Von Mensch zu Bot: Moralische Fragen gehören in den Bereich menschlicher Verantwortung, schreibt der Theologe und Publizist Wolfgang Huber. Digitale Intelligenz dürfe nicht über das Schicksal von Menschen entscheiden, denn sie sei “weder allwissend noch irrtumsfrei”. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Gott gewinne im digitalen Zeitalter an Bedeutung. Ohne sie könnte “ein Größenwahn um sich greifen, der mit der Verachtung gegenüber den Menschen einhergeht, die nicht vom digitalen Fortschritt profitieren”.
Moral gibt es nur im Plural. Selbst aus den klarsten moralischen Geboten werden unterschiedliche Folgerungen gezogen. “Du sollst nicht töten” ist ein solches Gebot. Darf sich ein angegriffenes Land wie die Ukraine gegen den Angreifer mit Gewalt verteidigen? Dürfen Unterstützer des angegriffenen Landes tödliche Waffen in das Kriegsgebiet liefern? Eines ist klar: Über Waffenlieferungen zur Verteidigung der Ukraine können nicht Algorithmen befinden. Sie können wichtige Entscheidungsgrundlagen bereitstellen. Doch die Klärung der moralischen Frage, ob die Gegenwehr gegen einen militärischen Angriff auch ihrerseits durch Waffengewalt erfolgen kann und muss, gehört in den Bereich menschlicher Verantwortung.
Auch das Tempo, in dem digitale Intelligenz die menschliche Intelligenz in vielen Bereichen einholt und überholt, ändert nichts an der spezifisch menschlichen Verantwortung für die Folgen dieser Entwicklung. Das hat Folgen für die Ethik der Digitalisierung selbst. Die Debatte über “vertrauenswürdige künstliche Intelligenz” zeigt das deutlich. In ihr wurden lange Kataloge von Gründen dafür entwickelt, warum eine Ethik der Digitalisierung notwendig ist. Wer trägt die Haftung für Schäden, die von digitalen Maschinen ausgehen? Wer gewährleistet den Schutz von Persönlichkeitsrechten? Wie sichert man die Transparenz und Erklärbarkeit von Entscheidungen, die durch digitale Intelligenz zustande kommen?
Dass in Algorithmen, die bei der Vorbereitung gerichtlicher Urteile eingesetzt werden, gruppenbezogene Vorurteile versteckt sein können, ist inzwischen allgemein bekannt. “Bias” heißt der Name für diese Vorurteile. Es ist eine zusätzliche Gefahr für die Menschlichkeit, wenn Entscheidungen über das Schicksal von Menschen digitalen Intelligenzen übertragen werden, ohne dass diese Entscheidungen von kompetenten Menschen überprüft und verantwortet werden. Kein Richter kann sich der Verantwortung durch den Hinweis entziehen, die Diskriminierung von Menschen aus Gründen des Geschlechts oder der Herkunft sei durch einen Algorithmus in ein diskriminierendes Urteil hineingeraten. Aus ethischer Sicht ist deshalb festzuhalten: Dass Algorithmen “selbst lernen”, bedeutet nicht, dass sie frei von Fehlern sind. Und es bedeutet auch nicht, dass sie alles lernen.
In der Medizin kann digitale Intelligenz Leben retten
Das ist jedoch kein Grund dazu, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Die Medizin ist ein Bereich, an dem sich zeigen lässt, dass digitale Intelligenz in den Dienst der Menschlichkeit gestellt werden kann. Die Früherkennung von Krankheiten und die schnelle Erkenntnis der richtigen Therapie kann Leben retten. Das darf man nicht vergessen, wenn man über das Verhältnis von digitaler Intelligenz und Menschlichkeit redet. Auch in anderen Feldern ist der Einsatz von digitaler Intelligenz sinnvoll, weil sie zur Entlastung menschlicher Akteure beiträgt und zu schnelleren Entscheidungsabläufen beiträgt. Doch vertretbar ist das nur, wenn die gewonnene Zeit für einen respektvollen menschlichen Umgang genutzt wird.
Dass die Algorithmen in wachsendem Maß selbstlernend sind, ist vor allem ihrer exponentiell wachsenden Fähigkeit zur Verarbeitung von Daten zuzuschreiben. Das ist jedoch kein Grund dazu, ihnen vermeintlich “göttliche” Qualitäten zuzuschreiben. Sie werden durch Akkumulation von Daten weder allwissend noch irrtumsfrei. Genauso wenig besteht ein Grund dazu, die Menschen, die den vermeintlichen Siegeszug der digitalen Intelligenz erleben, an die Stelle Gottes zu setzen und ihnen Unsterblichkeit und vollkommenes Glück zuzuschreiben. Auch im Zeitalter der Digitalisierung bleiben wir Menschen mit unseren Stärken und Schwächen, mit der Begrenztheit unserer Fähigkeiten und unserer Lebenszeit. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Gott gewinnt im digitalen Zeitalter an Bedeutung. Ohne sie könnte ein Größenwahn um sich greifen, der mit der Verachtung gegenüber den Menschen einhergeht, die nicht vom digitalen Fortschritt profitieren.
Wolfgang Huber ist Theologe und Publizist. In seinem aktuellen Buch “Menschen, Götter und Maschinen” beschreibt er, wie sich ethische Prinzipien für den Umgang mit digitaler Intelligenz finden lassen.
(Foto: Christian Ditsch / epd-bild /Picture Alliance)
Dieser Text ist Teil der Themenwoche Digitalisierung & KI – bis 2. April fragen wir auf turi2.de, wie der technologische Fortschritt Medien, Wirtschaft und Gesellschaft verändert.