung” für 300 Haushalte in einigen, sehr ländlichen Abschnitten des Landkreises Greiz einstellen wird. “Da war anfangs Entsetzen, ganz oft auch Enttäuschung. Das haben die Menschen als Einschnitt an Lebensqualität verstanden, dass wir ihnen die gedruckte Zeitung wegnehmen wollen”, erinnert sich Nils R. Kawig, Chefredakteur der “Ostthüringer Zeitung”. Der Grund: Die Kosten für Papier, Druck und Auslieferung der Zeitung überstiegen in der Region die Abo-Einnahmen. Das Ziel war daher, die bestehenden Abos in Digital-Abos umzuwandeln.
Dazu lud die “OTZ” zu Leser-Dialogen in der Region, war mit großem Team vor Ort, um Bedenken auszuräumen und Berührungsängste zu nehmen.”Wir hätten erwartet, dass unsere Schulungsangebote durch die Decke gehen, aber die wurden viel weniger wahrgenommen, als wir gedacht hatten”, sagt Kawig etwas enttäuscht angesichts des “gigantischen Aufwands”, den der Verlag betrieben hat.
Dialog lohnt
Dennoch habe sich der Austausch vor Ort gelohnt, weil er “den Druck aus dem Kessel” nahm und wertvolle Erkenntnisse brachte: “Was wir in dieser Zeit gelernt haben, ist unbezahlbar.” Etwa die Feststellung, dass der Freischaltprozess für digitale Produkte bisher viel zu kompliziert war oder dass die Altersstruktur der Leser weitaus höher ist, als gedacht – und ihr Digitalisierungsgrad weit niedriger.
Ein guter Teil der langjährigen und loyalen Print-Leser in den 300 betroffenen Haushalten hatte bis dahin gar keine Möglichkeit, die Inhalte der Lokal-Zeitung als E-Paper zu konsumieren, weil Internetzugang und Hardware dafür fehlten. Die große Angst vieler älterer Menschen sei gewesen: “Wir schaffen das nicht. Wir können das nicht einrichten. Wer hilft uns, wenn das mal kaputt geht?”, berichtet Kawig. Eine Rolle, die die “OTZ” bei den Vor-Ort-Terminen übernahm. Sie half dabei, Geräte und Zugänge einzurichten, erklärte die Nutzung Schritt für Schritt – und hat zusammen mit dem E-Paper fast immer auch Tablets zur Verfügung gestellt. “Als wir das Projekt konzipiert hatten, war nicht unbedingt geplant, mit Tablets um uns zu werfen”, sagt Kawig.
Post-Zustellung als ungeplante Option
Von den ursprünglich 300 Haushalten mit Print-Abos konnte die “OTZ” im ersten Schritt 30 % zu E-Paper-Abonnenten wandeln. Auf Anregung von Lesern entschied Funke, auch eine Zustellung per Post anzubieten – eine Möglichkeit, die der Verlag zuerst gar nicht vorgesehen hatte. 34 % der früheren Print-Abonnenten bekommen die gedruckte Zeitung heute per Post, der E-Paper-Anteil ist auf 21 % gesunken. 45 % der 300 Print-Haushalte haben gekündigt und sind der Zeitung verloren gegangen.
“Diese Abos waren defizitär. Wenn ich nur den Kaufmann frage, sagt der mir: ‘Wenn ich die Zeitungen nicht mehr zustelle, spare ich Geld.’ Aus redaktioneller Perspektive tut es mir um jeden Leser leid, den wir da verlieren”, sagt Kawig, der sich eine Digitalisierungsquote von 30 bis 50 % gewünscht hätte.
Weitere Pläne, die Zustellung der gedruckten Zeitung in anderen Regionen zugunsten von Digital-Abos einzustellen, gebe es bei Funke daher vorerst nicht. “Der Pilot in Greiz hat gezeigt: Auf diese Art und Weise kommen wir nicht zum Ziel.”
Digitale Nutzungsanreize schaffen
Und doch will Funke Abo-Leser gedruckter Zeitungen weiterhin digital anfixen: Im Preis für das Print-Abo sind bei allen Zeitungen des Verlags auch das E-Paper und der Zugang zu Plus-Inhalten auf der Website inklusive. Bei den Funke-Zeitungen in Thüringen gehören dazu auch Livestreams der Fußball-Regionalliga Nordost. “Wir schaffen in den digitalen Produkten absichtlich neue Nutzungsanreize. Und wer das einmal ausprobiert hat, ist empfänglicher, ein digitales Produkt von uns zu lesen, statt auf das analoge zu setzen”, sagt Kawig zuversichtlich.
Wenig Menschen, weite Wege: Madsacks “Prignitz-Kurier” gibt es als E-Paper, App und Website. Die Print-Zustellung in Deutschlands bevölkerungsärmstem Landkreis ist Geschichte. (Foto: Madsack)
Rund vier Autostunden nördlich von Greiz liegt Perleberg, Kreisstadt der Prignitz in Brandenburg. Bis Ende September 2023 erschien hier der “Prignitz Kurier”, die Lokalausgabe der “Märkischen Allgemeinen Zeitung” von Madsack. Seit knapp einem Jahr gibt es den “Prignitz Kurier” nur noch digital als E-Paper, App und Website.
Die Prignitz ist einer der flächenmäßig größten Landkreise Deutschlands – und gleichzeitig der bevölkerungsärmste. Die Zustellwege waren weit, teilweise eine Stunde Fahrtzeit von einem Abo-Haushalt zum nächsten, erklärt Denni Klein, Leiter Editorial Development bei Madsack. Von den knapp 43 Euro fürs Zeitungsabo gingen teilweise 39 Euro allein für die Zustellung drauf. Keine Basis für wirtschaftlich tragfähigen Lokaljournalismus. Doch sich aus der Region zurückzuziehen, kam für Madsack nicht infrage: “Wo die Zustellung am teuersten ist, ist der Bedarf an lokaler Information auch mangels Alternativen besonders groß”, sagt Klein.
Digitalisierung stößt auf offene Ohren
Schon vor der Entscheidung, die gedruckte Zeitung einzustellen, hat Madsack in der Region den Dialog mit Lesern und lokalen Entscheidern gesucht: Landrat und Bürgermeister, Bauernverband und Kirchen, Ärzten und Einzelhandel. Das Thema Digitalisierung stieß auf offene Ohren, denn in einer so dünn besiedelten Region ist die Lücke zwischen Bedarf und finanzierbaren Angeboten besonders groß.
Im Zuge der Gespräche erfuhr Madsack auch unangenehme Wahrheiten, etwa dass das bisherige Digital-Angebot des “Prignitz-Kurier” wenig bekannt ist und am Bedürfnis der Leser oft vorbeigeht. Die Hälfte der Berufstätigen in der Region macht sich zwischen 5 und 5.30 Uhr auf den Weg, während die Redaktion erst um 9 Uhr begann, die Webseite zu bespielen.
Relevantes für die Region
Mit einem “Relevanzprojekt” beginnt der “Prignitz-Kurier”, Lokaljournalismus digital neu zu denken. Aus Einzelfällen wie der erfolglosen Suche nach einem Hausarzt oder fehlender Mobilität werden Rechercheprojekte, die den ganzen Landkreis umfassen. Ein neuer Newsletter informiert nun schon morgens um 5 Uhr in fünf Minuten über die wichtigsten Themen aus der Region. Mit Newstickern bindet das Team die Leser in lokale Entscheidungen ein, statt nur im Nachhinein über das Ergebnis zu berichten.
“Wir haben schon weit vor der Abschaltung von Print unsere digitale Reichweite verfünffacht”, sagt Klein. Der kostenlose Morgen-Newsletter konnte innerhalb von vier Monaten 2.000 Abonnenten gewinnen.
Es geht auch ohne Print
Bestärkt durch diese Zahlen und E-Paper-Tests mit einzelnen Haushalten entscheidet Madsack, den “Prignitz-Kurier” in gedruckter Form einzustellen und nur noch digital zu arbeiten. Vor der Umstellung lud der Verlag zu Informations- und Schulungsterminen. Das Projekt war im Verlag hoch angesiedelt, bei den insgesamt 17 Terminen waren Geschäftsführer und Chefredakteur vor Ort, Vertriebsleiterin und Lokalchefin, jeweils rund 15 Verlagsvertreter.
Leser, die ihre gedruckte Zeitung bisher an ihre Nachbarn weitergaben, brachten die Nachbarn mit, weil sie das Tablet mit dem E-Paper lieber nicht über den Zaun reichen wollen. Apropos Tablet: Weil Paare sich die gedruckte Zeitung am Frühstückstisch oft teilen, kommt der Leser-Wunsch, zum E-Paper-Abo nicht nur ein Tablet zu bekommen, sondern gleich zwei. Deutlich wurde auch der Wunsch, die digitale Zeitung weiterhin im Zeitungslayout zu konsumieren, einmal am Tag, als abgeschlossenes Produkt.
Ganze Region digitalisiert
Es kamen aber auch Menschen, die Angst vor der Digitalisierung ihrer Zeitung hatten: weniger vor dem Digitalen selbst, mehr vor dem Weg dorthin. Rund jeder fünfte bisherige Print-Leser hatte noch keinen Internetzugang zu Hause. Über Partner bot Madsack die Einrichtung von Internetzugängen an. Dabei bekamen die Netz-Neulinge auch Hinweise auf Lebensmittel-Lieferdienste, digitale Hausarztsprechstunden und Online-Behördengänge. Oder eine Anleitung für den Videochat mit den Enkeln. “Wir haben viel mehr als nur unsere Zeitung digitalisiert, wir haben eine ganze Region digitalisiert”, sagt Klein.
Vom Minus ins Plus
Von bisher rund 2.400 Print-Haushalten entscheiden sich am Ende 64 % der Abonnenten, rund 1.600, aufs E-Paper umzusteigen. Zusammen mit reinen Digital-Abos und Newsletter-Empfängern kommt der “Prignitz-Kurier” heute mit mehr als 4.000 Menschen in Kontakt. Allein über die Newsletter habe Madsack mehr als 400 zahlende Plus-Abonnenten gewonnen. “Aus einer Region, in der wir im vergangenen Jahr ein sechsstelliges Minus hatten, ist in diesem Jahr ein positives wirtschaftliches Ergebnis geworden”, freut sich Klein.
Auch zwei weitere Lokalausgaben der “MAZ”, in Wittstock und Kyritz, hat Madsack inzwischen digitalisiert. Auf dem gleichen Weg, mit dem gleichen Ergebnis wie in der Prignitz. “Wir haben keine Angst, diesen Weg auch an weiteren Standorten zu gehen”, sagt Klein, auch wenn aktuell keine geplant seien.
Lieber Digitalisierungs- als Zustellförderung
Zudem lasse sich das Projekt nicht 1:1 auf andere Regionen übertragen, schon allein wegen des “mittleren sechsstelligen Betrags”, den Madsack dafür investiert hat. In einem ganzen Bundesland die Zeitung mit diesem Aufwand zu digitalisieren, sei für Verlage allein nicht zu stemmen.
Statt die Print-Zustellung in unwirtschaftlichen Regionen mit einer staatlichen Zustellförderung zu subventionieren, plädiert Klein daher dafür, mit einer Transformationsförderung die Digitalisierung zu unterstützen. Denn, auch das hat Madsack aus dem Projekt gelernt, so Klein: “Am Ende ist es der Journalismus, der uns in die Zukunft führt, und nicht der Ausspielkanal.”
Dieser Text ist Teil der Themenwoche Zeitungen bei turi2. >> alle Beiträge