Ein Lob der Gelassenheit: Stefan Kornelius über Qualitätsjournalismus.
9. Mai 2022
Mehrwisserei statt Besserwisserei: Ordentlicher Journalismus kennt die “Mechanismen des Möglichen” und wirkt der Radikalisierung und Blasenbildung entgegen, schreibt Stefan Kornelius, Ressortleiter Politik der “Süddeutschen Zeitung”. Qualitätsjournalismus wechsele die Perspektive, stelle die überraschende Gegenfrage, zerstöre “wohltuende Gewissheiten” und sensibilisiere für den “Blick der anderen”. turi2 veröffentlicht seinen Beitrag in Kooperation mit Republic, dem gemeinsamen Vermarkter der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” und der “Süddeutschen Zeitung”. Das komplette Magazin Republic Media zum Thema “Sinn” können Sie gratis herunterladen oder kostenfrei gedruckt bestellen.
von Stefan Kornelius / Süddeutsche Zeitung
Im Zeitalter des Geschreis und der Dauerbeschleunigung sind Übersicht und Ruhe wertvolle Begleiter. Zum Beispiel das Klima. Es ist ja keine Neuigkeit, dass die Erderwärmung zu gravierenden Problemen führt. Es kann auch niemand behaupten, dass “die Politik” oder “die Medien” für dieses Menschheitsproblem keine Aufmerksamkeit aufbrächten. Und dennoch wurde der UN-Klimakonferenz in Glasgow eine Aufmerksamkeit zuteil, die fast schon in eine Hysterie mündete. Die Erwartungen steigerten sich derart, dass sich die damalige Bundesumweltministerin zu einer Mahnung genötigt sah: Es sei ein Fehler, eine “spontane Weltrettung” zu erwarten, mahnte Svenja
Schulze in großem Ernst.
Spontane Weltrettung – eine faszinierende Vorstellung, aber man muss der Ministerin ihren Sarkasmus verzeihen, vor allem wenn man das ermüdende In-sich-Geschäft der professionellen Weltretter im jährlichen Ritual der Klimakonferenzen betrachtet. Tausende Politiker, Forscher, Beisteher und Mahner versammeln sich seit sage und schreibe 42 Jahren (die eigentliche COP-Serie begann 1995), um den globalen Konsens in Sachen Klima herbeizureden. In einer Gesellschaft wie der deutschen, wo den Werkzeugen der Vereinten Nationen wunderheilende Wirkung zugesprochen werden, muss die Verdichtung von Problem und Ereignis unweigerlich zu einem Erwartungsdruck führen – der letztlich nur enttäuscht werden kann.
Es ist das zentrale Merkmal dieser Zeit, dass eher zu viel als zu wenig kommuniziert wird. Das ist nicht verwerflich. Im Gegenteil zeichnet es eine offene und tolerante Gesellschaft aus, dass sie in der 24/7-Welt und mit sämtlichen digitalen, analogen, hybriden, fluiden und auch skurrilen Werkzeugen dieses Zeitalters miteinander ins Gericht geht. Das mag mitunter anstrengend sein, verboten ist es nicht.
Kommunikation will aber gelernt sein – und am Ende auch ertragen werden. Denn das Überangebot an Gemeintem, Gesagtem und Gefordertem hat – wen wundert’s – auch seine unschönen Folgewirkungen, die seit Beginn der Kommunikationsrevolution vor mehr als zehn Jahren zu begutachten sind: Radikalisierung, Verunsicherung, Parallelwelten, Inflation der Lüge und der Demagogie.
Und da ist natürlich das ganz simple Gefühl der Übersättigung und Erschöpfung durch eine allgegenwärtige Problemwelt, die einfach nicht mehr weichen will.
Weil die spontane Weltrettung nicht zu erwarten ist, muss es wenigstens ein paar Kommunikationsprofis geben, die der Gefahr der Überhitzung entgegenwirken und die Balance finden zwischen Drama und Dringlichkeit. Ordentlicher Journalismus tut genau dies – er erklärt und ordnet ein, er mahnt auch und kommentiert.
Aber er kennt die Mechanismen des Möglichen und wirkt der Radikalisierung und Blasenbildung entgegen, indem er die Perspektive wechselt, die überraschende Gegenfrage stellt, wohltuende Gewissheiten zerstört und für den Blick der anderen sensibilisiert. Da geht es um Fachwissen, den Takt der Politik, auch die Nähe zu den Entscheidern, die Fluch und Segen zugleich ist. Mit all dem Wissen verantwortungsbewusst umzugehen – das zeichnet Qualitätsmedien aus, die nicht von der Hysterie leben, sondern von Nüchternheit, Sachlichkeit und dem Wunsch nach Wissen und Aufklärung.
Sicher: Der Scoop ist wichtig, die Exklusivität, die Aufdeckung. Aber nicht weniger wertvoll ist die Recherche zum Strommengenbedarf, dem Chipmangel oder der Auswirkung der Mobilitätswende auf den Arbeitsmarkt. Dazu braucht es Journalistinnen und Journalisten mit dem Hang zur Mehrwisserei, nicht zur Besserwisserei.
Klima, die Pandemie oder auch die großen geopolitischen Verschiebungen zwischen den Mächten der Welt lösen Unsicherheit aus – und fördern das tiefe Bedürfnis nach Aufklärung. Qualitätsjournalismus dient im klassischen Sinn dieser Aufklärung – weil Revolutionen leichter zu ertragen sind, wenn man weiß, wie sie möglicherweise enden.
Stefan Kornelius
Seit 2021 Ressortleiter Politik der “Süddeutschen Zeitung”. Vorher verantwortlich für Außenpolitik, stellvertretender Leiter des Berliner Büros, Korrespondent in Washington. Start bei der “SZ” 1991 als Korrespondent in Bonn.