Stille inmitten des Lärms – Kopfhörer sind für viele Rückzugsort.
13. März 2025
Podcast aufs Ohr und der Weg zur Arbeit scheint nur halb so lang. Die Lieblingsmusik auf den Kopfhörern macht die Warterei auf die Bahn erträglicher – Menschen tragen heute fast überall Kopfhörer. Was das für unser Miteinander bedeutet, hat Hannah Schmitz in unserer Reihe NewsKNAcker, die wir in Kooperation mit der KNA veröffentlichen, den Soziologen David Waldecker gefragt. Über Motive und Gefahren des Kopfhörertragens.
Von Hannah Schmitz (KNA)
Kabellos, lärmreduzierend, allgegenwärtig: Kopfhörer gehören heute zum Stadtbild. Menschen tragen sie im Bus genauso wie im Supermarkt oder auf den Wegen dorthin. Die “schalldichte Rundumverkapselung” sei zu einem urbanen Grundhabitus geworden, erklärte schon der Literaturkritiker Richard Kämmerlings in einem Meinungsbeitrag der “Welt”. Doch wie wirkt sich diese akustische Isolation auf die Gesellschaft und den Einzelnen aus? Und warum ist das Tragen von Kopfhörern eigentlich so beliebt?
Der Soziologe David Waldecker blickt auf einen regelrechten Siegeszug der Kopfhörer zurück: “Die drahtlosen Airpods hat dem Ganzen einen Schub gegeben”, sagt Waldecker, der heute an der TU Darmstadt beschäftigt ist. Nutzten die meisten Menschen 2017 noch kabelgebundene Kopfhörer, haben sich spätestens mit der Corona-Pandemie kabellose Bluetooth-Kopfhörer durchgesetzt. Mit den Knöpfen im Ohr lässt sich telefonieren, Musik oder ein Podcast hören – überall dort, wo es eine Netzverbindung gibt.
Laut Waldecker sind Kopfhörer aber viel mehr als ein Gebrauchsgegenstand. “Sie sind auch ein Zeichen an die Umwelt”, sagt der Soziologe, der eine Doktorarbeit zur Soziologie der Musikproduktion geschrieben hat. “Manche setzen Kopfhörer auf, damit sie nicht angesprochen werden, das gilt vor allem für Frauen. Andere wiederum tragen Kopfhörer, um anderen zu suggerieren, dass sie nichts hören, während sie deren interessante Gespräche belauschen.” Die meisten nutzten Kopfhörer aber wohl, um sich dem Umgebungslärm zu entziehen und sich unterhalten zu lassen. “Viele Kopfhörerträger finden, dass sie entspannter durch das Leben gehen”, sagt Waldecker.
Vom Statussymbol zum Alltagsgegenstand
Doch an der massenhaften Kopfhörer-Nutzung stören sich auch viele. Schließlich wird der Kopfhörerträger erstmal unansprechbar – hört nicht das Klingeln hinter sich, steht manchmal im Weg herum, ohne es zu merken. Ob sich das Kopfhörertragen auch im Unfallgeschehen widerspiegelt, lässt sich nach Auskunft der Unfallforschung der Versicherer nicht genau sagen, dazu gebe es keine Daten. Fest stehe nur: Ablenkung im Verkehr sei eine Gefahr.
Waldecker sagt: “Seitdem Kopfhörer in der Öffentlichkeit getragen werden, gibt es die Kritik, dass Menschen sich durch das Tragen von ihren Mitmenschen abkapseln.” Kopfhörer wurden mit der Einführung des Walkman in den 1980er Jahren verstärkt in der Öffentlichkeit als Freizeitbegleiter getragen.
Erzwungener Nähe entfliehen
Inzwischen erlebe das Kopfhörertragen eine breite soziale Akzeptanz: Je mehr Menschen sie trügen, desto akzeptierter würden sie. Und längst sind sie nicht mehr nur in oder auf den Ohren jüngerer Menschen zu sehen, sondern auch bei älteren Generationen. Zudem sei das Wissen darüber verbreitet, dass viele Menschen Kopfhörer tragen. Seien Menschen lange davon ausgegangen, dass man mit anderen einen gemeinsamen Hörraum teile, werde heute damit gerechnet, dass Mitmenschen “Nicht-Hörende” seien – und zwar nicht wegen einer Behinderung, sondern wegen der Kopfhörer.
„Gerade in beengten Räumen, in der Bahn beispielsweise, kommen uns fremde Menschen zwangsläufig nah“, sagt Waldecker. Diese Enge zwinge teilweise dazu, Gespräche mitzuhören, die einen nichts angingen, die man gar nicht hören wolle. Kopfhörer aufzusetzen sei eine gute Lösung mit geringen sozialen Kosten, findet der Soziologe.
“Es wäre aufwendiger und riskanter, jemand anderem zu sagen, er oder sie solle leiser sein, weil man sich gestört fühlt. So eine Situation könnte in einem Konflikt enden – das wäre das Gegenteil von dem, was ich haben möchte: Ruhe.” Waldecker betont, dass sich Menschen allerdings schon immer von anderen distanziert hätten: etwa durch das Zeitunglesen in der Bahn.
Konflikten mittels Kopfhörern ausweichen
Der Soziologe wagt auch eine These: Die in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmende Polarisierung der Gesellschaft könne zu einem verstärkten Rückzug beigetragen haben. “Vielleicht will ich nicht hören, wie mein Sitznachbar schlecht über Ausländer redet oder die Ehe für alle verteufelt”, nennt er Beispiele. Wenn niemand mehr hinhöre, sei das aber für den gesellschaftlichen Zusammenhalt problematisch. “Der Rassist fühlt sich bestätigt, wenn er unwidersprochen andere beleidigen kann”, fürchtet der Soziologe.
Große Elektromärkte beobachtet derweil eine steigende Nachfrage nach sogenannten Open-Ear-Kopfhörern: Diese sitzen nicht im oder auf dem Ohr, sondern nahe des Ohrs und übertragen die Musik durch Knochenschall oder Luftübertragung. Dadurch sollen Nutzer Musik hören können und dabei gleichzeitig noch ihre Umgebung wahrnehmen. Diese Gleichzeitigkeit werde aber vor allem bei Outdoor-Aktivitäten geschätzt – und offenbar weniger in der Stadt.
(Foto: Harald Oppitz/KNA)
Dieser Text ist Teil unserer Lese-Reihe “NewsKNAcker”: Alle 14 Tage veröffentlicht turi2 ein Lese-Stück aus dem Ticker der Nachrichten-Agentur KNA – im Wechsel mit der Medienkolumne Kurz und KNAckig. weitere Beiträge