turi2 edition #5 The Digital Me - Das Ego in Zeiten des Internets

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�e Digital Me Das Ego in Zeiten des Internets Herausgegeben von Uwe C. Beyer und Peter Turi


Danke! Wir danken den Partnern und Premium-Partnern von turi2 für ihre ausdauernde Unterstützung unserer publizistischen Arbeit. Premium-Partner Axel Springer SE Bauer Media Group

Das Buch Die Digitalisierung verändert die Art, wie wir leben, lieben und handeln. Der Überfluss an Informationen, Waren, Chancen und Kontakten rückt unser Ego ins Zentrum der Welt. Dieses Buch beschreibt die Folge der Selfie-Gesellschaft – vor allem für jene, deren Beruf, Berufung oder Leidenschaft die Kommunikation ist.

Deutsche Post DHL Group Funke Mediengruppe Gruner + Jahr Hubert Burda Media Spiegel-Gruppe Verlagsgruppe Handelsblatt VDZ Verband Deutscher Zeitschriftenverleger Wort & Bild Verlag Partner b4p – best4planning BILD Bundesverband Presse-Grosso brand eins Büro Freihafen Hamburg Die ZEIT Heidelberger Druck Horizont impulse Landau Media Madsack Media Control Multi Packaging Solutions Otterbach dpa picture alliance Sappi Schleunungdruck Score Media TV Spielfilm wdv Mediengruppe WELT

Die Reihe Die „turi2 edition“ bietet Inspiration für Entscheider in einer Welt der digitalen Kommunikation. Sie ist mit ihrem Dreiklang aus Optik, Haptik und Geist ein Sammlerstück. 2016 wurde sie mit dem Bayerischen Printmedienpreis für Innovation ausgezeichnet und als „Solitär“ gelobt. Die „turi2 edition“ richtet sich an Menschen, die Entscheidungen treffen – über Medien, Marken und Märkte.

Die Macher Peter Turi ist Verleger, Gründer des Fachverlags turi2 und Herausgeber der „turi2 edition“. Uwe C. Beyer ist Zeitschriftengestalter und bestimmt als Co-Herausgeber die optische Linie. Tatjana Kerschbaumer ist Autorin und verantwortet als Redaktionsleiterin alle Texte. Lea-Maria Kut ist Art Directorin und leitet die Gestaltung und die Produktion der „turi2 edition“. Johannes Arlt ist Fotograf und definiert als Fotochef die Bildsprache der Buchreihe.



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Größe: ET: 19.05. 629 x 295 mm Größe: 629 x 295 Titel: mm turi2 edition Titel: turi2 editionMotiv: Bulle

Motiv: Bulle

WISSEN, WISSEN, WAS KOMMT. WAS KOMMT.

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Motiv: Bulle

WISSEN, WISSEN, WAS KOMMT. WAS KOMMT.

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Der Mensch ist ja nicht der, der er ist, sondern der, der er sein will. Wer ihn an seinen WĂźnschen packt, hat ihn. Martin Walser


turi2 edition Schriftenreihe für Medien & Marken Ausgabe 5, 2017, 20,- Euro ISBN 978-3-9819155-0-1 ISSN 2366-2131 Verlag: turi2 GmbH Ringstraße 89, 69190 Walldorf Telefon 06227/841 304, edition@turi2.de turi2.de/edition Herausgeber Uwe C. Beyer (Creative Director) und Peter Turi (verantwortlich) Redaktionelle Leitung Tatjana Kerschbaumer Art Directorin Lea-Maria Kut Fotochef Johannes Arlt Foto-Korrespondenten Stephan Sahm, München; Holger Talinski, Berlin; Thies Rätzke, Hamburg Fotografen Jens Twiehaus, Markus Trantow Autoren Jens Twiehaus, Anne-Nikolin Hagemann, Anne Fischer, Heike Reuther, Markus Trantow, Alexandra Korimorth, Björn Czieslik, Sarah Risch, Andreas Grieß, Dirk Stascheit Gastautoren Imre Grimm, Katrin Wilkens, Katja Nettesheim Lektorat Miriam Imhof und Markus Trantow Video-Produktion Jens Twiehaus, Björn Czieslik, Markus Trantow Anzeigen und Vertrieb Simone Stähr, simone.staehr@turi2.de Kooperationen Carl-Eduard Meyer, carl-eduard.meyer@turi2.de Mediadaten: turi2.de/media Abonnements: turi2.de/abo Druck Schleunungdruck, Marktheidenfeld, schleunungdruck.de Druck von 1.200 individuellen Titelbildern: Multi Packaging Solutions, Obersulm multipkg.com Lithografie und Schlussredaktion Otterbach Medien, Rastatt/Hamburg, otterbach.de Vertrieb: BPV Medienvertrieb Rheinfelden, bpv-medien.de Partner für Augmented Reality wdv Mediengruppe, Bad Homburg, wdv.de


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er kein freundliches Gesicht hat, darf kein Geschäft eröffnen, sagt ein chinesisches Sprichwort. Unser Titelbild* zeigt: Wir sind, was wir in den Augen anderer sind. Erst die Aufmerksamkeit des anderen macht uns selbst bewusst. Eigentlich mache ich ungern Selfies. Die seltsame Stange auf diesem Foto hat unser Fotochef Johannes Arlt extra für das Shooting im Hamburger Hafen gekauft. Aber das Motiv zeigt, worum es in der Ausgabe 5 der „turi2 edition“ geht: darum, wie die Digitalisierung unser Ego ins Zentrum rückt – und damit verändert. Medien und Marken – und die Menschen dahinter – müssen in digitalen Zeiten Gesicht zeigen. Denn wenn das Wissen der Welt in der Hosentasche steckt und jeder Freund und jede Begierde nur einen Wisch weit weg sind, dann muss auffallen, wer im Meer der Möglichkeiten gefunden werden will. Wir wünschen Ihnen mit diesem Buch neue Erkenntnisse darüber, wie die Digitalisierung unser Leben, Lieben, Arbeiten und Wirtschaften verändert.

Foto: Johannes Arlt

LG,

*Übrigens: Print kann neben Optik, Haptik, Haltung, Tiefe und Augmented Reality auch Individualisierung! Die 1.200 wichtigsten deutschen Medien- und Markenmacher bekommen ihre „turi2 edition“ mit dem eigenen Konterfei auf dem Cover. Möglich gemacht haben das Firmen, die auch in digitalen Zeiten auf Papier setzen: Heidelberger Druck, Schleunung und Multi Packaging Solutions. Danke!


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Motiv: Bulle

WISSEN, WISSEN, WAS KOMMT. WASKOMMT. KOMMT. WISSEN, WISSEN, WAS KOMMT. WAS WISSEN, KOMMT. WISSEN, WAS WAS KOMMT.

Handelsblatt_1_2_3_vorne.indd Alle Seiten Handelsblatt_1_2_3_vorne.indd Alle Seiten 29282_HB_Bulle_629x295_turi2_ISOc300.indd 29282_HB_Bulle_629x295_turi2_ISOc300.indd 1 1 29282_HB_Bulle_629x295_turi2_ISOc300.indd 29282_HB_Bulle_629x295_turi2_ISOc300.indd 1 1 Handelsblatt_1_2_3_vorne.indd Alle Seiten 29282_HB_Bulle_629x295_turi2_ISOc300.indd 29282_HB_Bulle_629x295_turi2_ISOc300.indd 1 1

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Inhalt 12

Augmented Reality: alle Multimedia-Elemente der „turi2 edition“

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Bildbetrachtung: Hillary Clinton und die neue Ego-Perspektive

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Zahlen zur Digitalisierung der Deutschen

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Hast du Töne: Zehn markante Geräusche der Digitalisierung

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Bingo! 16 Phrasen in Blasen zur Digitalisierung

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Von A bis Z: der digitale Mensch in 26 Stichwörtern

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Interview I: Christoph Keese über Zumutungen und Chancen der Digitalisierung

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Mein digitales Leben: Fünf sehr alte und vier sehr junge Menschen erzählen aus ihrem Alltag mit modernen Medien

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Helmut Oertel, 90 Annika Treuchtler, 15

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Max Wolf, 6 Bruno Wolf, 6 Hildegard Wally Böhme, 98 Horst Beyer, 83 Christa Fuchs, 92 Hans Reuter, 88 Lea, 8

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Interview II: Tarek Müller über sein Leben als Wasserpfeifen-Verkäufer und Onlinemarketing-Rockstar

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20 spannende Digital-Projekte

78 mymuesli 82 Spiegel 84 Jodel 86 Landau Media 88 Emmy 90 Club of Cooks 92 Picture Alliance 94 Städel 96 Flyeralarm turi2 edition #5 · Digital Me


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Deutschlands führender Deutschlands führender Deutschlands führender Informationsbrand. Informationsbrand.Informationsbrand.

Verlässlich, Verlässlich, schnell, schnell, innovativ innovativ Einzigartig in seinem Einzigartig plattformübergreifenden in seinem plattformübergreifenden Verlässlich, schnell, innovativ Einzigartig in seinem plattformübergreifenden undmutig. mutig. und mutig. journalistischen Angebot. journalistischen Angebot. und journalistischen Angebot.

Foto:©©Caio Caio Vilela Foto: Vilela

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Photoshop: Warum Bilder schon in vordigitalen Zeiten manipuliert wurden

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Neun Digital Heroes: Sie haben im Netz Karriere gemacht – und für uns ein Selfie

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Kolumne Katrin Wilkens: Wenn Kinder ihre Eltern alt aussehen lassen

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Privatdetektive: Wie Berufs-Schnüffler heute ermitteln

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Interview III: Gero Hesse über verwöhnte Kinder und Eltern, die sich wandeln müssen

Bauer online: Josef Rummel arbeitet mit Milch-Apps und Roboter-Stieren

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Influencer: Imre Grimm über Menschen, die mit ihrem Narzissmus Geld verdienen

Tinderleicht: Sex und Liebe in Zeiten von Dating-Apps – sieben Tinderer erzählen

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App-Test-Dummies: Drei turi2-Mitarbeiter digitalisieren ihren Alltag

Geburt & Tod: Wie digital arbeiten eine Hebamme und ein Bestatter?

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Gefällt mir nicht: ein fast analoges Schlusswort von Tatjana Kerschbaumer

98 Zeit Akademie 101 Deutsche Bank 102 Sportbuzzer 104 Bild 105 Bräustüberl Tegernsee 106 Cewe 110 News Aktuell 111 WeltN24 112 WhiteWall 114 Thomann 119 Was hab‘ ich? 120

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Neun seltsame Berufsbezeichnungen, die uns die Digitalisierung gebracht hat

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Foto: © Caio Vilela

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Deutsche Bank Seite 101

Christoph Keese Seite 28 Frank Stadthoewer Seite 110

Thorsten Fischer Seite 96

WeltN24 Seite 111

Jesper Doub Seite 82

Tarek Müller Seite 68

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17 spannende Vide� und 1 Audio in der Augmented-Reality-App oder per Direktlink In der Augmented-RealityApp zur „turi2 edition“ zeigen wir in einem Making-of, wie Schleunungdruck, Heidelberger Druckmaschinen, Multi Packaging Solutions und Büro Freihafen 1.200 verschiedene Titelbilder produzieren turi2.de/edition/makingof5

Ohrwürmer Seite 20 der Digitalisierung turi2.de/edition/ohrwuermer

Christoph Keese Seite 28 diskutiert mit Peter Turi über Lust und Last der Digitalisierung turi2.de/edition/keese

Frank Stadthoewer Seite 110 muss bei News Aktuell die PRKommunikation neu aufstellen turi2.de/edition/news-aktuell

Tarek Müller Seite 68 spricht über seinen Weg zum OnlineMarketing-Rockstar turi2.de/edition/tarek

Jesper Doub Seite 82 liest den „Spiegel“ nur noch auf dem iPad turi2.de/edition/spiegel-digital

Uwe Mommert Seite 86 erklärt die Arbeit von Landau Media turi2.de/edition/landau-media

Thorsten Fischer Seite 96 schildert die Erfindung des Sammeldrucks für Flyeralarm turi2.de/edition/flyeralarm Angela Broer und Nils von der Kall Seite 98

wollen die „Zeit Akademie“ zum Netflix für Wissenshungrige ausbauen turi2.de/edition/zeit-akademie

Joris Hensen Seite 101 erklärt die neue Offenheit der Deutschen Bank turi2.de/edition/deutsche-bank

Stephanie Caspar Seite 111 denkt bei „WeltN24“ strikt digital turi2.de/edition/weltn24-digital Sarah Risch Seite 139 versucht sich an Niederländisch turi2.de/edition/digital-sprechen

Marco Fenske Seite 102 baut die Sportberichterstattung bei Madsack um turi2.de/edition/sportbuzzer

Jens Twiehaus Seite 140 digitalisiert sein komplettes Leben turi2.de/edition/digital-leben

Jakob Wais Seite 104

Andreas Grieß Seite 141

koordiniert die Video-Teams der „Bild“ turi2.de/edition/bild-digital

wertet seine per App gesammelten Laufdaten aus turi2.de/edition/digital-laufen

Christian Friege und Carsten Heitkamp Seite 106 feiern mit dem Cewe-Fotobuch Erfolge turi2.de/edition/cewe

Tatjana Kerschbaumer Seite 190 spricht ein fast analoges Schlusswort turi2.de/edition/gedicht

Fotos: Johannes Arlt (1), Holger Talinski (1), Jens Twiehaus (4), Markus Trantow (1)

Das Plus-Zeichen führt zu Video + Audio

Mit der AugmentedReality-App unseres Partners, der Mediengruppe wdv, gewinnen Sie neue Einsichten. Es geht ganz einfach:

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Laden LadenSie Siesich sichmit mitIhrem Ihrem Smartphone Smartphoneoder oderTablet Tabletdie die wdv-App wdv-App ausaus demdem iTunes-Store oder bei Google Play herunter runter – Sie – Sie finden finden diedie App unter wdv.de/viewar

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Scannen Scannen Sie Sie mit mit der der App App der „turi2 „turi2 edidie die Titelseite Titelseite der edition“. Halten Smarttion“. Halten SieSie IhrIhr Smartphophone mindestens 20 Zentimene mindestens 20 Zentimeter ter über Buch. Laden über dasdas Buch. Laden Sie Sie die die Videos und das Audio herunter

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Halten Sie Ihr Handy über eine Seite mit dem rot-schwarzen Kreuz-Symbol – in mindestens 20 Zentimetern Abstand. Das Videos und das Audio starten automatisch

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Foto: Barbara Kinney

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Ein schöner Rücken kann auch entzücken. Das mag sich die wahlkämpfende Hillary Clinton im September 2016 denken, als ihr in Orlando eine Menge von jungen Unterstützern die Kehrseite zudreht und das Smartphone entgegenreckt. Das Foto ist ein Symbol, denn es macht deutlich: Die Digitalisierung hat die Perspektive verändert, mit der wir auf die Welt blicken. Ich fotografiere, also bin ich. Was immer passiert, wo immer ich bin – mein Ego steht im Vordergrund. Die Digitalisierung hat mit dem Smartphone das Werkzeug und mit den sozialen Medien den Resonanzraum für fortlaufende Selbstinszenierung geschaffen. In der SelfieGesellschaft ist alles nur Hintergrund für meine Botschaft an die Freunde: Ich bin dabei gewesen.

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732 Von Dirk Stascheit

Milliarden E-Mails versenden die Deutschen 2017.

Das entspricht etwa 8.927 Mails pro Bundesbürger

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31.014 Amazon-Rezensionen verfasste die US-Amerikanerin Harriet Klausner bis zu ihrem Tod 2015. Damit schrieb sie die meisten Bewertungen in der Geschichte des Internets

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5 28 53 Prozent der deutschen Smartphone-Besitzer haben ein Gerät, das älter als zwei Jahre ist. 63 % haben eines, das maximal ein Jahr alt ist

Prozent der rund 7.000 auf der Erde gesprochenen Sprachen werden den digitalen Wandel überleben – bestenfalls, prognostizieren Experten. Erklärung: ­Internetnutzung beschleu­ nige den Wechsel zu häufiger genutzten Sprachen

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Prozent der Social-MediaNutzer posten gerne Selfies, aber 82 % schauen sich bei Instagram und Co ungern Selfies an. Die Wirtschaftspsychologin Sarah Diefenbach spricht deshalb vom „Selfie-Paradox“

1 Woche

brauchen Netflix-Nutzer durchschnittlich, um die erste Staffel einer Serie zu Ende zu sehen

Fotos werden 2017 weltweit insgesamt geschossen – 85 % davon mit Smartphones, prognostiziert der Marktforscher Keypoint Intelligence

Prozent der Deutschen nutzen Fitness-Armbänder, Smartwatches oder Gesundheitsapps

600.000 deutsche Jugendliche und junge Erwachsene gelten als internetsüchtig

Achtzig Millionen Fotos werden täglich bei Instagram hochgeladen – das entspricht mehr als 40.000 Bildern pro Minute

Prozent der Bankkunden in Deutschland betreiben Onlinebanking. Der EU-Durchschnitt liegt bei 49 % 18

27.000 Handytickets verkaufte die Deutsche Bahn täglich im Jahr 2016 – insgesamt buchten Kunden 10 Millionen mobile Fahrkarten

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Quellen: guardian.com, washingtonpost.com, economist.com, nytimes.com, Universal McCann Deutschland, heise.de, Kassenärztliche Bundesvereinigung, destatis.de, statista.com, sueddeutsche.de, blog.hootsuite.com, deutschebahn.com, welt.de

Digital Me in Zahlen



Digital ins Ohr Es piept, brummt und dudelt – die Digitalisierung macht auch vor unseren Gehörgängen nicht halt. Hier sind zehn Ohrwürmer, die fast schon wieder Geschichte sind

1 Tamagotchi Düdü-düdü: Das Haustier im Minicomputer-Format kam im Mai 1997 auf den deutschen Markt und quälte danach tausende Kinder und deren Eltern mit stündlichen virtuellen Forderungen. Mit immer schneller werdendem Piepsen und schrillen Tonfolgen macht das digitale Küken auf sich aufmerksam und fordert so Nahrung, Zuwendung und Spaß ein

2 Samsung Whistle Papa-püpüpü: Ein bewundernder Pfiff wie von einem Bauarbeiter. Der „Whistle“ kündigt auf älteren SamsungSmartphones SMS und WhatsApp-Nachrichten an – außer, man stellt ihn aktiv aus. Das Geräusch wurde von vielen Nutzern allerdings als so störend empfunden, dass Samsung den Ton 2015 von seinen neuen Geräten verbannte

3 3,5-Zoll-Diskette Drrrpdrrrpdrrrp: Die 3,5-Zoll-Diskette ist die akustische Schwester des Nadeldruckers – ein monotones Schubbern zeigt die Datenübertragung an. Die erste Diskette wurde 1969 von

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Alan Shugart entwickelt und hatte 80 Kibibyte Speicherplatz, was umgerechnet der Kapazität von 1.000 Lochkarten entsprach, die noch früher verwendet wurden. Disketten-Papa Shugart war auch sonst recht umtriebig: Nebenberuflich war er Inhaber eines Damen-Bekleidungsgeschäfts

4 56k-Modem Biep-biep-biep-biep: Das 56kModem ist der Digital-Sound der Neunziger – willkommen im Internet, Sie sind jetzt verbunden. Wie der Name bereits verrät, ist Surfen mit 56k-Modem extrem langsam – die durchschnittliche Verbindungsgeschwindigkeit in Deutschland ist mittlerweile 160 mal schneller

5 Game Boy Kliiiing! Der Game Boy muss nicht mit orchestralen Tonfolgen protzen, um auf sich aufmerksam zu machen – ein simples Klingeln genügt. Seit seiner Geburtsstunde 1989 wurden über 118 Millionen Geräte verkauft, Tetris und Super Mario machten ihn und die Spiele zum Star. 1998 zog mit dem Game Boy Color schließlich Farbe ins Display ein

6 ICQ Messenger Oh-oh! Schlechte oder gute Nachrichten? Mit einem akustischen Stoßseufzer verschafft sich der InstantMessaging-Dienst ICQ seit 1996 Gehör. Entwickelt wurde die Software von vier israelischen Studenten, der Durchbruch kam vor allem, weil das Programm gratis war. Heute gehört ICQ einem russischen InvestmentUnternehmen

7 iPhone-Anruf Apple-Chef Steve Jobs war auch bei Klingeltönen Perfektionist und wählte „Marimba“ deshalb als iPhoneAnruf-Sound, weil dieser laut Wissenschaft optimal für einen Klingelton geeignet ist. Grund ist das Frequenzspektrum zwischen zwei und vier Kilohertz. Die 2005 entstandene Melodie verdankt ihren Namen einem Instrument aus Guatemala und ist neben dem „Nokia Tune“ einer der bekanntesten Klingeltöne weltweit

8 Nadeldrucker Sssstdrrsssstdrr: Ein tiefes Brummen, gefolgt von Kratzgeräuschen – der Sound des Nadeldruckers gilt mittlerweile als fast ausgestorben. Leisere Nachfolger wie

Tintenstrahl- und Laserdrucker haben ihrem Vorfahren den Rang abgelaufen. Einzig im Liefer- und Transportgewerbe hat der Nadeldrucker ein Reservat gefunden – dort wird er noch gerne für Durchschläge verwendet

9 Windows-95Startgeräusch Wruuuuummm-kling-klingkling: 35.000 Euro zahlte Microsoft dem britischen Musikproduzenten Brian Eno für die Melodie, die Millionen Windows-95-Nutzer beim Starten ihres Computers hörten. Insgesamt 84 Anläufe brauchte Eno, bis er und sein Auftraggeber zufrieden waren – der Jingle sollte „optimistisch, futuristisch und inspirierend“ zugleich sein. Später verriet Eno, dass die Windows-Melodie auf einem Mac komponiert wurde – und er selbst nie einen PC besaß

10 Nokia-Klingelton Dideldüdadideldüdada: 41 Prozent aller Menschen weltweit kennen den „Nokia Tune“, eine absteigende Tonfolge, die sich leicht traurig anhört. Der Klang ist eine Bearbeitung des Gitarrenstücks „Gran Vals“ des Spaniers Francisco Tarrega, der die Melodie 1902 komponierte

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1 In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ können Sie sich alle zehn digitalen Ohrwürmer anhören turi2.de/edition/ohrwuermer turi2 edition #5 · Digital Me

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Bullshit-Bingo 16 Sätze, die Sie hören werden, wenn Sie in der Firma über Digitalisierungskonzepte diskutieren. Wenn Sie vier Kreuze in einer Reihe haben, dürfen Sie laut „Bingo“ rufen und an uns denken

Meine Kinder nutzen dieses Snapchat.

Ich finde die Datei nicht.

Videos, wir brauchen Videos!

Der Chef meint, wir sollten was mit Influencern machen.

Das ist bei den Millennials gerade total angesagt.

Machen Sie mal einen Viral-Clip, der so abgeht wie der Edeka-Opi.

Wir müssen das alles tracken.

Bekommen wir das rechtzeitig gegreenlighted?

Wir brauchen erstmal eine Digital Roadmap.

Technisch ist das kein Problem.

Das ist ein Feature, kein Bug.

Der Traffic kommt doch von Bots.

Und was ist mit Datenschutz?

Mit ein bisschen Photoshop wird das!

Du, lass uns jetzt erstmal ein gutes Heft machen, das ist wichtiger.

Damit sollten wir warten, bis die neue Homepage fertig ist.

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Nichts hindert dich daran, morgen größer zu sein als heute.

In-Page-Portfolio - Der Qualitäts-Marktführer wächst und wächst unter dem Dach der Ad Alliance. Ab 01.01.2018 neu in der In-Page-Vermarktung: ntv.de, kochbar, wetter.de und alle weiteren Digitalmarken aus dem Portfolio der Mediengruppe RTL. Weitere Infos: gujmedia.de/wirbietenmehr

*Quelle: AGOF daily digital facts, Aug. 2017, individuelle Auswertung


Das digitale Ego

A-Z

von

Nichts verändert die Art, wie wir leben, lieben und arbeiten so sehr wie die Digitalisierung. In 26 Begriffen von A wie Amazon bis Z wie Zensur sprechen unsere Autoren Klartext Von Peter Turi und Katja Nettesheim

Amazon Die Erfinder des OneStop-Shopping ohne Stop haben aus dem König Kunden einen gottgleichen Herrscher gemacht, der mit einer Wischbewegung alles herbeizaubern kann – von der Büroklammer über Elefantenmist bis hin zum Auto. Mit dem AmazonLauschsprecher Echo kann er ein Kondom beim Vorspiel ordern, ohne die Hände vom Objekt seiner Begierde zu nehmen. Noch ist nicht sichergestellt, dass das Kondom per Drohne rechtzeitig zum Akt einschwebt – aber Amazon arbeitet daran.

Bezos, Jeff ist der Mann hinter dem Vormarsch von ► Amazon. Er hat mit dem Versand von Büchern angefangen und greift jetzt nach den Sternen. Bezos hat den Onlinehandel, das Cloud-Computing und vielleicht auch bald die Mondreise im Griff. Als Erfinder

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von Amazon hat er bewiesen, dass Bequemlichkeit der stärkste Treiber im Internet ist – noch vor ► Sex und Spartrieb. Bezos hat es geschafft, mit hundertprozentiger Kundenorientierung das Beste vom digitalen Käufer zu bekommen – sein Geld und seine Daten.

Chatbots Weil im Internet und den Sozialen Netzwerken alle senden und keiner empfangen will, übernimmt das geduldige Zuhören und gelegentliche Antworten in Zeitalter der Digitalisierung eine Maschine. Genauer gesagt: ein Algorithmus. Chatbots simulieren Dialoge – auf dem Niveau einer Barbiepuppe. Experten sagen ihnen eine große Zukunft im Marketing voraus, wo vorgetäuschtes Zuhören ja Tradition hat.

Datamining ist eine digitale und effiziente Form,

einerseits Nadeln im Heuhaufen zu finden und andererseits das Daten-Stroh zu Gold zu spinnen. Datamining findet selbst über die, die glauben, sie hätten nichts zu verheimlichen, etwas heraus, das diese doch gern verheimlicht hätten.

Ego Unser Ego ist das, was immer größer und ungeduldiger wird, weil die werbetreibende Industrie unsere Illusion füttert, wir stünden im Mittelpunkt der Welt. ► Amazon, ► Google, Instagram, ► Youtube und Co befeuern das Gefühl, die ganze Welt sei nur geschaffen, um uns 24 Stunden am Tag mit Informationen, Unterhaltung, Klamotten und Pizza zu versorgen. Dass all die Glücks- und Waren-Lieferanten nur unser Geld wollen, ist systembedingt, siehe ► Kapitalismus. Filterblase ist das, wo wir reingeraten,

wenn programmierte Entscheidungsregeln („Algorithmen“) unsere ► Ego-Zentriertheit bestärken. Damit es in diesem selbstgewählten Teilausschnitt der Welt schön wider­ spruchsfrei bleibt, sollten die Bewohner der Filterblase den Blick niemals vom Smartphone abwenden – echte Menschen könnten schlechter angezogen oder irgendwie anders drauf sein als digitale Freunde.

Google Die Suchmaschine sorgt dafür, dass jedermann mit jeder Peinlichkeit weltweit gefunden wird, die er jemals geschrieben, fotografiert oder sonst wie verzapft hat – und dass die Zahnspangen- und Erster-Rausch-Fotos der Generation Y für immer aufbewahrt und für jedermann zugänglich bleiben. Inzwischen ist Google nur noch eine Unterabteilung von Alphabet, einer sektenähnlichen Firma

von Möchtegern-Weltherrschern, die sich einbilden, alle Probleme der Menschheit mit Software lösen zu können.

Hacks spricht sich „Häks“ und bezeichnet Tipps für den Alltag aus der Kategorie: Was Oma noch wusste oder Mutti versäumt hat, uns beizubringen. Etwa der: Wenn du nur ein bisschen Zitronensaft brauchst, piekse die Zitrone mit dem Zahnstocher an, dann bleibt der Rest länger frisch. Hacks sind eine beliebte Kategorie bei ► YouTube und ein weiterer Beweis, dass die ► Filterblase die Familie langsam ersetzt.

Influencer klingt nach einer ansteckenden Krankheit, die sich epidemieartig verbreitet, die Sinne vernebelt und die Gesundheit gefährdet. Ist es auch. Influencer sind clevere Zeitgenossen, die der digitalen ► Ego-Gesellschaft ein turi2 edition #5 · Digital Me


profitables Geschäftsmodell abgerungen haben: Sie ziehen mit ihrem hübschen Gesicht oder ihrem gestylten Körper digitale Gefolgsleute („Follower“) an, um zum Beispiel bei ► YouTube oder Instagram Produkte anzupreisen.

JeremyMeeks-Effekt Ein Verbrecher wird reich und berühmt, weil er auf einem Polizeifoto wahnsinnig schöne blaue Augen hat und das Foto im Internet Abermillionen Klicks erzielt. Der Kleinkriminelle Jeremy Meeks aus Kalifornien, angeblich der „heißeste Verbrecher der Welt“, macht Karriere als Model und Instagramer – und schafft es als Gespiele einer Milliardärstochter auf die Titelseiten der Klatschpresse.

Kapitalismus ist das am wenigsten schlecht funktionie­ rende Wirtschafts­ system unter allen schlechten. Der Kapitalismus neigt zur weltweiten Monopolbildung, was Karl Marx schon vor 150 Jahren beschrieben hat und in digitalen Zeiten vornehm „PlattformKapitalismus“ heißt. Das Ergebnis ist das Gleiche: In jeder Branche hat nur ein Großkonzern das Sagen. Was heutzutage kaum jemanden stört, weil es für den Konsumenten bequem ist, siehe ► Amazon, ► Google, Facebook.

Liebe Etwas, was auch in digitalen Zeiten schwer zu finden ist, im Gegensatz zum ► Sex, der einem via ► Tinder zufliegt wie Schnupfen im Herbst.

turi2 edition #5 · Digital Me

Mobiltelefon

Quantified Self

► WhatsApp

heißt heute Smartphone und ist schon deshalb ein veralteter Begriff, weil wir mit dem Wunderding aus der Hosentasche kaum telefonieren. Sondern es als Ersatz-Hirn für alles und jedes nutzen – solange, bis wir es verlieren oder ins Klo fallen lassen. Dann schwappt ins verbliebene Stammhirn eine Welle von Konfusion und panischer Einsamkeit. Aus dem digitalen ► Ego wird das amputierte Ego.

Bewegung, die das ► Ego in Zeiten des Internets der Vermes­ sung und dem Ver­ gleich zuführt. Auf dass der Mensch noch mehr über seine ewige Unzulänglichkeit erfahre – und Apple, ► Google und die Krankenkasse dazu. Denn selbstverständlich machen Leistungsdaten erst dann richtig Spaß, wenn man sie mit anderen teilt und vergleicht. Auch wenn der dänische Philosoph Sören Kierkegaard sagt: „Der Vergleich ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“ – der ist halt nicht auf Facebook.

sind.

Nomophobia Die Angst, kein Netz fürs ► Mobiltelefon zu haben und die gefühlte Ewigkeit von 10 Minuten ohne Kontakt zur ► Filterblase und digitalen Tröstungen durchs analoge Jammertal zu tappern.

Offline geht einerseits gar nicht, siehe ► Nomophobia. Andererseits ist Offline der größte Luxus, für dessen Erlangung der gestresste Onliner sauteuere Seminare auf Fuerteventura bucht. Dabei würde ein Wochenende im Harz mit Freunden und Wanderstiefeln, aber ohne ► Mobiltelefon ausreichen. Siehe ► Kapitalismus. Privatsphäre ist das, was keiner braucht. Zumindest kein Mark Zuckerberg und kein Eric Schmidt, kein Facebook und kein ► Google. Diejenigen, die um ihre Privatsphäre fürchten, seien getröstet: Die Privatsphäre ist nicht weg, sie ist nur neu definiert. Ungefähr so: Privatsphäre ist, wenn lediglich 30 Leute zuschauen und ich selbst den Kamerawinkel wählen kann.

Rückenschmerzen sind zusammen mit Kurzsichtigkeit das, was auch die digital-kompetentesten Vertreter der Generation Y irgendwann ereilen wird und eine Krankheit, die so analogen Berufen wie dem Physiotherapeut und dem Augenarzt eine glänzende Zukunft sichert. Spätestens mit 30 werden die Allermeisten schmerzhaft feststellen müssen, dass der Mensch eigentlich nicht dafür konstruiert ist, den ganzen Tag vor Bildschirmen zu hängen. Sondern dafür, sich zu bewegen und auf eigenen Füßen seine Umgebung nach Nahrung, Schutz und Schönheit zu durchstreifen. Vielleicht hilft dann die Wander-App.

Sex ist heute im Internet frei verfügbar, sei es als Social oder Paid Media. Im Gegensatz zur ► Liebe, die zu finden eine analoge Aufgabe bleibt, auch wenn dabei digitale Hilfsmittel wie ► Tinder, Parship und

erlaubt

Tinder Das ► Amazon für schnellen Deshalb schlägt Tinder in diesem Lexikon sogar Twitter, das Instagram für Intellektuelle. Allerdings müssen auch Tinderer lernen, dass guter Sex zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein glückliches Zusammenleben ist und die ► Liebe eine Himmelsmacht bleibt.

► Sex.

Unicorn Das Einhorn war einst ein selten anzutreffendes, scheues Tier, inzwischen galoppiert das Pferd mit dem Phallus-Symbol auf der Stirn durch Kinderzimmer, aber auch durch die Kioske und Supermärkte einer infantilisierten Gesellschaft. In seiner Zweitbedeutung steht das Einhorn für jene seltene Spezies von Startups, die es auf eine Bewertung von über eine Milliarde Dollar bringen. Virtual Reality ist die künstliche Wirklichkeit, kurz VR. Mit Hilfe von VR und einer entsprechenden Brille kann jedermann vom Sofa aus in unendliche Weiten des digitalen Weltenraums fliegen – sofern es ihm nicht wie ungefähr einem Fünftel der Menschen geht und ihm dabei speiübel wird. Schnell stößt die vorgetäuschte Realität an ihre Grenzen: ► Liebe gibt es hier gar nicht, ► Sex nur sehr schlechten. Vorerst gilt, was Woody Allen gesagt hat: „Ich hasse die Wirklichkeit, aber es ist der einzige Ort, an dem man ein gutes Steak bekommt.“

WhatsApp Während das Smartphone, vormals ► Mobiltelefon, dir verspricht, nie mehr Langeweile zu haben, garantiert WhatsApp, dass du nie mehr allein bist. WhatsApp verlängert Freundes-, Kollegenund Familienkreise ins Digitale. Und ersetzt dabei mühelos das Telefon, die SMS, die E-Mail, den Stammtisch und den Kaffeeklatsch – aber eben auch sinnloses Real-Life-Geplapper. WhatsApp ist der Grund, warum Oma Rosi seit Weihnachten ein iPhone hat – weil sie sonst gar nix mehr von ihren Enkeln hört.

Xelfie Eine neue Disziplin des Selfie. Zwei Personen stehen nebeneinander und machen eines über Kreuz. Bitte sagen Sie nicht, dieses Phänomen hätten die Autoren dieser Zeilen erfunden, weil ihnen unter X nichts einfiel. YouTube Eine nur halb geschlossene (Fern-Seh-)Anstalt, in der sich Narzissten freiwillig einweisen können und Besucher niemals Langeweile haben, weil sie all den freiwillig eingewiesen Narzissten beim Faxenmachen zuschauen können. Zensur sollte in Zeiten des weltumspannenden Internets, wo Daten notfalls vom Himmel kommen, eigentlich der Vergangenheit angehören. Dem ist aber nicht so – zumindest nicht in Ländern wie China. Hierzulande beschneiden vor allem Algorithmen unsere Gedankenfreiheit, die uns nur Passendes in die ► Filterblase spielen. 25





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ri un Von Peter Tu

Christoph Keese, Sie sind Bestseller-Autor und Berater in Sachen Digitalisierung. Was sind die Stärken der deutschen Wirtschaft? Wo liegen die Schwächen? Die Stärken liegen in der Produktion hochwertiger Güter. Die Schwächen in der digitalen Vernetzung dieser Produktion über die Wertschöpfungsstufen und Branchen hinweg. Was ist zu tun? Das ist die Gretchenfrage. Eine Antwort in Kurzform: Präzise analysieren, wie die Wertschöpfungskette in der Zukunft vermutlich aussehen wird, herausfinden, welche Positionen dort am attraktivsten sind und sie dann schnell und entschlossen besetzen.

Was passiert, wenn nix passiert? Dann passiert es trotzdem. Nur eben nicht am bisherigen Ort.

größeren Digitalerfolgen aufwarten als die ganze EU zusammen. Danach gehört eine Reise ins Silicon Valley auf das Programm. Trotz des viel beschworenen SiliconValley-Tourismus: Nach wie vor ist die Zahl der Unternehmen und der Manager, die dorthin reisen, verschwindend gering. Wenn es zehnmal so viele wären wie heute, wären es immer noch zu wenige.

Sie bieten Reisen für Manager an, die digitalisieren wollen – wohin sollte die Reise gehen? Zuerst nach Berlin. Das liegt am nächsten und dort gibt es viel zu sehen und zu erfahren. Dann nach Tel Aviv. Das liegt nur wenige Flugstunden entfernt und kann mit

Lautet Ihre Botschaft: Vom Silicon Valley lernen, heißt siegen lernen? Nein. Sie lautet eher: Deutschlands Wirtschaft ist immer dann erfolgreich, wenn sie weltweit lernt und das Gelernte mit den eigenen Stärken zusammenführt. Also: Wir sind weltoffen

Das klingt jetzt sehr einfach. In Wirklichkeit ist das ungeheuer kompliziert und anspruchsvoll. Wie gut man diese Herausforderung bewältigt, entscheidet über das Geschick einer Firma.

Christoph Keese, Jahrgang 1964, besucht nach dem Abitur die Henri-Nannen-Schule in Hamburg und studiert Wirtschaft in Frankfurt und Marburg. 1988 geht er zu Gruner + Jahr und wird Assistent von Vorstandschef Gerd Schulte-Hillen – ein Posten, den danach Mathias Döpfner übernahm. Schulte-Hillen macht Keese mit gerade mal 25 Jahren zum Unternehmenssprecher von G + J. Später wird Keese geschäftsführender Redakteur der „Berliner Zeitung“, bei der „FTD“ steigt er zum Chefredakteur auf. Döpfner holt ihn 2004 zu Springer, macht ihn zum Chefredakteur der „Welt am Sonntag“, als Cheflobbyist kämpft Keese für das Leistungsschutzrecht. Seit Sommer 2017 leitet er Springers Beratungstochter Hy

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und wissbegierig. Wir erweitern unser erfolgreiches Modell durch Einsichten in den Erfolg des Silicon Valley. Sie waren Chefredakteur der „FTD“ und der „Welt am Sonntag“, Springers oberster Lobbyist, Vorkämpfer für das Leistungsschutzrecht, Buchautor, sind jetzt Berater. Sie haben sich immer wieder neu erfunden – warum suchen Sie die Veränderung? Veränderungen geben mir das Gefühl, im Einklang mit meiner Zeit zu bleiben. Mein Leben selbst zu bestimmen. Veränderungsdruck entsteht ja meist nicht aus uns selbst heraus, sondern von außen. Wir können nicht bestimmen, ob sich die Welt verändert oder nicht, sondern nur, wie wir darauf reagieren. Die Welt ruft uns ständig zu: „Du musst dein Leben ändern!“, wie Peter Sloterdijk es ausgedrückt hat. Das klingt für viele wie eine Zumutung. Dieser Zuruf ist tatsächlich eine Zumutung, denn viel lieber würden wir beim Erprobten bleiben. Meine persönliche Reaktion besteht in einer Art vorauseilender Anpassung: Autonomie heißt für mich, der Welle voraus zu sein, statt hinterrücks von ihr erwischt zu werden. Ich habe immer versucht, das zu machen, was als nächstes kommen muss: eine neue Art von Wirtschaftsjournalismus zum Beispiel, das Verhältnis zwischen Plattformen und Medien neu zu verhandeln oder dabei zu helfen, die Industrie zu digitalisieren. Warum scheuen die meisten Menschen Veränderungen?

»Die Welt ruft uns ständig zu: Du musst dein Leben ändern!« 30

Dieser Hang ist zutiefst menschlich und wahrscheinlich evolutionär bedingt. Wir sind die Nachfahren von Wesen, die ständig existentiellen Gefahren ausgesetzt waren und sichere Räume zu schaffen verstanden – Höhlen, Hütten, Häuser –, die sie nur verließen, wenn der Hunger sie trieb. Neophobie, also Veränderungsscheu, ist der menschliche Normalzustand. Das Gegenteil – Neophilie – ist die Ausnahme. Bei einem gewissen, eher kleinen Prozentsatz der Bevölkerung haben Veranlagungen kombiniert mit lebensgeschichtlichen Einflüssen zu Neophilie geführt.

Aber mein Hang zum Wandel ist Teil meiner Persönlichkeit geworden. Ich kann mir mich gar nicht mehr ohne ihn vorstellen, finde ihn gut und bin glücklich mit ihm.

Wie bei Ihnen? Einen Hang zum Klammern am Bewährten kenne ich auch von mir. Aber bei mir haben Erlebnisse in der Kindheit dazu beigetragen, dass ich mich gern verändere. Mein Vater hat bei IBM gearbeitet und wir sind oft umgezogen, auch ins Ausland. Die ersten Tage in einer neuen Stadt, in einer neuen Klasse waren immer furchtbar. Ich bin vor Angst fast vergangen. Besonders schlimm war die erste Pause, wenn ich alleine auf dem Hof stand und niemand mit mir redete. Aber ich habe schnell gelernt, damit umzugehen. Ich habe gelernt, wie man Freunde findet und vom Rand der Gruppe in deren Mitte rückt.

Sie haben zwei erfolgreiche Bücher mit jeweils über 70.000 Stück Auflage geschrieben – eines über das Silicon Valley und eines über die Digitalisierung in Deutschland. In Ihrem nächsten Buch, das 2018 erscheint, geht es um die Zumutungen und Segnungen des Umbruchs für jeden von uns. Was ist die Digitalisierung: Chance oder Bedrohung? Beides – so wie jede neue Technologie. Entscheidend ist: Die Begriffe „Chance“ und „Bedrohung“ spielen auf der Verstandesebene. Sie beschreiben nur einen Teil der Wirkung von Digitalisierung. Sie erfassen nicht, was unter dem Veränderungsdruck emotional mit uns geschieht. Versetzen wir uns in die Perspektive von Menschen, die immer öfter zu hören und zu lesen bekommen, dass ihr Beruf verschwinden wird: Taxifahrer, Kassiererinnen, aber auch Buchhalter, Steuerberater und Radiologen.

Und dann? Ist bei mir so etwas entstanden wie ein Urvertrauen in Veränderung: Bei einem Neuanfang passiert eigentlich nichts Schlimmes, und vieles wird sogar besser. Als meine Eltern dann sesshaft wurden, fand ich das fast schade. Ich bin dem Wandel treu geblieben und habe ihn mir fortan selbst organisiert. Macht Neophilie glücklicher als Neophobie? Eher nicht, glaube ich. Insgeheim beneide ich Menschen mit Veränderungsscheu. Ich stelle mir deren Leben als langen, ruhigen Fluss vor. Eine angenehme Vorstellung.

»Neophobie, also Veränderungsscheu, ist der menschliche Normalzustand«

Oder Journalisten. Ja, auch Journalisten erfahren mit Beklemmung, dass Maschinen Fußball-Spielberichte mittlerweile sogar aus der ersten Liga schreiben. Und dass das Publikum sie gemessen an Klickrate und Lesedauer manchmal interessierter aufnimmt als Texte von Menschen. Was lösen solche Neuigkeiten in uns aus? Wer reagiert da noch

in Kategorien von „Chance“ und „Bedrohung“ statt mit Unglauben, Beklemmung und Angst? Fast niemand, glaube ich. Je unübersichtlicher die Lage wird, desto lauter toben die Gefühle, und desto leiser schleicht die Vernunft. Welche Chance hat der Taxifahrer denn noch, wenn das Roboterauto kommt? Der Taxifahrer oder der Lkw-Lenker hat in Zeiten der autonomen Autos vermutlich so viel Zukunft wie der Heizer auf der E-Lok. Er hat nur die Chance auf einen totalen Neuanfang. Das ist jene Art von ExtremChance, wie sie aus jeder totalen Vernichtung von Existenzen entsteht. Das Haus ist abgebrannt, der Laden ist pleite, der Job ist weg – von dieser Art Chance reden wir. Von einer Stunde Null. Wir Apologeten der Digitalisierung reden uns ein, der Rest der Menschheit würde dieser Stunde Null begeistert entgegenfiebern, nur weil sie von bahnbrechender Technik ermöglicht wird. Der Wegdigitalisierte wird eine andere Sicht auf den Umbruch haben als der Unternehmensberater. Es ist höchste Zeit, die menschlichen und gefühlsmäßigen Komponenten der Digitalisierung in den Blick zu nehmen: Stimmt es eigentlich, dass 47 Prozent aller Berufe verschwinden werden, so wie es in den Studien steht? Welche neuen Chancen bieten sich den Menschen in diesen Berufen? Wie lange dauert der Prozess des Jobverlustes und der Umorientierung? Wer wird ausgesiebt und wer wird noch gebraucht? Was ist die Antwort? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Mich beschäftigt die Frage, wie Holschuld und Bringschuld verteilt sind. Natürlich: Aus dem Idealbild des mündigen Bürgers heraus liegt es in der Verantwortung des Einzelnen, sich mit Immanuel Kant aus der selbstverschuldeten turi2 edition #5 · Digital Me


»Insgesamt beneide ich Menschen mit Veränderungsscheu«

In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ diskutiert Christoph Keese öffentlich mit Peter Turi über Digitalisierung & Ego – auf Einladung von Landau Media und turi2.tv turi2.de/edition/keese


8 Tipps von Christoph Keese Erstens: Philosophische Debatten beenden und die Wirklichkeit nach spannenden Startups absuchen – weltweit. Da passiert viel mehr als man denkt. Empirie vor Philosophie.

Zweitens: Das eigene Geschäft aktiv kannibalisieren. Es wird sowieso kannibalisiert werden, da macht man es lieber selbst.

Drittens: Von außen lernen. Startups sind oft unglaublich kreativ. Viertens: Schneller werden.

Fünftens: Video und mobil sind die beiden wichtigsten Trends der gegenwärtigen Entwicklung. Daraus folgt: Mobile first und Video first.

Sechstens: Vom schlimmsten Szenario ausgehen, damit man eher positiv als negativ überrascht wird.


Siebtens: Partnerschaften schließen. Firmen selber gründern und in aussichtsreiche Firmen von Dritten investieren. Nicht mehr darauf verlassen, dass alles Wichtige und Richtige aus eigener Kraft entsteht.

Achtens: Das Geschäftsfeld der Firma immer wieder in Frage stellen. Märkte ändern sich sehr schnell. Wer sich zu eng definiert, verpasst wichtige Entwicklungen.

»Viele Leute glauben, dass sie nicht an Krebs sterben werden, sondern an Künstlicher Intelligenz«

Unwissenheit kraft seiner Vernunft zu befreien. Sprich: die Digitalisierung samt ihrer Gefahren und Chancen detailliert zu erkunden und einen neuen Job zu finden, noch bevor der alte ganz ausgestorben ist. So einfach ist das? Nein, wir können nicht erwarten, dass jeder Taxifahrer am Halteplatz Java übt und die Kassiererin nach Schichtende noch Python lernt, um schnell in die Kaste der Programmierer aufzusteigen. Wir müssen uns Gedanken über die Menschen machen, die dazu die Kraft oder das Talent nicht aufbringen oder die gar nicht wissen, was ihnen blüht. Wo die Bringschuld der Menschen nicht weiterreicht, entsteht eine Bringschuld bei Institutionen wie Arbeitgebern, Regierungen, Gewerkschaften oder Kirchen. Sie sollten uns ermuntern, Technik zu verstehen und ihre Auswirkungen zu begreifen. Gibt es auch eine Holschuld des Bürgers? Natürlich. Manchmal habe ich das Gefühl, das satte deutsche Bürgertum verlange von der Bundeskanzlerin, dass sie abends zu Hause persönlich klingelt und bei Schnittchen geduldig erklärt, was es mit der Digitalisierung auf sich hat und wie man ihr Chancen abgewinnen kann. Dann wiegen sich die Häupter voller Bedenken und man hält der Kanzlerin mit einem Argument nach dem anderen vor, warum Digitalisierung gefährlich ist und nicht funktioniert. Unwissen und Spekulation schießen ins Kraut. Ja. Viele Leute glauben ja inzwischen, dass sie nicht

an Krebs oder Diabetes sterben werden, sondern an Künstlicher Intelligenz. Der Aberglaube sitzt tief, und das Wissen ist mager. Was kann der Einzelne tun? Das Motto heißt „Disrupt Yourself“. Also in etwa: „Erfinde dich neu.“ „Disrupt Yourself“ ist auch der Arbeitstitel meines neuen Buchs. Es geht darum, für überholt zu erklären, was wir bisher gemacht haben, und neue Wege zu finden, noch effizienter zu einem noch besseren Ergebnis zu kommen. Das ist ausgesprochen schwierig. Und doch wird die Zukunft jeder Laufbahn und jeder Firma davon abhängen, wie weit wir zur Selbstdisruption in der Lage ist. Wie viel Selbstdisruption hat bei Ihnen das halbe Jahr bewirkt, das sie 2013 für Springer im Silicon Valley verbracht haben? Der Reisende überschätzt meistens das Maß seiner Veränderung. Als ich mit 17 Austauschschüler in Kalifornien in den USA war, kam ich nach meinem eigenen Eindruck stark verändert nach Hause zurück, doch meine Familie und Freunde fanden, dass ich mich gar nicht so sehr verändert hatte. Ich beobachte diesen Effekt heute selbst, wenn ich junge Leute vor und nach ihrem Schulaustausch erlebe. Sicher hat die Zeit im Silicon Valley meinen Sinn für die Radikalität der Digitalisierung geschärft. Sie ist eben nicht nur ein neuer Managementtrend, der übernächstes Jahr wieder abgelöst ist. Digitalisierung ist ein neues Betriebssystem der Weltwirtschaft – also ein sehr grundlegender Wandel.

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»Wir können nicht erwarten, dass jeder Taxifahrer Java übt« Und auf der persönlichen Ebene? Mir hat die Zeit im Silicon Valley Respekt vor charakterlicher Unabhängigkeit gelehrt. Das Silicon Valley wimmelt von Menschen aus aller Welt, die es leid waren, nach Formeln und Schablonen zu leben. Von anderen gesagt zu bekommen, was sie tun und denken sollen. Wie sie sich zu kleiden und zu benehmen haben. Was geht und was nicht geht. Das Silicon Valley ist ein Fluchtpunkt für Leute, die aufhören, das Leben anderer Menschen zu leben, und beschließen, nur noch sie selbst zu sein. Es ist ein Sammelplatz für Macken, Schrullen und Genialität. Diese Kompromisslosigkeit des Selbstseins ist der Hauptgrund für die magische Wirkung des Silicon Valley auf seine Besucher. Kommen Sie, in vielen Punkten sind die Leute aus dem Valley doch konform: die sehen oft ähnlich aus und reden alle gleich. Natürlich ist nicht jeder, der dort lebt und arbeitet, ein Hochbegabter, der zu sich selbst gefunden hat. Doch es gibt dort mehr solcher Leute als an den meisten anderen Orten der Welt. Was die Konformität angeht: Stimmt, das Zuckerberg-T-Shirt und die muskulösen Oberarme sind dort ein Trend. Und ja, man wirft gern mit gestanzten Vokabeln um sich. Doch durch alle Stereotypen hindurch leuchtet ein helles Licht der Originalität. Man kann dort nicht hinfahren, ohne danach die Macht von Autoritäten in seinem Leben in Frage zu stellen und der Stimme seiner eigenen Aufsässigkeit Gehör zu schenken.

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Nachdem Vorstandschef Mathias Döpfner und seine Topmanager im Silicon Valley waren – regiert jetzt bei Springer die Aufsässigkeit? Nun ja, es war ja nicht nur ein Besuch, und es war auch nicht nur das Silicon Valley. Wir reden ja eher von einem langen und breiten Transformationsprozess, der seit vielen Jahren andauert. „Aufsässigkeit“ trifft es auch nicht ganz. Ich würde eher von geistiger Beweglichkeit sprechen. Von der Bereitschaft, das Gewohnte grundsätzlich in Frage zu stellen. Axel Springer sieht sich selbst auf dem Weg zum digitalsten Verlagshaus – wie weit sind Sie? Das Unternehmen ist nach meiner Beobachtung noch unternehmerischer geworden und hat sich noch mehr der Digitalisierung verschrieben. Und es hat sich noch entschlossener an Herausforderungen herangewagt, die gemeinhin als schwer lösbar galten, die aber – wie der Erfolg jetzt zeigt – durchaus greifbar waren. Konkret? Drei Beispiele: Paid Content. Mit den Abomodellen bei „Bild“ und „Welt“, aber auch mit „Politico“ und „eMarketer“ ist bewiesen, dass Leserinnen und Leser für gute Inhalte zu zahlen bereit sind. Der Pessimismus auf den Podien der Medienbranche und in den Feuilletons war deplatziert, das Mantra „Wer Geld vom Leser will, hat das Internet nicht verstanden“ war falsch. Zweitens: Nachrichten-Aggregation. Mit Upday hat Axel Springer gezeigt, dass wir den kalifornischen Aggregatoren ein besseres Produkt erfolgreich entgegensetzen können. Oder drittens: Mit Qwant zeigt sich, dass sich selbst auf dem vom Google nahezu monopolartig beherrschten Markt für Suche das eine oder andere bewegen lässt. Darf ich Wasser in den Wein schütten? Digitale „Bild“- oder „Welt“-Abos verkaufen sich nur zäh,

Upday ist auf SamsungSmartphones eine ungeliebte Zugabe, die datensparsame Suchmaschine Qwant macht nicht mal in ihrem Heimatland Frankreich eine Schnitte gegen Google. Einspruch! Denken Sie ein halbes Jahrzehnt zurück: Da galt es als undenkbar, Hunderttausende von Abos an Digital-Leser zu verkaufen, Flipboard und Google News eine europäische Alternative entgegenzusetzen, die ein Millionen-Publikum erreicht, und bei der Websuche auch nur allerkleinste Marktanteile zu erschließen. All dies ist inzwischen gelungen. Wir Deutschen täten gut daran, öfter gute eigene Digitalprodukte auf den Markt zu bringen statt uns geschlagen auf dem Rücken zu legen und darüber zu philosophieren, dass wir gar nicht anders konnten als verlieren. Auch in der digitalen Welt kommen Tatmenschen weiter als Kulturpessimisten. Aber natürlich ist damit nicht gesagt, dass alle Probleme gelöst sind und der Journalismus gerettet ist. Es bleibt viel zu tun. Doch es gibt Fortschritt – nur das wollte ich sagen.

Was ist eigentlich Ihre Aufgabe bei Springer? Ich bin Unternehmer im Unternehmen. Konkret: Seit Anfang des Jahres bin ich geschäftsführender Gesellschafter der Axel Springer Hy GmbH, die mehrheitlich Axel Springer und zu 35 Prozent mir und anderen Managern gehört. Für mich ein Glücksfall. Es ist ein prickelndes Gefühl, beteiligter Unternehmer im Konzernverbund zu sein. Wen beraten Sie mit Ihrer Firma Hy? Eine ganze Reihe von Firmen vom Mittelstand bis zu Dax30-Unternehmen, die sich den Herausforderungen der Digitalisierung stellen möchten. Geht‘s ein bisschen konkreter? Namen nenne ich nicht. Wir arbeiten diskret, weil wir mit unseren Kunden Strategien und Projekte ausarbeiten, die ihnen einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Da wäre es doch schade, wenn jeder davon wüsste.

Okay, aber was bleibt noch zu tun? Was packt Springer als nächstes an? Das verrate ich jetzt natürlich nicht. Nur so viel: Die digitale Welt verändert sich rasant. Wer sich nicht ständig auf dem neuesten Stand hält, ist schnell abgemeldet. Darin sind wir gut: paranoid zu bleiben, Neues zu verstehen und uns ständig neu zu erfinden.

Was raten Sie Ihren Kunden? Dass sie evolutionäre und disruptive Innovation organisatorisch trennen sollten. Dass neue Geschäftsmodelle so viel Wandlungskraft erzeugen können wie neue Technologien. Dass es nicht Aufgabe des Vorstands sein kann, die inhaltliche Antwort vorzugeben, sondern es seine Aufgabe ist, die Suche zu organisieren. Dass gründliche Analyse Voraussetzung für erfolgreiches Handeln ist.

»Darin sind wir gut: paranoid zu bleiben und uns ständig neu zu erfinden«

Kluge Gedanken, aber noch keine Rezepte. Unsere Unterstützung besteht nicht darin, dass wir unsere Kunden mit vorgefertigten Ratschlägen versorgen. Sondern wir gehen gemeinsam mit ihnen auf eine Reise und arbeiten heraus, was für sie das Richtige ist. Dabei setzen wir auf das Ökosystem. Wir wissen, dass angesichts der rasanten digitalen Entwicklung niemand mehr alles wissen kann. turi2 edition #5 · Digital Me


beiter in die Digitalisierung mitnehmen zu wollen, aber nicht darauf zu warten, bis der letzte seine Trägheit überwunden hat. Bevor man digital erfolgreich wird, muss eine Organisation die Infrastruktur für Veränderung schaffen. Es reicht nicht mehr, lange Listen mit Ideen bei Design-ThinkingWorkshops zu erarbeiten und Produktkonzepte bei Strategie-Tagungen in Landhotels zu verfassen. Sondern? Unternehmen müssen jetzt ernsthaft der Frage nachgehen, welche Strukturen solche Listen unternehmerisch zur Wirklichkeit werden lassen. Entwicklungslabore zu bauen, die am Markt erfolgreich sind, ist schwierig. Wichtig wird auch sein, Innovation nicht nur von innen zu betreiben, sondern auch außen hereinzuholen. Die Wahrscheinlichkeit, einen Treffer zu landen, steigt, je größer man das Suchfeld zieht. „Wir erfinden alles selbst, weil wir die Besten sind“ funktioniert heute nicht mehr so gut wie früher. Man muss weltweit nach den Besten schauen und dann in sie investieren oder mit ihnen kooperieren. Das stellt einen grundlegenden Wandel gegenüber dem traditionellen Innovationsmodell dar.

Der Charme des Schmuddeligen regiert bei Hy in der Berliner Markgrafenstraße

Deswegen binden wir die besten und klügsten Köpfe aus Startups, Unternehmen und Wissenschaft mit unseren Kunden zusammen. Eine besondere Rolle spielt immer das Team des Kunden. Erst wenn möglichst viel Wissen zusammenkommt – aus dem Unternehmen und aus dem externen Ökosystem –, stimmen die Ergebnisse. Nennen Sie mal ein Beispiel! Zum Beispiel möchte ein großes Logistik-Unternehmen wissen, wie sich sein Geschäft ändern wird, wenn turi2 edition #5 · Digital Me

Amazon Waren in Großstädten künftig 15 Minuten nach der Bestellung an die Haustür bringt. Die gleiche Frage stellt sich ein großer Handelskonzern. Für beide kann diese Entwicklung lebensbedrohlich sein. Wir suchen die besten Experten aus Startups, Wissenschaft und traditionellen Unternehmen und starten eine intensive Suche nach Technologien und Geschäftsmodellen, aus denen man eine erfolgreiche Antwort auf Amazon schmieden kann. Ein anderes Beispiel: Ein Auto-Konzern möchte

wissen, wie er Geld im Auto verdienen kann, wenn die Menschen die Hände vom Steuern nehmen können und nicht mehr selbst lenken müssen, weil die Maschine das übernimmt. Oder ein Maschinenbauer möchte verstehen, wie er das Internet of Things einsetzen kann, um Ausfälle seiner Maschinen beim Kunden rechtzeitig zu erkennen und ihnen vorzubeugen. Was muss bei den Unternehmen passieren? Hier wird es zunehmend wichtiger, zwar alle Mitar-

Was wird uns die Digitalisierung insgesamt bringen? Von den persönlichen Zumutungen der Digitalisierung einmal abgesehen, bringt die digitale Revolution durchaus Heilsames in die Welt. Eine Zukunft ist greifbar geworden, in der wir uns von vielem Schlimmen befreien können: von der Perversion der 3.200 Verkehrstoten in Deutschland, von verstopften Straßen und langsamen Zügen, von unnötigen Todesfällen durch Fehldiagnosen, den übertriebenen Spannen des Handels, der Verschwendung von Ressourcen durch Fehlallokationen, der Vergeudung von Kapital durch Umlaufvermögen und vielem anderen mehr. Die Möglichkeit,

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Turnschuhe statt Nadelstreifen: Keeses Team pflegt Look-and-Feel eines Startups

dies zu tun, bringt mit sich die Pflicht, es auch zu verwirklichen, denn ein Werkzeug nicht einzusetzen, das Linderung verspricht, ist unterlassene Hilfeleistung. Das ist die rosarote SiliconValley-Brille: Alle Menschheitsprobleme werden durch Technologie gelöst. Daran glaube ich nicht. Ob ich das glaube und Sie das nicht glauben, spielt keine Rolle. Es handelt sich nicht um Glaubensfragen. Es zählen allein die Fakten. In der Digitalisierung wird penibel gemessen. Tatsache ist: Mit Einführung des selbstfahrenden Autos wird die Zahl der Verkehrstoten dramatisch sinken, weil

»Es wird im Jahr 2050 neue Geißeln und Plagen geben« 36

endlich der Mensch – dieser hundsmiserable Autofahrer – vom Lenkrad ferngehalten wird. Krebserkrankungen lassen sich viel früher erkennen, weil schon bald der beste Radiologe keine Chance mehr gegen die Präzision der selbstlernenden Künstlichen Intelligenz hat. Also sehen Sie gar keine Nachteile? Oh doch. Keine Technologie ohne Nebenwirkungen. Man neigt dazu, die Kosten von Technologie zu unterschätzen. Deswegen ist es unerlässlich, sie mit in den Blick zu nehmen. Nicht, um das Handeln zu unterlassen, sondern um die Handlung richtig zu kalibrieren. Ich habe Nick Bostroms Buch „Superintelligence“ verschlungen, weil es eindrucksvoll zeigt, welche Regeln wir in Sachen Künstlicher Intelligenz jetzt aufstellen müssen. Was wir jetzt nicht regeln, kommt hinterher zu spät. Welche Regeln brauchen wir, um die Künstliche Intelligenz zu bändigen?

Ich habe an der von Giovanni die Lorenzo ins Leben gerufenen Initiative zur Aufstellung einer GrundrechteCharta mitgewirkt, um einen ersten Antwortversuch auf diese Frage zu geben. Ich finde den Entwurf bemerkenswert und empfehle ihn zur Lektüre. Greifen wir einige Beispiele heraus: Menschen sollten das Recht haben, bei einer menschlichen Instanz zu appellieren, bevor eine von einem Computer gegen sie getroffene Entscheidung vollstreckt wird. Wenn „Predictive Policing“ voraussagt, dass jemand mit 98 Prozent Wahrscheinlichkeit in der nächsten Stunde ein Verbrechen begeht, sollte er nicht auf Verdacht hin verhaftet werden. Die Unschuldsver­ mutung muss intakt bleiben. Wenn eine Krankenversicherung meinen Aufnahmeantrag aufgrund maschineller Risikoanalyse ablehnt, muss ich das Recht bekommen, dagegen bei einem Menschen Widerspruch einzulegen. Eine Drohne darf nicht einfach automatisch

Raketen abfeuern, weil ein Algorithmus ihr sagt, dass die Menschen dort unten Terroristen sind. Strich drunter – und für meine Kinder und Enkel gefragt: Wird es eine Lust sein, im Jahr 2050 zu leben? Falls sich die Menschheit bis dahin nicht selbst in die Luft sprengt, wird das Jahr 2050 eine Wonne sein. Geißeln, die uns heute plagen, werden verschwinden. Einfache Plausibilitätsprobe: 2050 liegt 33 Jahre voraus. Hätten Sie heute noch Lust, 33 Jahre zurück ins Jahr 1984 verbannt zu werden? Für eine kurze Retro-Zeitreise – einverstanden. Aber auf Dauer? Ein Leben ohne Smartphone, Internet, Amazon, Schengen-Abkommen, Billigflüge, lärmunterdrückende Kopfhörer, Car-Sharing und Deep House? Nicht für mich. Gewiss ist aber auch: Es wird 2050 neue Geißeln und Plagen geben. Deswegen wird 2100 noch besser als 2050.

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a t i g i d n i e M Annika Teuchtler, 15

Hildegard Wally Böhme, 98

nutzt Instagram, Snapchat und Houseparty. Nur der WhatsAppKlassenchat nervt sie manchmal – Seite 44

surfte am liebsten mit ihrer Enkelin im Netz, um Kleidung zu bestellen – Seite 54

Helmut Oertel, 90

stieg vor zehn Jahren ins Internet ein. Mittlerweile macht er auch Online-Banking – Seite 40

Horst Beyer, 83 Bruno und Max Wolf, 6

sind nicht nur Internet-Verkaufsprofis, sondern putzen auch ihre Zähne digital – Seite 48

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liebt sein iPad – auch wenn er manchmal Probleme mit der Leertaste hat – Seite 50

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n e b e L s e l

e. irtuelle Katz v e in e rt e tt it und fü rem Alltag m ssik, Lea ist 8 ih la n K o t v m n a e re h st sc 0 und ge Men Helmut ist 9 vier sehr jun d n u e lt a r ählen h nf se y und Co erz d n a turi2 lässt fü H , n ie d Me Protokol

nnes Arlt

tos von Joha

Fischer, Fo le von Anne

Christa Fuchs, 92 glaubt, dass das Internet für sie zu kompliziert sein könnte – Seite 64

Hans Reuter, 88 sitzt manchmal bis spät nachts vor dem Computer – Seite 58

Lea, 8 hat ihr Smartphone von ihrem gesparten Taschengeld bezahlt – Seite 62

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Helmut Oertel, 90

»Bei Facebook will ich nicht sein. Ich gehe zum Männerkochkreis«

wurde 1927 in Pelplin in Polen geboren und wuchs in DanzigOliva und in Polen auf. Im Zweiten Weltkrieg wurde er zur Luftwaffe eingezogen und kam danach in amerikanische und französische Gefangenschaft. Später studierte er Architektur, Deutsch, Geschichte und Sozialkunde und wurde Lehrer. Er unterrichtete an verschiedenen Schulen in Berlin und stieg zum Oberschulrat auf. Seit dem Tod seiner Frau Anfang 2017 lebt er allein in Kleinmachnow bei Berlin. Als Zeitzeuge spricht er mit Schülern und ausländischen Besuchern über seine Erlebnisse im Krieg

F

rüher wurde nicht einfach drauflosgeknipst wie heute. Ein Bild zu machen war richtiger Aufwand: „Sitz doch mal gerade“, „Halt‘ jetzt mal still“, – das hat mein Vater immer gesagt, wenn er fotografiert hat. Die Kamera stellte er auf ein Stativ, und wenn er Licht haben wollte, musste er einen echten Lichtblitz zünden. So ist wohl auch eines der ältesten Fotos entstanden, das es von mir gibt. Darauf bin ich etwa anderthalb Jahre alt und mit meinen Geschwistern zu sehen. Ein anderes Bild, an dessen Aufnahme ich mich gut erinnere, ist das in meinem Flugbuch. 1942, da war ich 14 Jahre alt, habe ich mit dem Segelfliegen begonnen. Aus unserer Sicht war das Fliegen ein Hobby. Normalerweise bringt man ein Segelflugzeug erst im letzten Moment zum Landen, damit man möglichst viel Flugzeit gewinnt. Aber wir mussten schon auf 200 Metern Höhe die Landung einleiten und nicht auf der Kufe, sondern auf dem Sporn landen – ähnlich wie bei der Landung eines Motorflugzeugs. Unsere Fluglehrer hatten im Gegensatz zu uns Kindern nämlich schon im Hinterkopf, uns

zu Fliegern auszubilden, die im Krieg eingesetzt werden konnten. Einer war Hauptmann bei der Luftwaffe, der Flugschulleiter hatte auch einen militärischen Rang. Im Nachhinein betrachtet war das Glück und hat mein weiteres Schicksal bestimmt. Denn damals gingen SS-Leute durch die Schulen und warben Schüler an. Als Flieger war ich davor geschützt und musste ihnen auch keine weiteren Auskünfte geben. Nach dem Krieg habe ich einen Bausatz für eine Art Radio gekauft, das man selbst zusammenbasteln konnte. Ich wollte Nachrichten und mal ein bisschen Musik hören. Aber ich war kein glühender Radio-Anhänger wie andere, die sich zum Beispiel amerikanische JazzMusik besorgt haben. Meine Frau und ich haben uns auch erst recht spät einen Fernseher zugelegt, das war in den Sechzigern. So ein Ding kostete ja ganz schön was. Der Apparat lief dann abends zur „Tagesschau“, wenn ein Fußballspiel war oder mal ein schöner Film kam. Besonders intensiv haben wir aber nicht ferngesehen, wir hatten anderes zu tun. Heute schaue ich mir gerne Technik-Dokumentationen oder Sendungen über

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Helmut Oertel (links) im Alter von etwa eineinhalb Jahren mit seinen Geschwistern. Das Foto machte sein Vater

Eine Stereoanlage besitzt der 90-Jährige noch immer. Dazu­ gesellt hat sich ein Tablet

Bauwerke an. Aber im deutschen Fernsehen grassiert zur Zeit ja eine regelrechte Krimiflut. Wenn du einmal durchzappst, laufen auf verschiedenen Kanälen ein halbes Dutzend Krimis gleichzeitig, das ist verrückt. Ich fahre seit über 60 Jahren Auto, ich nutze das Telefon und auch ein Handy. Das hatte ich eingeführt, um mit meiner Frau Kontakt aufnehmen zu können, wenn ich unterwegs war. Irgendwann funktionierte das aber nicht mehr, weil sie nicht mehr damit klarkam. Ins Internet bin ich vor ungefähr zehn Jahren eingestiegen. Davor hatte ich schon eine elektrische Schreibmaschine. Ich benutze das

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Internet im Wesentlichen für drei Dinge: Erstens mache ich Onlinebanking. Viele ältere Menschen halten das für unsicher, und ich bin auch empfindlich, was Sicherheit angeht. Aber ich treffe die empfohlenen Vorkehrungen, damit nichts schiefgeht. Außerdem schreibe ich E-Mails. Und drittens: Ich lese viel im Internet, zum Beispiel Nachrichten bei der ARD und dem Deutschlandfunk. Man kann übrigens auch die Philharmoniker im Internet hören, das haben meine Frau und ich genutzt, als wir nicht mehr so gut rauskamen und unser Abonnement bei der Philharmonie aufgegeben haben. Den digitalen Wandel sehe ich positiv, er bringt große

Erleichterungen für den Alltag mit sich. Ich muss nicht immer zum Briefkasten oder zur Bank fahren, ich kann mir schnell einen Nachrichtenüberblick verschaffen oder mir einen Fahrtweg ausdrucken. Wenn ich Fragen zum Computer habe, helfen mir mein Sohn oder mein Enkel. Weil ich früher als Lehrer gearbeitet habe, habe ich außerdem noch einen Freund, der sich schon sehr früh mit dem digitalen Wandel beschäftigt hat. Er war einer meiner Kollegen und hat Informatik unterrichtet. Ich nutze den Laptop zwar nicht so sinnvoll und rational, wie ich ihn nutzen könnte. Zum Beispiel, um all meine

Fotos oder Dokumente zu ordnen und zu verwahren. Da habe ich Defizite, aber das ist mir auch nicht wichtig. Facebook und die anderen Netzwerke kenne ich flüchtig, aber da will ich nicht sein. Das wäre für mich eher eine weitere Tätigkeit, die ich ausüben muss. Ich habe andere Dinge zu tun: Ich gehe zum Männerkochkreis, zum Kieser-Training, treffe Freunde, ich male auch – und ich muss meinen Haushalt führen. Das Wichtigste im Leben kann ich sofort in einem Satz zusammenfassen: Frieden, aber nicht ohne Freiheit. Mehr muss ich dazu nicht sagen, oder?

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Auftritte der Berliner Philharmoniker verfolgt Oertel Ăźber deren hauseigenen Streaming-Dienst


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ch habe ein Smartphone, einen Laptop und einen Fernseher in meinem Zimmer. Besonders viel fern schaue ich eigentlich nicht. Ich hatte vor einer Weile eine sehr ausgeprägte „Gossip Girl“-Phase und sehe jeden Abend „GZSZ“. Das war‘s. Auf dem Laptop arbeite ich für die Schule und spiele. Von unserer Schule wird das teilweise gefordert, zum Beispiel wenn wir Powerpoint-Präsentationen erstellen müssen. Beim Spielen ist mir wichtig, dass der Laptop nicht hängt. Ich spiele Sims, ich habe fast alle Erweiterungen: „Jahreszeiten“, „Late Night“, „Lebensfreude“, „Traumkarriere“. Das ist aber ziemlich zeitaufwendig, deshalb spiele ich nicht mehr so oft. Meine Eltern geben meiner Schwester und mir keine Internetregeln oder so. Sie bezahlen meinen Handyvertrag, ich habe eine Flat für alles. Ich lade aber auch nichts Kostenpflichtiges runter. Sie sagen natürlich manchmal, dass ich zu viel am Handy hänge. Früher hat meine Mutter darauf geachtet, dass ich es nachts komplett ausmache, aber jetzt fragt sie nicht mehr danach. Ich packe es abends aber auch von selbst weg.

In Annikas Zimmer tummeln sich außer ihrem Smartphone auch ein Laptop und ein Fernseher

»Der ganze Social-Media-Kram macht teilweise schon Stress«

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Annika Teuchtler, 15 wurde 2002 in Halle geboren und besucht die neunte Klasse eines Gymnasiums. In ihrer Freizeit geht sie gern reiten und trifft sich mit Freunden. Nach der Schule will sie in ihrer Heimatregion bleiben und einer Arbeit mit Kindern nachgehen – zum Beispiel als Psychologin. Sie wünscht sich später eine Familie mit Kindern, einen Garten und genug Geld, um ein eigenes Pferd darin halten zu können


In der Schule müssen wir unsere Handys während des Unterrichts ausmachen, in den Pausen ist es den Lehrern egal. In manchen Fächern benutzen wir die Handys auch, um was zu googeln. Letztes Jahr hatten wir einen Spanisch-Referendar, der für den Unterricht verschiedene Apps genutzt hat, zum Beispiel, um zu Hause Vokabeln zu lernen. Ich fand das nicht wirklich hilfreich, weil ich jedes Mal abgelenkt war, wenn mir jemand geschrieben hat. Wenn ich lerne, versuche ich sowieso, mein Handy auszumachen, damit ich Ruhe habe. Als Apps installiert habe ich ein paar Spiele, eine FitnessApp, bei der es Anleitungen zu Sportübungen gibt, und die sozialen Netzwerke. Ich bin bei Instagram, Snapchat und Houseparty. Das ist so ähnlich wie Skype, man kann damit aber auch Videochats mit bis zu sechs Leuten machen. Bei Facebook bin ich gar nicht und war es nie, meine Freunde auch nicht. Über Snapchat chatte ich eher mit Freunden, bei Instagram gucke

ich mir Bilder an. Ich folge 76 Leuten, also gar nicht so vielen. Es sind fast alles Freunde und ein paar YouTuber. Ich like nicht nur, weil mir ein Foto gefällt, sondern fast automatisch, wenn ich jemanden abonniert habe. Aber mich nervt es, wenn bekannte Instagramer am Tag zehn Bilder posten und ich deshalb Bilder von Freunden übersehe. Bei YouTube bin ich nur, um Videos zu schauen, am liebsten Vlogs. Ich habe, glaube ich, noch nie ein Video kommentiert. Die Interaktion ist mir nicht so wichtig, ich gucke eher morgens Videos, wenn ich mich schminke. Das entspannt mich. Ich nehme aber zum Beispiel an Abstimmungen von YouTubern teil, zum Beispiel, welche Themen einen interessieren oder welches Video als nächstes kommen soll. Bei Snapchat bin ich nur für meine Freunde sichtbar, bei Instagram öffentlich. Dort lade ich nur Ausgewähltes hoch, meistens Pferdebilder. Bei Snapchat erzähle ich teilweise, wo ich gerade bin

und solche Sachen. Das wäre mir öffentlich zu gefährlich. Was Datenschutz angeht, sind meine Freunde auch eher vorsichtig. Manche in meiner Klasse schreiben privat mit Leuten, die sie nur von Instagram kennen, auch mit Typen. Das finde ich seltsam. Am meisten schreibe ich aber über WhatsApp. Wir haben zum Beispiel einen Klassenchat, da sind alle 28 Leute drin. Manchmal kommt es vor, dass jemand aus dem Klassenchat austritt, weil es mit unseren Jungs viel zu nervig ist. Die schicken teilweise komische Fotos, die sie bearbeitet haben; sie montieren den Kopf von irgendwem auf einen Rollstuhlfahrer oder sowas, weil sie das lustig finden. Da gab‘s schon mal Stress, es sollte sogar eine Anzeige geben. Seitdem halten sie sich damit zurück. Jedenfalls haben wir auch noch einen MädchenKlassenchat, wo wir über die wirklich nützlichen Sachen schreiben. Das Letzte, was ich abends mache, ist aufs Handy gucken. Und auch das Erste,

was ich morgens mache. Ich stelle mir sogar meinen Wecker eine viertel Stunde früher, damit ich mir alles ansehen kann. Teilweise macht der ganze Social-Media-Kram aber schon Stress. Meine Schwester hat über 10.000 Fans bei Instagram, weil sie früher viele Bilder vom Reiten und von Pferden hochgeladen hat, das wollten die Leute sehen. Bis vor Kurzem haben wir uns deshalb sonntags alle auf dem Reiterhof getroffen, um schöne Bilder zu machen. Das hat irgendwie Druck aufgebaut bei ihr, deshalb hat sie damit aufgehört. Ich nehme mir öfter vor, nicht ganz so viel am Handy zu sein, weil es manchmal stresst. Übers Handy zu streiten finde ich zum Beispiel ganz schlimm, weil man dabei so viel missverstehen kann. Und manchmal denke ich, ich muss überall und immer erreichbar sein. Das ist teilweise wie eine Art Gruppenzwang. Aber man muss einfach mal ohne Handy rausgehen.

Mehr Ruhe wünscht sich Annika manchmal – denn ständig via Smartphone erreichbar zu sein, empfindet sie manchmal als sehr stressig

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Foto: Oliver Mark / DER SPIEGEL

„Nachrichten wiederzugeben reicht uns nicht. Wir wählen aus, erklären, ordnen ein. 24 Stunden am Tag.“ Barbara Hans, Chefredakteurin von SPIEGEL ONLINE, koordiniert 160 Redakteure weltweit

spiegel.de/KeineAngstvorderWahrheit


Max Wolf, 6 Zwillingsbruder von Bruno, wohnt in Dresden. Er hat schon mal heimlich die Nacht zum Tag gemacht und im Fernsehen Folge um Folge „Asterix und Obelix“ geschaut. Der nächste Tag im Kindergarten war hart

Bruno Wolf, 6 Zwillingsbruder von Max, wohnt in Dresden. Er mag Spielplätze und Bowling. Die Diktierfunktion des Handys, mit der unser Gespräch aufgezeichnet wurde, war ihm nicht geheuer – er befürchtete, Banditen könnten es später abhören

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m liebsten spiele ich auf dem Tablet Lego Ninjago. Das sind Ninja-Figuren mit Kapuzen auf dem Kopf, die gegen Böse kämpfen. Außerdem sammle und tausche ich auch Ninjago-Karten, ich habe fast hundert. Sogar eine goldene Ultrakarte, der Ninja da drauf ist wie eine Katze, und Mama sagt, Katzen haben vier Leben. Meine Katze ist acht, die ist schon im vierten Leben, glaube ich. Auf dem Telefon von meinem Papa höre ich gern „Die drei Fragezeichen“. Nur zum Einschlafen darf ich das nicht, weil ich dann nicht einschlafe. Selbst dürfen wir nur ganz selten ans Handy, das geht auch gar nicht, weil da Papas Fingerabdruck eingespeichert ist. Aber ich brauche sein Handy gar nicht, ich habe nämlich ein eigenes Tablet. Damit kann ich Filme gucken, Spiele spielen und Bücher lesen. Ich habe ein Spiel mit einem Piraten, der mir immer sagt, was ich tun soll. Zum Beispiel: „Füttere mein

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mmer freitags ist bei uns Gucktag. Da dürfen wir so viele Filme gucken, wie wir wollen, und manchmal auch noch einen Familienfilm mit Mama und Papa. Ohne den Fernseher würden mir Filme fehlen. Aber der Fernseher ist für mich und Max gerade zwei Monate weg, sogar im Urlaub. Wir dürfen erst wieder gucken, wenn wir schon in der Schule sind. Wir waren ein bisschen bockig. Also, mehrmals ein bisschen sehr bockig. Deshalb. Das Internet kenne ich, das ist so ein Netz, um den Computer zu benutzen. Ich bastle zum Beispiel Tarnkappen-Fahrzeuge aus Steckperlen, und die verkaufe ich im Internet für 2,50 Euro. Das heißt, mein Papa verkauft die auf dem Handy. Papa macht Werbung für mich, und wenn jemand etwas kauft, packe ich das in einen großen Umschlag

Seeungeheuer mit Algen, die nicht mit ‚E‘ anfangen“. Und da gibt’s nur eine einzige Alge, die muss ich dann suchen. Mittlerweile spielen wir auch Schach auf dem großen Tablet. Einmal hab´ ich die Schwarzen schon besiegt. Beim nächsten Versuch hat mich das Tablet leider eingezingelt und Schachmatt gestellt. Internet kenne ich, das braucht man, um Dinge zu machen, zum Beispiel „Die drei Fragezeichen“ hören. Wenn wir weit weg von zuhause sind, gibt es kein Internet, und dann stottert das Titellied so: „D-d-d-i-e d-d-d-r-r-re-i Fr-fr-fr-a-a-a-g-g-gge-zei-ch-en ... ohoho.“ Mich nervt, wenn ich nicht mit Erwachsenen reden kann, weil die im Internet sind oder telefonieren. Wenn ich sage „Guck mal, Mama“, und dann telefoniert sie weiter. Oder wenn ich jemandem etwas zeigen will, und der guckt dann nicht.

»Meine Katze ist acht, die ist schon im vierten Leben, glaube ich«

und schicke es weg. Oder wir bringen es selbst vorbei. Einen goldenen Ninja habe ich auch schon gesteckert. Wir putzen auch Zähne mit dem Internet. Das geht mit einer Zahnputz-App, da jagen wir Aliens auf den Kauflächen und putzen nach Zeit. Ich habe zwar schon ein Zahnmännlein, also ein Loch im Zahn, aber einige behaupten, dass der Bohrer beim Zahnarzt nur kitzelt. Max hatte auch schon mal eins. Ich fände es toll, wenn das Lego-NinjagoSpiel von unserem Tablet echt wäre. Dann könnte ich draußen auf der Straße den Eisdrachen bekämpfen. Ich wäre dann ganz weise, könnte den Drachen kontrollieren und alle bösen Lumpen vereisen, die auf der Welt herumlaufen.

»Wir putzen mit dem Internet auch Zähne«


Die Ninja-Figuren aus dem Computerspiel Lego Ninjago sind die digitalen Helden von Max und Bruno. Eine App hilft beim Zähneputzen, Schach mÜgen sie sowohl auf dem Tablet als auch offline


Mit 11 Jahren kaufte sich „Technikfuchs“ Hildegard Wally Böhme ihre erste Kamera

»Mein Bruder bekam ein Grammophon. Einer musste immer kurbeln«


Hildegard Wally Böhme, 98

wurde 1919 kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Bertelsdorf im Erzgebirge geboren. Sie wuchs mit einer älteren Schwester und einem jüngeren Bruder auf dem Dorf auf. Als Jugendliche absolvierte sie eine Schneiderlehre, arbeitete später aber in der Botschaft der DDR – als Leiterin der Poststelle

„Rubens“ hieß Böhmes erster DDR-Fernseher. Auf einem neueren Modell schaute sie vor allem Krimis – und die RTL-Show „Let‘s Dance“

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as älteste Bild, auf dem ich drauf bin, ist von meiner Schulklasse. Das war damals eine große Aufregung! Es musste eine frische Schürze umgebunden werden, ein ordentlicher Zopf ... und dann kam also der Herr Fotograf. Wir waren so neugierig, wie die Bilder aussehen würden. Mit elf Jahren habe ich mir dann eine eigene Kamera angeschafft, von meinem Taschengeld. Wir bekamen damals 50 Pfennig, ich musste also lange sparen. Weil ich meinen kleituri2 edition #5 · Digital Me

nen Bruder immer überall mit hinnahm, gab er mir oft noch 25 Pfennig von seinem Taschengeld. Die Kamera war ein großer, unhandlicher Kasten zum Umhängen, nicht sehr bequem, deshalb habe ich das Fotografieren recht bald wieder sein lassen. 1933 haben meine Eltern unser erstes Radio gekauft, dann hatten wir Musik, das war schön. Mein Bruder bekam außerdem ein Grammophon mit kleinen Schallplatten, das wir oft laufen ließen. Einer musste immer kurbeln. Mein

erstes eigenes Gerät war eine kleine Nähmaschine, die musste auch gekurbelt werden. Sie machte aber nur einen Kettelstich. Im Krieg ging es uns auf dem Dorf immer noch besser als den Leuten in der Stadt, vor allem was das Essen anging. Mein Vater hatte durch seinen Friseursalon ein Seifenlager, das war gut, denn damit konnten wir mit Bauern tauschen. Nach dem Krieg mussten wir teilweise jahrelang warten, bis wir wussten, wer überlebt hatte

und wer in welcher Gefangenschaft gelandet war. Mein Mann hatte Glück, er war Flieger. Sie sind abgeschossen worden und mit einem aufblasbaren Rettungsboot im Meer gelandet. Dort hat sie ein italienischen Kutter aufgenommen und so kamen sie in italienische Gefangenschaft. Mein Mann und ich kannten uns schon von der Schulzeit her. Als er aus der Gefangenschaft wiederkam, gründete sich bei uns im Dorf eine Laienspielgruppe.

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Eine frische Schürze und ein ordentlicher Zopf waren Pflicht für das Klassenfoto beim „Herrn Fotograf“

Meine Eltern übernahmen bei unseren Aufführungen das Frisieren und Schminken. Das Stück, das wir gespielt haben, hieß „Die Tante von Kalkutta“. Wir zwei spielten ein Ehepaar und haben dann beschlossen, dass wir auch im echten Leben ein gutes Ehepaar abgeben würden. Unser erster Fernseher war der „Rubens“, wir haben ihn ungefähr 1955 gekauft. Das erste Modell in der DDR hieß „Rembrandt“, „Rubens“ war sein Nachfolger. So viel Technik wie heute hatte der nicht, es gab zwar ein paar Knöpfe und ein integriertes Radio, aber er war leicht zu bedienen. In unserer Ehe war ich der Technikfuchs, mein Mann war ja meistens unterwegs. Unsere Nachbarn besaßen alle keinen Fernseher, deshalb kamen sie zu uns, wenn einmal im Monat die bunte Sendung mit Gesang und Tanz lief. Fernsehregeln waren damals nicht so verbreitet, unsere Tochter durfte gucken, was

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und wann sie wollte. Sie mochte am liebsten „Unser Sandmännchen“. Mein Mann war Diplomat und beruflich sehr oft auf Reisen, er hat uns viele Briefe geschrieben. Zurückschreiben war schwierig, weil er nie lange im selben Hotel gewohnt hat. Als wir 1967 in eine neue Wohnung gezogen sind, bekamen wir ein Telefon, weil er es für seinen Beruf brauchte. Die Telefongesellschaft hat extra eine Leitung gelegt. Wir durften das Telefon auch privat benutzen, aber viel gemacht haben wir das nicht, weil kaum jemand anders eines besaß. Man konnte nur bei der Post oder in Gaststätten telefonieren. Insgesamt bin ich über 40 Jahre Kundin bei der Telekom gewesen. Vor ein paar Jahren hat meine Tochter einen Vertrag bei einem anderen Anbieter abgeschlossen, weil ich damit monatlich ein bisschen Geld spare. Die Telekom-Mitarbeiterin, mit der ich all die Jahre in Verbindung stand,

war ganz enttäuscht. Sie hat mich angerufen und gesagt: „Unsere älteste Kundin, die so lange bei uns ist, geht auf einmal weg. Frau Böhme, das hätte ich nicht gedacht.“ Da hab‘ ich mir geschworen, dass ich nicht mehr wegen ein paar Euros solche Wechsel mache. Ich habe auch ein Handy, telefoniere aber eigentlich immer auf dem Telefon. Geld abheben und Fahrscheine kaufen kann ich selbst an den Automaten. Früher habe ich immer alles Kleingeld gesammelt und einmal im Jahr im Münzautomat in der Sparkasse eingezahlt, da war man immer überrascht, was da zusammenkam. Aber es gibt leider fast keine Münzautomaten mehr. Inzwischen bezahle ich fast alles mit Karte. Ich bin nach wie vor sehr am aktuellen Geschehen interessiert, ich lese die Zeitung und höre Nachrichten. Außerdem gucke ich im Fernsehen gerne Krimis, auch wenn meine Schwä-

gerin sagt, ich sei verrückt, das wäre so gruselig. „Let‘s Dance“ schaue ich mir auch gerne an. Und Tennis. Meine Enkelin arbeitet mit dem Internet, aber was und wie genau, weiß ich nicht. Wir haben aber schon online zusammen Kleidung bestellt – meine Lieblingsmarke Gerry Weber wird oft nicht in meiner kleinen Größe im Karstadt angeboten. Aber im Internet gibt es die. Manchmal stört es mich, wie viel junge Leute am Handy hängen, dass sie gar nicht mehr ohne dieses Ding in der Hand existieren können. Auf der anderen Seite ist es sehr praktisch: Früher, wenn wir geschrieben haben, um Termine auszumachen, hat das sehr lange gedauert: Brief schreiben, zur Post, warten, bis der Antwortbrief kam – sowas können wir heute viel schneller erledigen.

† Hildegard Wally Böhme ist am 17. September 2017 verstorben turi2 edition #5 · Digital Me


Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. IMMANUEL KANT

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* AWA 2017


Horst Beyer, 83 wurde 1933 in Goslar am Harz geboren. Drei Jahre später zogen seine Eltern mit ihm nach Bremen. Er absolvierte eine Ausbildung zum Buchdrucker und arbeitete später auch als Ausbilder, Berufsschullehrer und Personalreferent. 2016 schrieb er seine erste E-Mail

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ch war 12, als der Krieg zu Ende ging. Zwei Jahre später habe ich die Schule abgeschlossen und meine Ausbildung zum Buchdrucker begonnen – den Beruf gibt‘s heute nur noch im Museum. Ich habe in verschiedenen Druckereien gearbeitet, um Erfahrung zu sammeln, bevor ich Ende 1956 als Drucker bei Westermann in Braunschweig anfing. Der digitale Wandel begann in den Siebzigern mit dem Fotosatz. Da wollten viele noch nicht wahrhaben, dass der Bleisatz im Gegensatz zum modernen OffsetDruck ein Auslaufmodell war. Später bin ich als Referent in die Personalabteilung gewechselt, auch hier hat mich die digitale Entwicklung eingeholt. Getroffen hat es allerdings zuerst meine Mitarbeiterinnen, denn geschrieben wurde jetzt auf dem „Komputer“. Die Zeit der Schreibmaschine war vorbei. Andererseits hat das zum Beispiel das Tippen von Arbeitszeugnissen deutlich erleichtert. Mit der Schreibmaschine war das immer eine Königsdisziplin, weil man sich nicht verschreiben

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oder mit Tippex korrigieren durfte. Ich erinnere mich, wie die Damen tippten – und plötzlich gab es einen Aufschrei durch die ganze Abteilung. Weil sich eine in der letzten Zeile verschrieben hatte und wieder ganz von vorn anfangen musste. Nach der Wende half ich in einem Zeitungsverlag in Ostdeutschland bei der Eingruppierung in die Westtarife. Das große Problem war das Telefonieren – ein Gespräch wurde morgens angemeldet, aber erst am Nachmittag war eine Leitung frei. Auch die Fahrten waren aufwendig und anfangs mit einer Übernachtung in einem Hotel verbunden, das angeblich noch von der Stasi verwanzt war. Später sind wir im Learjet geflogen und haben uns die Übernachtungen gespart. Seit 1994 bin ich Rentner. Wenn ich zurückschaue, hatte ich ein sehr interessantes und erfülltes Berufsleben. Eigentlich ohne Plan, die Vorschläge zur Veränderung kamen meistens von außen. So war es auch mit der Fotografie, für die ich mich schon immer begeistert habe. Ich habe bis 2013 mit einer

»Ich kenne sogar die wichtigsten Emojis«


Als begeisterter Fotograf entwickelte Beyer jahrelang Filme. Heute fotografiert er digital


In seinem Beruf als Drucker erlebte Beyer den digitalen Wandel hautnah mit. Heute nutzt er ein iPad

Leica-Ausrüstung auf alte Art fotografiert und die Abzüge im Fotofachgeschäft entwickeln lassen. Damit war es aus und vorbei, als ich von meinem Sohn 2014 eine digitale Spiegelreflex bekam. Er hat mir vorgeschlagen, ich solle meine Bilder auf das iPad meiner Frau übertragen, weil ich sie dort speichern und besser bearbeiten kann. Das iPad hatte meine Frau zum 75. Geburtstag bekommen und hauptsächlich zum Schreiben benutzt. Anfang 2016 sind wir in die Nähe unserer Tochter nach Berlin gezogen, weil meine

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Frau krank wurde. Also musste ich lernen, E-Mails zu schreiben, was bisher meine Frau erledigt hatte. Wir wollten ja den Kontakt zu den anderen Kindern aufrechterhalten. Also ging ich online. Ohne Englisch zu können, ohne Erfahrung mit Handys oder Computern. Die erste Übung war die Suche nach Buchstaben, um Wörter und Sätze zu bilden. Problem: Leertaste vergessen, keine Worttrennung! Wie reparieren? Nächstes Problem: der kleine Finger. Er hat mal eben auf Senden gedrückt. Ich

war aber noch nicht fertig! Also alles noch einmal neu – mit einer Entschuldigung vorweg. Noch ein Problem: der Pfeil für die Großbuchstaben. Bei diesen ständigen Niederlagen kommt in Gedanken schon mal der erste Schultag hoch. Aber ich mache Fortschritte. Inzwischen kopiere ich Fotos und Videos über die SD-Karte auf mein Tablet und verschicke sie per E-Mail. Ich kenne sogar schon die wichtigsten Emojis. Nur die ganzen Plattformen im Internet, Facebook, Twitter und was es alles gibt, brauche ich

nicht. Mich interessiert nicht, was der eine meint und der nächste dann dazu sagt. Aber wenn ich eine Information brauche, google ich oder suche mir bei Bedarf Landkarten im Internet raus. Außerdem lese ich morgens auf dem iPad die „Süddeutsche“ und die „FAZ“. Ich finde den digitalen Wandel gut, vieles funktioniert heute viel einfacher. Gleichzeitig bin ich froh, dass ich so alt bin, dass ich nicht mehr alle Möglichkeiten intensiv nutzen muss.

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Ihre Aquarelle hat Christa Fuchs fast alle an ein Museum gegeben – damit sie „nicht untergehen“


»Ich bin zeitlebens die Verträumte geblieben«

Christa Fuchs, 92 wurde 1925 im tschechischen Budweis geboren. Nach Abitur und Arbeitsdienst machte sie eine Ausbildung zur Rotkreuz-Schwester und arbeitete in einem Kriegslazarett in Wien. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ihre Familie aus der damaligen Tschechoslowakei vertrieben und zog nach Dresden. Christa Fuchs besuchte die Kunstschule und arbeitete später als Schreibkraft. Noch heute ist sie Künstlerin: In der Tagespflege, die sie einmal wöchentlich besucht, hat sie fast alle Patienten und Pflegekräfte porträtiert

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uf meinem ersten Bild bin ich ein Jahr alt, das war 1926. Vorher gab‘s keines. Die Trude, die erste Tochter meiner Eltern, wurde oft geknipst, die Mimi als Zweitgeborene auch noch, aber ich dann nicht mehr so viel. Dabei war mein Vater ein leidenschaftlicher und ausgezeichneter Fotograf. Für seine Malerei mogelte er ein wenig: Er fotografierte das Motiv, kopierte es in ganz hellen Linien und musste es dann nur noch mit Farbe bemalen. Es sind aber trotzdem wunderschöne Bilder geworden. Von dieser Zeit in Rosenberg erzählte die Mimi, dass unsere Oma wohl immer heimlich Fremdsender gehört hat, es gab also schon Radios. Ich kann mich aber gar nicht daran erinnern. turi2 edition #5 · Digital Me

Allerdings hatten wir ein Auto, einen Ford. Der Papa war Arzt und hat das Auto gebraucht, um auf die Dörfer zu fahren. Im Winter haben sie ihn mit der Pferdekutsche geholt, das Auto konnte gar nicht durch den Schnee. In Rosenberg gab es nur noch ein anderes Auto, vom Taxifahrer. Ich male auch schon mein ganzes Leben, es lag mir von Anfang an. Zuerst malte ich Kinderpostkarten mit Tieren darauf ab. Dann dachte ich mir: „Das gibt’s ja alles schon, du musst etwas malen, was es noch nicht gibt.“ Die Bilder hier in meiner Wohnung sind fast alle Kopien. Die Originale sind schöner und größer, sie hängen im Schlossmuseum in Freistadt. Es sind überwiegend Aquarelle, und ich bin

froh, dass sie dort hängen – denn ich habe keine Nachkommen und möchte sicher sein, dass die Bilder nicht untergehen. Jetzt im Alter male ich wieder mehr mit Stiftfarben, da brauche ich nicht das ganze Wasser und alles. Malen kann ich ewig, da merke ich keine Altersbeschwerden. Ich hatte in jungen Jahren einen großen Zusammenbruch, das muss ich erzählen, wenn Sie etwas über mein Leben wissen wollen. Ich persönlich glaube, das Schicksal hat ihn mir wegen meiner unglücklichen Liebe geschickt, die mich ganz krank gemacht hat. Sie werden lachen, aber für mich war es sehr tragisch: Ich habe mich mit 14 so sehr verliebt, aber in einen Vergebenen. Er wusste es nicht,

meine Schwestern nicht, die Mama nicht, niemandem habe ich es erzählt. Ich bin damals im Kahn auf der Moldau gefahren und habe das Lied von Franz Lehar gesungen, „Hast du dort oben vergessen auf mich“. Jahrelang konnte ich nicht vergessen, das war eine schwarze Zeit in meinem Leben. Ich habe mich nach Liebe gesehnt, aber eben nur nach dem Einen. Der Zusammenbruch kam, als ich schon in Österreich auf medizinischtechnische Angestellte lernte. Ich kann mich genau daran erinnern: Ich habe etwas sortiert und dachte plötzlich „Irgendwas stimmt mit meinem Kopf nicht“. Von den nächsten fünf Jahren weiß ich kaum noch etwas, man hat mich von Arzt zu Arzt

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geschickt. Hier in Dresden hat die Mama schließlich einen Homöopathen gefunden, der mich geheilt hat. Und plötzlich war die Krankheit weg, als wäre sie nie dagewesen. Mit 28 war ich wieder richtig gesund und die Eltern haben mich in die Kunstschule gegeben, erst in Erfurt, dann in Heiligendamm. Das war eine Fachschule für angewandte Kunst, ich war in der Töpferei. Das letzte Jahr hat man mich aber nicht machen lassen, auch den Abschluss nicht. Ich dachte damals, ich sei dumm. Erst später wurde mir klar, dass es wohl mit dem damaligen System zu tun hatte, denn die DDR war politisch eine komplizierte Zeit. Ich habe nie nachgeforscht, aber ich verstand mich wohl ein bisschen zu gut mit dem ersten Schuldirektor, der an Demonstrationen teilnahm und deshalb entlassen wurde. Also ging ich zurück nach Dresden und habe an der Technischen Universität als Schreibkraft angefangen. Später war ich Stenotypistin. Den ersten Fernseher hat mein Vater in die Familie gebracht, da lebten wir schon hier in Dresden, das muss Ende der Fünfziger gewesen sein. Er brachte ihn zum Frauentag, angeblich als Geschenk an die Mama, die Mimi und mich. Eigentlich wollte er natürlich selbst fernsehen, und dann haben wir also alle fleißig geguckt. Es gab viele Filme mit Hans Moser, Theo Lingen ... das waren unsere Lieblinge. Die Mama hat den Paul Hörbiger verehrt – wenn der im Fernsehen kam, war der Papa immer eifersüchtig. Dabei war er selbst verguckt in die Nachrichtenansagerin. Wenn ich heute 3Sat schaue, weil sie dort viele Nachrichten von Österreich bringen, denke ich oft, dass die Petra Gerster ihm sehr gefallen würde. Ein Telefon hatte ich lange nicht. Die Mimi schon, sie hat sich immer um alles gekümmert. Wir waren unser ganzes Leben zusammen, sie war ein Jahr und zehn

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Monate älter als ich und immer die Freche, die sich alles getraut hat. Sie hat mich so mitgerissen, denn ich bin sehr verträumt gewesen. Wir haben viele Jahre nur zwei Häuser voneinander entfernt gewohnt, unsere Wohnungen hatten genau den gleichen Schnitt. Jeder selbstständig und doch immer zusammen. Leider ist sie 2001 gestorben, ich bin nun schon das 17. Jahr alleine. Sie hat damals auch einen der ersten drei elektrischen Motorroller gekauft, die hier nach Dresden geliefert wurden, damit fuhr sie ganz leidenschaftlich. Ich selbst hab den technischen Wandel nicht so spannend gefunden, ich bin zeitlebens die Verträumte geblieben. Einmal wollte ich den Führerschein machen, aber der Vater hat mich nicht gelassen, er hatte Angst um mich. Ich habe meine Bilder gehabt und auch viel geschrieben, nicht nur Gedichtbände, auch viel anderes. Mit Handys und Computern bin ich nicht vertraut. In Freistadt im Museum gibt es wohl so eine Galerie der Bilder im Internet, das würde ich mir schon gern mal anschauen. Ich kenne mich aber nicht aus. Ich weiß auch nicht, ob ich dafür geeignet bin oder ob das für mich schon zu kompliziert ist. Wenn ich anderen etwas mitgeben sollte für ihr Leben, würde ich vielleicht eines meiner Gedichte zitieren, an meine Mama: „Es sagte manchmal meine Mutter: ‚Kind, du hast dich wieder überfreut.‘ Und was würde sagen meine Mutter, erlebte sie mein Glück von heut‘? Ich glaub‘, sie wäre ängstlich, denn ich freue mich zu sehr. ‚Ach mein Mädl‘, würd‘ sie schimpfen, ‚was ist das wieder für ein Herr?‘ ‚Aber Mama‘, würd‘ ich jauchzen, ‚er ist der einz‘ge, der mich wie du versteht, und das Glück, das du dir wünschst für mich, es kam doch noch nicht zu spät.‘“ – Damit meine ich, dass man sein Schicksal annehmen und immer in Hoffnung leben soll.

Fuchs mag es analog: „Ich nutze immer so einen Schmierzettel, da steht alles drauf, was ich mir merken muss. Wenn die eine Seite voll ist, schreibe ich auf der Rückseite weiter“


Bilder sind ein wesentlicher Bestandteil von Fuchs‘ Leben. Das Museum, in dem ihre Werke hängen, hat auch eine digitale Galerie – die 92-Jährige würde sie gerne einmal ansehen, hat sich aber noch nicht getraut


Hans Reuter, 88 wurde 1929 in Stettin geboren und wuchs dort und im nahe gelegenen Dievenow auf. 1945 flüchtete seine Familie vor der roten Armee zunächst nach Chemnitz, 1949 weiter nach Westdeutschland. 1956 wanderte Reuter in die Schweiz aus, wo er Rechenmaschinen entwickelte und baute. Seine Frau und sein Sohn durften zwei Jahre später nachziehen. Heute lebt Reuter in der Nähe von Zürich. Nach Deutschland reist er vor allem, um seine Verwandten zu besuchen


»Ich bin täglich im Internet. Aber jedes Jahr nehme ich mir auf Usedom sechs Wochen Digitalferien«

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Bei seiner Schwägerin an der Ostsee kann Hans Reuter abschalten. Erst zuhause geht er wieder online

ch bin Computer-Nutzer der ersten Stunde und finde die Entwicklung der letzten Jahrzehnte beeindruckend. Anfangs waren Rechner so groß wie ein Wohnzimmerschrank, heute gibt es winzige Chips mit riesiger Speicherkapazität. Meine Generation hält sich ja überwiegend von moderner Technik fern. Ich nicht, weil ich durch meinen Beruf von Anfang an dabei gewesen bin. Die ersten Computer hat man ja nicht für den Privatgebrauch entwickelt, sondern fürs Büro. Dass sie sich so ausbreiten würden, konnte man nicht absehen. Ich habe in meinen ersten Berufsjahren Rechenmaschinen gebaut und später mit einem Kollegen eine neuartige entwickelt. Sie war noch mechanisch. Damit bin ich 1956 in der Schweiz gelandet. Ich konnte mir schon nach wenigen Jahren nicht mehr vorstellen, nach Deutschland zurückzukehren. Nach dem Krieg und unserer Flucht waren wir dort immer „die Hergelaufenen“. Dazu kam, dass meine Frau katholisch war – und dann kommt so ein protestantischer Flüchtling und heiratet sie. Sie können sich vorstellen, wie toll das

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Analog reicht: Im Urlaub liest Hans Reuter nur die Nachrichten in der „Ostsee-Zeitung“

ankam. In der Schweiz wurden wir familiär aufgenommen, sei es von der Vermieterin unserer Wohnung, in der ich heute noch lebe, oder auf Arbeit. Dort hieß es immer: „Der Reuter soll kommen, der weiß, was wir machen müssen.“ Die erste Firma, in die ich mit unserer selbst entworfenen Maschine gekommen bin, hat 1963 die ganze Büromaschinen-Entwicklung verkauft, weil mit großen Schritten die Elektronik kam. Ich bin dann in ein Unternehmen gewechselt, das eine elektronische Rechenmaschine bauen wollte. Dabei hatte ich von Elektronik keine Ahnung! Also ab in die Abendschule. Die Entwicklung ging dann aber so schnell, dass auch diese Firma 1968 beschlossen hat: So viel Geld können wir gar nicht investieren, dass wir mit dem Wandel mithalten können. Also bin ich wieder gewechselt, zu einer Firma, die einen Elektronikrechner auf Analogbasis gebaut hat. Dort habe ich die Konstruktion der mechanischen Teile übernommen. Später kam die Herstellung von Verbin-

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dungstechnik dazu. Bis zu meiner Pensionierung habe ich dort gearbeitet – und verrückte Zeiten miterlebt. Die Rechner waren nicht kompliziert, aber die Entwicklung ging so schnell, dass nur Firmen mit viel Kapital investieren und mithalten konnten. Mit Computern bin ich zum ersten Mal Ende der Siebziger in Kontakt gekommen – auch im Beruf. Anfang der Achtziger habe ich mir einen eigenen IBM-Rechner gekauft. Zu dieser Zeit wurde das bezahlbar. Daran habe ich konstruiert und mich in die digitale Welt reingefunden. Wir haben in der Firma damals Choragrafen gebaut. Ein Flieger flog über Landschaften und filmte eine Route. Die Bilder haben zusammengefügt Land- und Straßenkarten ergeben, die mit dem Gerät, das wir gebaut hatten, ausgemessen und digitalisiert wurden. Eine Art Vorreiter von Google Maps. Ich habe nie Computerkurse besucht. Sogar heute sitze ich manchmal bis in die Nacht vor dem Computer, wenn ich herausfinden will, wie etwas funktioniert.

Seit einiger Zeit schreibe ich auch meine Lebensgeschichte auf. Da fällt mir mal dieses und jenes ein, das kann ich am Computer wunderbar einfügen oder ändern. Ich bin bei ungefähr 60 Seiten, aber lange nicht fertig. Wenn ich zum Beispiel mit meiner Schwägerin spreche, die ich seit ihrer Geburt kenne, weil unsere Eltern befreundet waren, muss ich oft Sachen ändern. Sie weiß Dinge, die ich vergessen oder anders in Erinnerung habe. Skype ist für mich mit das Wichtigste. Ich habe Bekannte in Südafrika und Australien, mit denen ich so Kontakt halte. Leider nutzen nicht alle Skype, das verstehe ich nicht, ist doch toll: Man sieht sich, man hört sich und es kostet nichts. Mit sozialen Netzwerken bin ich stattdessen sehr vorsichtig. Ich lasse mich nicht gern aushorchen. Meine Buchhaltung erledige ich auch elektronisch. Außerdem habe ich unsere gedruckte Tageszeitung abbestellt, weil sie mir überteuert scheint. Vor allem, wenn ich sie aufschlage und dann Beiträge sehe wie: „80-Jährige verliert die Kontrolle über ihr Auto“ – Entschuldigung,

aber wer will das wissen? Mich interessiert Politik, das finde ich im Internet. Und wenn ich etwas Lokales wissen will, kann ich da auch Auszüge aus dem „Tagesanzeiger“ lesen. Ich bin täglich im Internet, nur im Urlaub nehme ich mir Digitalferien. Wenn ich sechs Wochen auf Usedom bei meiner Schwägerin bin, lese ich nur die „Ostsee-Zeitung“. Es reicht mir, wieder ins Weltgeschehen einzutauchen, wenn ich zurück in der Schweiz bin. Zur Zeit kann ich eh nur den Kopf schütteln. Dass jüngere Generationen das Internet in allen Bereichen nutzen, stört mich nicht. Die Jugend hat doch eine ganz andere Beziehung zu den neuen Kommunikationswegen. Wichtiger fände ich, ihnen klarzumachen, wie privilegiert sie aufwachsen – mit so vielen Möglichkeiten. Es erstarken ja wieder Kräfte, die nicht begreifen, dass der Zusammenhalt der europäischen Länder alternativlos ist. Wir sind doch durch die moderne Kommunikation alle verbunden! Wir sollten aus unserer Vergangenheit lernen. turi2 edition #5 · Digital Me


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Daten sinnvoll verbinden.


Eine virtuelle Katze namens Angela füttert Lea per App auf ihrem Smartphone. Das iPad teilt sie sich mit ihrem Bruder

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eine Lieblingsschulfächer sind Deutsch und Hockey. Das Hockey mit meiner Schulklasse meine ich. Aber das haben wir jetzt in der dritten Klasse nicht mehr, sondern Schwimmen. In den Sommerferien waren wir an der Nordsee, da bin ich ganz viel auf einem Pony geritten, auch in den Dünen. Meine Freundin hat ihren Geburtstag auf einem Pferdehof gefeiert und wir sind auch ausgeritten. Weil ich Pferde mag, gucke ich gern „Bibi und Tina“ als DVD oder höre mir manchmal Geschichten davon an. Aber nicht zum Einschlafen, das ist mir zu laut.

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Mit meinem Bruder teile ich mir ein altes iPad. Auch auf meinem Smartphone sind viele Spiele drauf, aber die nutze ich nicht oft. In die Schule darf ich das Smartphone sowieso nicht mitnehmen. Nur wenn ich beim Hockey bin, habe ich es zur Sicherheit manchmal dabei. Dann kann ich Mami anrufen, ob ich mir noch ein Eis holen darf, bevor sie mich abholt. Bei Google habe ich vorher mit meinem Papa geschaut, welche Smartphones gebraucht sind und funktionieren und wie viel die kosten. Dann habe ich es von meinem gesparten Geld bezahlt. Da hatte ich natürlich nichts mehr, aber

jetzt habe ich schon wieder welches gespart. Ich mag am liebsten Spiele, in denen ich mich um Tiere kümmere. Es gibt zum Beispiel die App „Meine Angela“. Da kann ich eine Katze füttern und duschen und ins Bett bringen. Wenn sie gut versorgt ist, bekommt man Münzen, von denen man ihr neue Kleidung kaufen kann. Wir haben aber auch ein echtes Haustier, einen Hund. Im Garten habe ich ein kleines Café aufgebaut, mit einem Sonnenschirm und einer Bank. Dann habe ich Briefe bei uns in der Umgebung verteilt, ob mal jemand zum Kaffeetrinken kommen will. Jetzt warte ich

mit Mama, wann wohl der erste Nachbar in mein Café kommt. Die Liste mit den Getränken und Süßigkeiten habe ich zusammen mit Papa am Computer geschrieben. Wenn ich mal im Internet bin, dann auf Kinderseiten. Ich spiele auch Lernspiele, zum Beispiel solche mit Rechnen. Oder ich schaue ein Musikvideo von „Bibi und Tina“. Und wenn ich etwas für die Schule wissen muss und Mama es mir nicht sagen kann, schauen wir zusammen im Internet nach. Mamas Computer steht leider zu hoch für mich. Ich muss mir dann immer den kleinen Hocker nehmen, aber das geht schon. turi2 edition #5 · Digital Me


»Mamas Computer steht leider zu hoch für mich«

Lea, 8 wurde 2009 in Hamburg geboren, wo sie bis heute mit ihrer Familie wohnt. Sie besucht die dritte Klasse einer Grundschule und spielt in ihrer Freizeit gern Hockey und Klavier, geht reiten oder trifft sich mit Freundinnen. Später möchte sie Tierärztin werden



s e l l A r e b ü r e l l ü M arketern. en Online-M d r eiter. te n u r a r 100 Mitarb ockst e R t r a e h d 0 t 2 is it r e im Web, m ndler Tarek Müll den Modehä asserpfeifen o W tt r e O r ft u fü a r k pa te 5 ver tups in Euro eutsch-Ägyp r D ta Schon mit 1 e S ig n r e h d ä n -j 8 se der 2 en wach Heute baut am schnellst r e d s e in e – uf os) About You a nnes Arlt (Fot ri und Joha

Von Peter Tu


Tarek, der Name Tarek Müller ist ja eine ungewöhnliche Kombination – als ob ein Gericht DönerKartoffeln hieße. Mit dem Vornamen könntest du Islamist werden, mit dem Nachnamen Liebling der deutschen Fußballfans. Was haben sich deine Eltern dabei gedacht? Es stimmt, dass Tarek einer der häufigsten Vornamen in der arabischen Welt ist – weshalb ich da jetzt trotzdem nicht unbedingt an einen Islamisten denken würde. Ich kann dir aber nicht sagen, was meine Eltern sich dabei gedacht haben. Die Ironie liegt ja darin, dass sie aus der Kombination von zwei absoluten 08/15-Namen trotzdem einen einzigartigen Namen geschaffen haben. Oder kennst du einen zweiten Tarek Müller? Nein, ein kluger Schachzug von deinen Eltern. Haben sie Ahnung von Marketing? Absolut gar nicht. Meine Mutter ist Ärztin, mein Vater Journalist und im Herzen Philosoph und Denker. Die haben nix mit Marketing zu tun. Hast du dir jemals gewünscht, Tim Müller zu heißen? Bisher noch nie, mit einer Ausnahme: Bei Wohnungsanfragen habe ich sicherheitshalber häufig eine E-Mail-Adresse mit t.mueller als Absender gewählt. Aber nicht aufgrund von persönlichen Erfahrungen, sondern einfach wegen des Gefühls, bei Immobilien besser so deutsch wie möglich aufzutreten – also als „Herr Müller“. Ich habe schon oft erlebt, dass sich Anwälte, Banker oder Wirt-

schaftsprüfer, mit denen ich zunächst große Calls habe, ein bestimmtes Bild von mir als „Herrn Müller“ machen und dann aus allen Wolken fallen, wenn sie mich das erste Mal persönlich treffen. Hat dir mal jemand geraten, deine Dreadlocks abzuschneiden? Ja, ich habe unzählige Male gehört, dass man so nie erfolgreich werden kann. Es gab eine Phase, da lief es so schlecht im Geschäft und ich musste unbedingt Kunden akquirieren, dass ich sie abschneiden wollte. Zum Glück hat sich die Friseurin geweigert. Einen Tag später kam ein Riesenauftrag rein – Locken gerettet! Mir ist aufgefallen, dass du bescheiden und höflich auftrittst – in deiner Branche keine Selbstverständlichkeit. Woher kommt’s? Danke fürs Kompliment, freut mich. Ich kenne aber sehr viele erfolgreiche Digitalunternehmer, die auch bescheiden und höflich auftreten, also da sehe ich mich zum Glück nicht als Ausnahme. Tarek, wir beide sind uns auf einer Party begegnet, und ich fand dich auf Anhieb sympathisch – ohne zu wissen, dass du eine Art Online-Marketing-Rockstar bist. Aber wie erklärst du eigentlich deiner Oma, was du machst? Der deutschen oder der ägyptischen? Nee, im Ernst: Das im Detail zu erklären, habe ich aufgegeben. Allerdings hat meine deutsche Oma durch die vielen Presseberichte und Porträts über About You verstanden, dass ich schon mal nicht arbeitslos bin. Meine arabische

Oma dagegen fragt mich heute noch, wann ich endlich anfange zu studieren. Wie erklärst du deinen Beruf, wenn du eine Frau beeindrucken willst? Früher habe ich was von „Arbeite im Marketing“ erzählt, zuletzt habe ich manchmal „Klamottenverkäufer“ gesagt. Häufig war das Gespräch damit beendet und die Frau hat sich abgewandt. Aber das war dann auch gut so, ich möchte idealerweise nicht durch beruflichen Erfolg beeindrucken, sondern durch andere Themen. Welche? Keine Ahnung. Humor, Persönlichkeit, unnützes Wissen über Serien, dumme Sprüche, Dschungelcamp-Zitate – da gibt‘s vieles. Außerdem schätzen viele Frauen an mir, dass ich immer ein Ersatz-Haarband dabei habe. Wärst du auch im richtigen Leben ein guter Verkäufer? Zum Beispiel als Wasserpfeifen-Verkäufer Tarek oder als Edeka-Händler Müller? Ich glaube, wenn ich irgendetwas gut kann, dann verkaufen. Und WasserpfeifenVerkäufer war ich ja tatsächlich im Alter von 16 Jahren, mit einem eigenen Laden in Harburg. Dort habe ich nach der Schule Pakete gepackt für den Online-Handel. Der hat den Großteil der Umsätze ausgemacht, aber ich habe auch offline Kunden direkt bedient. Hat großen Spaß gebracht. Ich glaube, alternativ wäre ich eher Barkeeper oder so. Freunde von mir haben eine Band, bei Auftritten mache ich häufiger mal den Barkeeper. Ist eine gute Abwechslung zum richtigen Job.

Du hast schon mit 15 begonnen, Nischenprodukte im Internet zu verkaufen – neben Wasserpfeifen auch Teleskope und Pokertische. In einem Alter, in dem andere zur Uni gehen, hattest du schon 100 Mitarbeiter. Woher kam dein Antrieb? Am Anfang ging es eher zufällig los, ich habe damals 5 Euro pro Monat gebraucht, um den Server für meine Computerspiel-Gruppe zu finanzieren und deshalb Werbung auf unserer Seite hinzugefügt. Ich hatte gehofft, damit etwa ein bis zwei Euro im Monat zu generieren, aber plötzlich haben wir 20 Euro verdient. Und weil es mir großen Spaß macht, Dinge zu optimieren und aufzubauen, habe ich weitergemacht. Heute hast du 350 Mitarbeiter und About You schreibt 250 Millionen Euro Umsatz. Was treibt dich jetzt an? Ich glaube, meinen Antrieb als Unternehmer kann man am besten mit dem eines Sportlers vergleichen: Der will auch immer besser werden und am Ende die Goldmedaille gewinnen. Aber nicht, weil sie aus Gold ist, sondern weil sie das Zeichen dafür ist, dass man als Erster durchs Ziel kam. Ähnlich ist es bei mir: Ich möchte gewinnen. Im Team. Unternehmertum ist meine sportliche Disziplin. Zufälligerweise eine, von der man sehr gut leben kann. Glück gehabt! Warum hast du 2013 deine Agentur Netimpact an Otto verkauft? Vor About You habe ich ja überwiegend E-CommerceModelle in Nischen und für Geschäftskunden aufgebaut. Die Firmen sind ohne

Tarek Müller, Sohn einer ägyptischen Mutter und eines deutschen Vaters, ist Verkäufer aus Leidenschaft und Barkeeper aus Neigung – am liebsten wäre er aber Erster Bürgermeister der Stadt Hamburg. Mit 15 startet Müller den ersten Webshop, jetzt ist er 28 und baut zusammen mit Hannes Wiese und Sebastian Betz für Otto den Modeversender About You auf. Der schreibt bereits nach drei Jahren über 250 Millionen Euro Umsatz und beschäftigt 350 Mitarbeiter

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In der Augmented Reality App zur „turi2 edition“ schildert Müller seinen Aufstieg vom ShishaVerkäufer zum OnlineMarketing-Profi turi2.de/edition/tarek

Meine arabische Oma fragt heute noch, wann ich endlich anfange zu studieren


Mit Laptop und Bügelbrett: Müller und Team wollen für jeden Kunden ein individuelles digitales Schaufenster schaffen

Investoren auf Millionenumsätze gewachsen und waren gleich vom ersten Tag an hoch profitabel. Das ist zwar ein sehr schönes Geschäft, aber die Wachstumsmöglichkeiten waren begrenzt. Ich wollte unbedingt einmal was Großes machen, also ein großes Unternehmen oder Produkt aufbauen, das wirklich jeder kennt und nutzt. Mit About You hatte ich diese Chance zum ersten Mal. Und das in einem sehr guten Team zusammen mit Sebastian Betz, Hannes Weise und Benjamin Otto. Ein chinesisches Sprichwort sagt: Wer kein freundliches Gesicht hat, sollte keinen Laden eröffnen. Was muss ein Onlinehändler mitbringen? Affinität zu Zahlen und Liebe zum Detail. Ein gängiges Sprichwort in der Handelsbranche lautet übrigens „Retail is Detail“. Ich glaube, da ist was dran. Gut, dann gehen wir doch mal ins Detail: Mit welchen Tricks arbeitet ihr eigentlich im E-Commerce? Tricks klingt so sehr nach

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Zauberei, das ist es ja nicht. Letztlich geht es um die richtige Kombination aus einem guten Sortiment, kompetitiven Preisen, personalisierten Angeboten, inspirativen Inhalten, einer starken Marke und nahtlosen Services, um Kunden zu überzeugen. Fehlt einer dieser Faktoren oder ist nicht gut umgesetzt, sinkt die Kaufwahrscheinlichkeit. Wie funktioniert erfolgreicher E-Commerce heute? In Abgrenzung zu gestern, also 2006, sind die Anforderungen des Kunden massiv gestiegen, sei es im Hinblick auf Service, Logistik oder Sortiment. 2017 sollte jeder Onlinehändler in allen Disziplinen auf AmazonNiveau sein und sich einen Vorsprung über bessere Inhalte, Produkte und Marke erarbeiten. Um so ein Niveau überhaupt erreichen zu können, braucht man heute eine massive Infrastruktur und viel Kapital. Als ich vor über zehn Jahren im E-Commerce gestartet bin, ging das quasi noch ohne Startkapital. Sowas wäre heute gar nicht mehr möglich.

Und in Zukunft? Wird es immer schwieriger und die Anforderungen werden weiter steigen. Außerdem kommen immer neue Devices hinzu. Heute sind Desktop, Tablet und Smartphone relevant, morgen werden wir über Voice Commerce und Smartwatches bestellen. Folglich werden die Eintrittsbarrieren im E-Commerce immer höher. Ich glaube, der E-Commerceund der Online-Modemarkt werden sich zunehmend konsolidieren und kleine Player werden es künftig sehr schwer haben. Also keine Chance für 15-jährige WasserpfeifenVerkäufer? Ich fürchte, als Online-Wasserpfeifen-Verkäufer hast du es heute schwer, weil jeder Nischen-Markt mittlerweile von Amazon, Otto und Co beherrscht wird. Dafür gibt es unzählige andere Möglichkeiten, als 15-Jähriger im Internet Geld zu verdienen, wenn man findig ist. Ich habe von jemandem gehört, der liest über ein ComputerScript den Produktkatalog von Ebay und Amazon aus

und schaut nach Preisunterschieden. Wird ein Produkt auf einer Plattform mehr als 15 Euro billiger angeboten als auf einer anderen, stellt er automatisiert das Produkt auf die andere Plattform und unterbietet den niedrigsten Preis um wenige Euros. Kommt eine Bestellung bei der teureren Plattform rein, löst das automatisch eine Bestellung auf der billigeren Plattform aus. Der clevere Junge nutzt so die Preisdifferenzen der Plattformen, ohne jemals im Warenrisiko gewesen zu sein. Und alles voll automatisiert. Der Junge ist nicht mal 18! Auf diese Art macht er mehrere tausend Euro Gewinn im Monat. Du siehst: Es wird immer Nischen geben, in denen man ohne viel Aufwand sehr viel Geld verdienen kann. Du musst nur die Lücken im System finden. Wie weckt ihr Kaufwünsche? Durch Personalisierung, also indem wir unser sehr großes Sortiment auf den Geschmack des einzelnen Kunden aus­ richten. Mit Hilfe von Algorithmen analysieren wir, turi2 edition #5 · Digital Me


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Nach About You kandidiere ich vielleicht als Hamburger Bürgermeister Bitte recht freundlich: Müller schwört auf Social Media als Marketing-Instrument


was dem Kunden gefällt und zeigen ihm auf Wunsch nur relevante Produkte, Outfits, Marken und Inhalte an – also individuell zugeschnitten auf seinen persönlichen Geschmack. Das heißt, dein Shop, also „About Peter“, sieht ganz anders aus als „About Tarek“.

das nicht, indem wir Schaufenster digital darstellen, sondern indem wir die Vorteile des Internets nutzen. Dadurch sieht jeder Kunde ein anderes Schaufenster, in dem er sich täglich aufs Neue von aktuellen Trends, Stars und so weiter inspirieren lassen kann.

Mit mir würdet ihr verhungern. Ich gehe nur einmal im Jahr ins Factory Outlet und kaufe dort von Schuhen bis zum Anzug alles, was ich brauche. Am liebsten in nicht mal zwei Stunden. Lustig! Vor About You habe ich auch nur einmal Mode im Internet bestellt. Ich fand das auf Amazon, Otto und Zalando immer zu unübersichtlich, uninspirierend und anstrengend. Seit es About You gibt, bestelle ich fast nur noch im Internet. Probier‘s doch auch mal aus. Wie sagt man? Einmal geshoppt, nie mehr gestoppt.

Wie bewerbt ihr About You? Auch im TV und bei Print? Über alle Marketing-Kanäle, die es gibt – von klassisch bis Social Media. TV-Werbung ist ein Kanal von vielen, der für uns eher eine unterstützende Rolle im Marketing-Mix spielt. Print ist ein eher sehr kleiner Kanal von sehr vielen kleinen Kanälen, die in sich zwar profitabel sind, aber die man nicht mehr signifikant skalieren kann, ohne massiv an Effizienz zu verlieren.

Bist du ein Mode-Experte? Absolut gar nicht! Seit About You bessert sich mein Stil, denke ich. Ich bin aber immer noch weit entfernt vom Fashion Victim. Das Interessante ist, dass fast alle erfolgreichen Modegründungen der letzten Jahre nicht von Mode-Leuten, sondern von Technologen, Analytikern, Marketern oder Betriebswirten kommen. Mode ist etwas sehr Berechenbares. Was macht ihr bei About You anders? Wir füllen eine Lücke im E-Commerce-Markt, die vor­ her noch niemand besetzt hat. Bei uns geht es nicht um das reine Kaufen oder die ewige Suche, sondern um das Entdecken von Mode. Personalisierung und Inspiration sind Voraussetzung, um Bedürfnisse nicht nur zu decken, sondern vor allem zu wecken. Kann man die Inspiration eines ziellosen Bummels auf der Mönckebergstraße ins Internet übertragen? Definitiv, das ist ja die Idee hinter About You. Wir tun turi2 edition #5 · Digital Me

Darf ich übersetzen: Print ist zu teuer, ihr werbt lieber in Social Media und mit Influencern? Unser Fokus liegt auf organischem Wachstum in den sozialen Medien. Influencer spielen für uns dabei auch eine Rolle – und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen liefern Influencer den Content für About You, wo Kunden ihre Outfits nachkaufen können. Zum anderen nutzen wir sie als Werbekanal. Influencer – sind das nicht diese Leute, die für ein bisschen Geld bei Instagram, YouTube und Co jedes Produkt anpreisen, das sie dafür bezahlt? Und trotzdem behaupten, sie seien „total authentisch“? Print – ist das nicht dieses Medium, das plötzlich zu deinen Pressekonferenzen erscheint und positiv über deine neue Kollektion berichtet, sobald du signifikanter Anzeigenkunde bist? Und trotzdem behauptet, es sei komplett neutral? Will sagen: Jede Branche hat seine schwarzen Schafe. Ich halte nicht viel von Vorverurteilung.

Warum setzt ihr so stark auf Influencer? Influencer sind die Stars unserer Generation – so wie früher Musiker, Schauspieler und Sportler die größten Vorbilder für junge Menschen waren. Das zeigt zum Beispiel auch eine Studie aus den USA, wo 1.500 Jugendliche nach ihren Lieblingsstars gefragt wurden und auf Platz eins bis sechs fanden sich nur Internet-Stars. Ich glaube, Nahbarkeit und persönlicher Content spielen hier eine große Rolle. Das gilt auch für Mode: Die beste Inspiration liefern andere Menschen, also Style-Vorbilder. Und deshalb haben wir uns 2014 vorgenommen, die Kleiderschräke von Stars für unsere Kunden zu öffnen. Damals war der Begriff Influencer oder Influencer-Marketing übrigens noch kein so starkes Buzzword wie heute. Bei eurem Konkurrenten Zalando sind das größte Problem die Retouren. Bei euch auch? Das größte Problem bei Zalando sind nicht die Retouren, das ist nur die Lieblingsfrage der Medien. Retouren sind Teil des Geschäfts und erfolgreiche Player wie Asos und Zalando haben gezeigt, dass trotz Retouren ein guter Profit möglich ist. An sich sind Retouren kein Problem. Im Zweifel ist es uns lieber, wenn ein Kunde ein Paar Schuhe in zwei Größen bestellt. Auch wenn die Retourenquote dadurch als relativer Wert steigt, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass er ein Paar behält. Sobald er ein Produkt behält, verdienen wir Geld. Und ein Kunde, der zehn Teile bestellt und sieben retourniert, ist mir noch lieber als ein Kunde, der zwei Teile bestellt und eins retourniert. Aber ist es denn ökologisch sinnvoll, wenn Lastwagen zehn Paar Schuhe hinfahren und sieben wieder zurück? Ein Offline-Filialnetz, zu dem jeder einzelne Konsument erstmal fahren muss und das auch beliefert werden muss,

produziert in Summe nicht weniger CO2 als der E-Com­ merce. Etwas ketzerisch könnte man auch fragen, ob es sinnvoll ist, dieses Interview auf Papier zu drucken statt es digital zu verbreiten. Ich denke, im Endeffekt wollen Kunden immer Komfort – das Kernproblem unseres Systems. Aber ihr vom E-Commerce tragt dazu bei, dass die Innenstädte veröden. Siehst Du Klamottenläden als einzige Möglichkeit, um Innenstädte zu beleben? Die brauchen eine Menge Platz in den zentralsten Lagen, nur damit wenige Leute dort Klamotten kaufen, die sie sich über das Internet beschaffen könnten. Ich halte das für eine absurde Raumnutzung, die nicht im Interesse der Gemeinschaft ist. Wir sollten unsere Innenstädte sinnvoll nutzen: mit Spielplätzen, Coworking-Spaces, Kitas, Schulen, Altersheimen, Innovationszentren und so weiter. Zentrale Orte, von denen jeder Bürger etwas hat, wo sich Leute begegnen können. Außerdem entstehen durch E-Commerce Arbeitsplätze in meist strukturschwachen Gebieten. Du hörst dich an wie ein Politiker. Mein Plan ist es, nach About You in die Politik zu gehen. Zunächst möchte ich einen Verein gründen, politische Projekte machen und lernen, wie Regierungsarbeit funktioniert. Anschließend eine Partei gründen und vielleicht als Hamburger Bürgermeister kandidieren. Das sind noch vage Pläne, aber ich weiß schon lange, dass ich irgendwann für den gesellschaftlichen Nutzen arbeiten will. Vorher gilt es aber noch, About You zu einem führenden Online-Modehändler in Europa aufzubauen. Tarek, letzte Frage: Wann würdest du vor Glück schreien? Wenn ich im hohen Alter zufrieden zurückblicken kann und etwas Sinnvolles geleistet habe.

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e l a t i Dig e t k e j o Pr Erfolg in Zeiten der Digitalisierung haben Medien und Marken, die den Wandel umarmen. Die den Menschen etwas geben, um sich wohler, individueller und besser informiert zu fühlen. Egal ob sie frühstücken, chatten oder einen Arzt konsultieren 1 mymuesli Seite 78 2 Spiegel Seite 82 3 Jodel Seite 84 4 Landau Media Seite 86 5 Emmy Seite 88 6 Club of Cooks Seite 90 7 Picture Alliance Seite 92 8 Städel Seite 94 9 Flyeralarm Seite 96 10 Zeit Akademie Seite 98

11 Deutsche Bank Seite 101 12 Sportbuzzer Seite 102 13 Bild Seite 104 14 Bräustüberl Seite 105 15 Cewe Seite 106 16 News Aktuell Seite 110 17 WeltN24 Seite 111 18 WhiteWall Seite 112 19 Thomann Seite 114 20 Was hab‘ ich? Seite 119


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MyMuesli

Frühstück aus dem Internet Die Gründer von mymuesli haben online Erfolg mit individualisierten Flocken – und verkaufen ihr teures Müsli inzwischen auch in normalen Ladengeschäften

Foto: dpa

Von Tatjana Kerschbaumer



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er nach Passau kommt, freut sich am Stephansdom, der Veste Oberhaus und dem Dreiflüsseeck mit blauer Donau, grünem Inn und schwarzer Ilz. Auch verhungert ist in Niederbayern noch niemand, in der Stadt gibt es „Saure Watschn“ – angemachte Innereien wie Herz, Leber und Niere – oder die berühmten „Passauer Goldhauben“, Pralinen mit Marillenfüllung und Blattgold-Dekor. Und es gibt Müsli. Genau genommen: 566 Billiarden Müslis. Schuld an der Körnerflut sind Philipp Kraiss, Max Wittrock und Hubertus Bessau. Die drei Kommilitonen entwickeln noch während ihres Studiums in Passau 2005 die Idee zu mymuesli, dem Frühstück zum Selbermixen. Heute kann sich der Knusperfreund im namensgleichen OnlineShop durch „Müslibasis“, „Früchte“, „Nüsse & Kerne“ sowie „Schoko“ klicken und muss wählen: Urgetreide oder Tropica, Cashews oder Kokosraspeln, Cranberries oder Salted Caramel Crispies? Oder alles? Macht insgesamt 566 Billiarden mögliche Müsli-Kombinationen. Für Zauderer gibt es Vorgemischtes – 575 limitierte Gramm Pink Granola – oder klassisches Bircher Müsli. mymuesli wird groß in einer Zeit, in der immer mehr Menschen auf ihre Ernährung achten und gleichzeitig das digitale Shopping entdecken. 2007 startet das Unternehmen als reiner Online-Händler und fährt im selben Jahr bereits eine Million Euro Umsatz ein. Die Kunde vom personalisierbaren Frühstück verbreitet sich wie ein Lauffeuer und weit über Passau hinaus. Mundpropaganda, gute Kontakte zu Presse und Bloggern machen es möglich. Experten würden die damalige Strategie heute „Influencer Marketing“ nennen – die bunten Boxen von mymuesli tauchen plötzlich auf Küchentischen von Menschen auf, die munter im Netz verbreiten, was sie essen und wo sie es herhaben. Tschüss, 08/15-Cornflakes, hallo Individualität. Mittlerweile ist der Umsatz neunstellig und Betriebsgeheimnis, das Unternehmen wächst stetig – und mehr als 800 Mitarbeiter bringen die frohe Müsli-Botschaft unters Volk.

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Im Gegensatz zu Unternehmen, die ihre Produkte klassisch offline anbieten und irgendwann einen Online-Shop dazubasteln, machen es die Gründer von mymuesli genau umgekehrt. Zwei Jahre nach dem Start im Netz eröffnen sie in der Passauer Altstadt ihr erstes Geschäft mit 20 Quadratmetern Verkaufsfläche. Schlanke 400 Euro Miete monatlich kostet der Spaß. Trotzdem verkaufen Kraiss, Wittrock und Bessau nicht auf gut Glück. Stattdessen analysieren sie fleißig die Online-Bestelldaten ihrer Kunden: Welches Müsli kommt besonders gut an, welcher Mix verkauft sich in der Region am besten? Was ist eher ein Flop – und muss deshalb nicht ins Regal? Mittlerweile hat mymuesli 55 Filialen in sechs Ländern und kooperiert außerdem mit Rewe und Edeka. Dort gibt es allerdings nur die vorgemischten Varianten. Der digitale und der klassische Verkauf schaukeln sich gegenseitig hoch anstatt sich zu kannibalisieren. Eröffnet eine neue Filiale, steigen die Bestellungen auf der Website; ein treuer Online-Orderer betritt auch gern einen mymuesliLaden in seiner Stadt. Viele Kunden nutzen beide Möglichkeiten, heißt es bei mymuesli, und kaum jemand scheut sich vor dem Preis, der deutlich höher ist als der anderer Anbieter. Klar, es gibt ein halbes Kilo Müsli ab 3,90 Euro. Wer aber nicht nur Haferflocken mümmeln will, landet schnell bei 13 bis 15 Euro pro Dose. Und dabei bleibt es nicht: Die Kunden können ihr Geld bei mymuesli auch in Orangensaft, Tee und Kaffee investieren – quasi in alles, was zu einem ausgiebigen Frühstück passt. Angekündigt hat Hubertus Bessau auch „einen Bereich, der noch näher am Müsli ist als Tee und Kaffee“ – weil Knuspriges schließlich selten trocken verspeist werde. „Eine leckere Lösung“ sei im Gespräch, näher definiert ist sie noch nicht. Die Pläne klingen stark nach einer mymuesliMilch von glücklichen Kühen. Die Klicks werden zeigen, ob so etwas ankommt. So gut die Analyse der Kundendaten heute funktioniert, so rumpelig war der digitale Start. Ganz am Anfang, als die drei Gründer ihre Müslis noch am WG-Tisch zusammenmischten, verteilten sie 150 Fragebögen: Ob der Befragte sich vorstellen könnte, Müsli online zu kaufen? Kein einziger kreuzte „Ja“ an. turi2 edition #5 · Digital Me

Foto: Picture-Alliance / Tagesspiegel

Max Wittrock (links) und Hubertus Bessau sitzen mit mymuesly noch immer in der Gründungsstadt Passau


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Spiegel Online

Geschrumpft zu neuer Größe Der „Spiegel“ wurde mit dem digitalen Wandel lange nicht warm. Heute setzen neue Netzprojekte neue Kräfte in der Redaktion frei Von Jens Twiehaus

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us seinen bodentiefen Bürofenstern blickt Jesper Doub direkt auf die Elbphilharmonie. Die Sonne scheint, die Luft ist klar und gibt den Blick auf die Hafenkräne hinter der funkelnden Konzerthalle frei. Altes Hamburg, neues Hamburg. Ganz ähnlich ist es hier drinnen bei Verlagsleiter Doub: alter „Spiegel“, neuer „Spiegel“. Ein Kulturwandel beschäftigt das gesamte Unternehmen. Der gebürtige Däne, Vollbart-Träger und von stattlicher Statur, mustert sein Gegenüber mit wachen Augen und lächelt oft. Als Doub 2014 ins Unternehmen kommt, gibt es nichts zu lächeln. Stolze Traditionalisten ringen mit der Moderne, Chefredakteur und Change-Manager Wolfgang Büchner beißt sich die Zähne aus. Ausgerechnet der „Spiegel“, das „Sturmgeschütz der Demokratie“, wie es Gründer Rudolf Augstein nannte, schlittert ins Kürzungsprogramm „Agenda 2018“. Ältere Mitarbeiter – die mit den satten Monatsgehältern – erhalten Abfindungsangebote. Geschäftsbereiche werden ausgelagert. Undenkbar bis zu diesem Zeitpunkt. „Wie geht es dem ‚Spiegel‘?“ ist eine Schicksalsfrage der deutschen Medienlandschaft. Entsprechend groß sind die Erwartungen an Doub, der als Technik-Chef kommt, bald darauf die Geschäftsführung von Spiegel Online übernimmt und schließlich auch Verlagsleiter und Spiegel-TV-Chef wird. Mit Geschäftsführer und „Spiegel“-Urgestein Thomas Hass kämpft er für Veränderungen. Es scheint, als habe das Duo Erfolg. Doch die Frage „Wie geht es dem ‚Spiegel‘?“ lässt sich nicht in einem Satz beantworten. Jesper Doub gibt an diesem Hamburger Sonnentag zu verstehen: Es ist immer noch kompliziert. Aber der Blick geht endlich nach vorn. Beim „Spiegel“ schalten sie spürbar um, von Wunden lecken auf Angriff. Seit Oktober 2015 ist der Jugendableger „Bento“ online, entwickelt innerhalb von zwölf Wochen. Im April 2017 bringt ein Team Spiegel Online mit einem eigens produzierten Ableger in die Social-Media-App Snapchat. Entwicklungszeit hier: etwa sechs Wochen. Die digitale Tageszeitung „Spiegel Daily“ geht im Mai 2017 als kostenpflichtiges Angebot online. Mehrere Zeitschriften-Launches klappen nicht. Aber immerhin, der Verlag traut sich wieder was. Lange gilt der „Spiegel“ als träge. Und tatsächlich: Wer sich mit digitalen Innovationen beschäftigt, landet erst spät an der Ericusspitze. Erstaunlich – denn im Gründungsjahr 1994 ist Spiegel Online das erste Nachrichtenmagazin der Welt, das sich ins Internet traut. Doch in den folgenden

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Jahren unterschätzen die Hamburger die Wucht des digitalen Wandels. Im Haus sind die Mitarbeiter die wichtigste Eigentümergruppe. Die Mitarbeiter KG, die eigentlich unabhängigen Journalismus sichern soll, stellt sich im Umbruch als Bremsklotz heraus. Wer schaltet schon gern den Schokobrunnen ab, unter dem es sich gemütlich sitzen lässt? Ungefähr so ist es lange beim „Spiegel“: Das gedruckte Heft verliert Leser und Relevanz, doch die meisten Mitarbeiter bleiben gemütlich sitzen. Die Schokolade sprudelt ja trotzdem noch. Mit „den Onlinern“ zusammengehen? Für manche Print-Redakteure mehr als abwegig. Spät setzen sich die Reformer durch. Das reinigende Gewitter der „Agenda 2018“-Reformen trifft einzelne Mitarbeiter hart. Es führt aber auch zum Umdenken. Digitaler Journalismus rückt in den Mittelpunkt. Und mit Geschäftsführer Hass sitzt ein ehemaliger Vorsitzender der Mitarbeiter KG im Chefsessel, der das Unternehmen mit all seinen Befindlichkeiten kennt – und routiniert lenkt. Zurück zu Jesper Doub, ins Büro mit ElbphilharmonieBlick. Beim Stichwort „Agenda 2018“ wirkt er erleichtert, denn das Kapitel ist beendet. Doub, Hass und die anderen Chefs dürfen wieder entwickeln statt abwickeln. Jetzt gilt es, aus weniger (Mitarbeitern) noch mehr (Umsatz) zu machen. Wie viele Medienmanager spricht Doub von agilen Prozessen und der wertvollen Marke. Was hängen bleibt, sind zwei Begriffe: Veränderungsgeschwindigkeit und Technologieverständnis. Doub sagt: „Wir müssen die Veränderungsgeschwindigkeit erhöhen.“ Was er damit meint? Das Traditionshaus muss seine Marke dehnen. Beim Spiegel-Online-Angebot auf Snapchat etwa berichten sie schrill und schnell geschnitten über schwule Kängurus. Das hat, zugegeben, mit dem „Sturmgeschütz der Demokratie“ eigentlich nichts mehr zu tun. Irgendwie aber doch – weil es über schwule Kängurus gelingt, viele Teenager mit dem „Spiegel“ in Kontakt zu bringen. Doub sagt auch: „In der Führungsspitze eines Medienunternehmens sollte Technologieverständnis verankert sein.“ Die Entwicklungen auf dem Elektronikmarkt sind längst der zentrale Treiber für Wohl und Wehe des Journalismus. Bester Beleg ist das iPhone: Dessen enorme Popularität wirbelt ab 2007 die Industrie durcheinander. Mehr als 60 Prozent der spiegel.de-Abrufe kommen heute von Smartphones und Tablets. Die Frage, wie für so einen Bildschirm der perfekte Artikel geschrieben oder ein Video gedreht sein sollte, ist eine technologische Frage. Doub, studierter Wirtschaftsingenieur, turi2 edition #5 · Digital Me


Alle „Spiegel“-Formate verschmelzen auf einer Plattform: dem Internet

ist ein Technik-Versteher, und sein Signal ans Haus lautet: Kollegen – habt keine Angst, dass das Internet euch auffrisst. Glaubt daran, dass ihr im Netz euren Journalismus noch viel besser machen könnt. Eine so positive Grundhaltung zum Digitalen ist längst nicht Standard in deutschen Verlagen. Auch Barbara Hans glaubt an Qualität im Digitalen. Das ist auch gut so, denn sie ist Chefredakteurin von Spiegel Online. Den „Spiegel“ kennt jeder, aber wer „etwas im ‚Spiegel‘ gelesen“ hat, meint heute oft nicht mehr das Heft, sondern eben Spiegel Online. Die diversen „Spiegel“-Produkte verschmelzen auf einer Plattform: dem Internet. Hans weiß das, aber sie bildet sich nichts darauf ein. Sie ist ein leiser Typ, obwohl sie viel zu sagen hat. Sie schrubbt leidenschaftlich Nachrichten-Schichten, auch wenn es tausend andere Aufgaben gibt. Sie trägt einen Doktortitel und geht vorm Haupteingang eine rauchen. Kurzum: Hans ist vielfältig und offen. Wichtige Eigenschaften in einer Zeit, in der alle Informationen auf einer Ebene zusammenlaufen – und trotzdem alles immer unübersichtlicher wird. Bei so einer Lage kann es sich keine Redaktion im Haus mehr leisten, ihr eigenes Ding zu fahren. Das klappt auch ganz gut, versichert Hans. Sie nennt den G20-Gipfel als Beispiel, der Hamburg im Juli 2017 lahm legt turi2 edition #5 · Digital Me

und der News-Maschine „Spiegel“ Höchstleistungen abverlangt. Dutzende Reporter sind unterwegs, für die Website, das Heft, für TV und extra für Snapchat. Verlags-Miteigentümer sind ebenso auf der Straße wie junge Reporter frisch von der Uni. Eine WhatsApp-Gruppe vernetzt sie untereinander. Bei diesem Großereignis habe der Arbeitsvertrag nun wirklich keine Rolle gespielt, sagt Hans. Dieses Denken fehlte dem Haus lange. Jetzt ist es da – durch einen technikaffinen Verlagsleiter, einer praktisch veranlagten Online-Chefredakteurin und einem modernen Print-Chefredakteur, Klaus Brinkbäumer. Es ist ein Anfang, mehr nicht. Hans sagt: „Wir müssen uns vom Gedanken verabschieden, dass irgendwas jemals fertig sein wird.“

In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ erklärt Jesper Doub, warum ein Verlag heute auch ein Technologie-Unternehmen sein muss turi2.de/edition/spiegel-digital

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Physikklausur.

Mama:

Ein Hauch Exmatrikulation mit einem leichten Beigeschmack von 202 Verzweiflung liegt in der Luft

...schreibt...schreibt ...schreibt...schreibt...schreibt

Münster

17 m

Eine Pizza mit Hühnchen und Ei.

7

„Ok.“ 38 m

Hamburg

24

Freiburg

1h

Mama gerade erklärt, dass „Tod vor Stalingrad“ ein mit Wodka gebrühter Espresso ist. 146

Mama, entsetzt: „Ich dachte, das wäre eine Arte-Dokumentation!“

Nürnberg

Mainz

54 m

Busfahrer heute morgen zu einem Fahrgast: „Wenn se mir schon keine Karte zeigen, dann grüßen se wenigstens!“

Sorry an die WG in Ehrenfeld, habe im Suff eure Fernbedienung geklaut! Falls jemand seine sucht, einfach melden. Ich bringe sie euch zurück, ich weiß nur nicht mehr, wo ich war!

23

924

Hab meinen Erasmus-Kollegen gefragt, was er an Deutschland mag. Er meinte: „Das Wetter, weil das Bier nicht so schnell warm wird.“

20

Dresden

38 m

Die liefern nicht aus.

14

Leipzig

10 m

37

Manchmal schaue ich verträumt auf meine Kontoauszüge und denke: „mein eigenes kleines Griechenland“

München

Ich habe gerade 5 Minuten gebraucht, um „Altbaucharme“ zu lesen.

6

19 m

Reutlingen

Jedes Mal wenn sich ein Frankfurter Student über die hohen Mietpreise beschwert, fällt einem Münchner Studenten vor Lachen die Rolex in den Prosecco

25 m

Berlin

14 m

166

München

Mein Opa hat immer gesagt: bei kleinen Problemen hilft der Fachmann, bei großen der Flachmann!

Hat er noch Tupperdosen von mir?

5h

#aufdichopa Regensburg

Ich glaube, ich muss mal wieder aufräumen. 2h

Sitze im Café und verbinde mich mit einem Netzwerk namens „Martin Router King“. Was soll ich sagen?

352

Berlin

47 m

Nach 26 erfolglosen Bewerbungsgesprächen zweifle ich langsam an meinem Glücksjogginganzug ...

9

Stuttgart

27 m

Elisabeth, 22, BWL, isst heute bei ihren Eltern

18

Bremen

46 m

Die Bierkästen stehen ja auch im Keller!

121

Berlin

1d

Pizzadienst: „Hallo?“ Ich: „Ich bin‘s.“ Pizzadienst: „Alles klar, 20 Minuten.“ 249

Karlsruhe

Mir ist gerade eine Amsel ins Zimmer geflogen, hat einmal empört geflötet und ist wieder raus. 157

Mannheim

9h

Mein Leben ist ein ständiges Auf und Ab!

Als ich meiner Mutter erzählte, dass ich mich von meinem Freund getrennt habe, fragte sie nur: 32

11

Ich habe gerade ein total wichtiges Essen mit meinen Investoren.

Wenn du dich nach deiner Klausur blitzen lässt, um wenigstens ein paar Punkte zu kriegen.

Hamburg

1d

Berlin

12 d

I have a stream!

Wenn ich mal Asyl brauche, geh ich zu Hermes.

Köln

2d

3h

5

43

#süß #erstiklischeeerfüllt

#charmeoffensive

12 m

Die hätte ich fast verpasst, die Straßenbahn.

Je interessanter der Film, desto staubsaugiger die Mutter.

Vorlesung. Skript 130 Seiten und Ersti-Kommilitonin meint, das Skript wäre fürs ganze Semester.

Da bekommt der Ausdruck „Familienpizza“ eine ganz neue Bedeutung.

4d

Gerade das erste Mal Joggen in 1,5 Jahren.

68

München

#storyofmylife #toolazytocook 17 m

13

Cottbus

Dieser Moment wenn am Essenstisch mit der Familie das Thema Alkohol angesprochen wird und alle schlagartig dich anschauen ... 92

3d

Bamberg

Wilde WG-Partys und versemmelte Klausuren: Auf Jodel posten die Nutzer ihre Erlebnisse anonym

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turi2 edition #5 · Digital Me


3 2 0 D I G I TA L E P RO J E K T E

Jodel

Holdrio! Waschbären jodeln nicht? Von wegen. Die App Jodel macht es möglich – und verdrahtet ihre Nutzer unkomplizierter als jede andere digitale Plattform Von Tatjana Kerschbaumer

P

rocyon lotor ist eine coole Socke. Er ist flauschig, trägt Streifen im Gesicht, die an eine Gangster-Maske erinnern, und vor allem: Er findet immer einen Weg. Sagt zumindest Alessio Borgmeyer, der Procyon lotor – zu Deutsch: Waschbär – als sein App-Maskottchen auserkoren hat. Seit 2014 blitzt der Kleinräuber deshalb orange im App- und Google-Play-Store auf. Und er macht etwas, wofür Waschbären eher wenig bekannt sind: Er jodelt. Naja, zugegeben – der Waschbär jodelt nicht selbst. Dafür diejenigen, die ihn heruntergeladen und die App mit seinem niedlichen Gesicht installiert haben. Sie heißt Jodel und Erfinder Borgmeyer weiß, dass das eigentlich nicht zusammengeht: ein jodelnder Waschbär. Egal. Es funktioniert. Allein im Play-Store zählt Jodel mehr als eine Million Downloads. Praxistest, München-Thalkirchen. Waschbär downloaden, einloggen, zack – schon ist man mittendrin. Denn Jodel funktioniert anonym, kein Nutzer muss ein aufwändiges Profil mit Namen und Bild anlegen. Erfinder Borgmeyer will nicht, „dass sich User damit aufhalten“, vor dem ersten Post ihr Handy stundenlang nach dem besten Steckbrief-Selfie zu durchsuchen. Dafür analysiert die App den GPS-Standort: Angezeigt werden nur Posts, die in einem Umkreis von zehn Kilometern erstellt wurden. Ein bisschen digitale Nachbarschaft sozusagen. Erster Jodel: „Die MVV nennt es Fahrplan. Ich nenne es unverbindliche Abfahrtsempfehlung mit Gleisvorschlag.“ Zweiter Jodel: „Warum versteht der Kerl nicht, dass er nicht mein Typ ist?! Ich hab es ihm geschrieben und gesagt. Langsam gehen mir die Möglichkeiten aus.“ Dritter Jodel: „Arbeitet ein Jodler beim Kreisverwaltungsreferat und kann mich vorziehen? #wartenseitstunden.“ Jodel ist, schlicht gesagt, der Glückskeks unter den SocialMedia-Plattformen: Inhalt unberechenbar. Die „Jodler“, wie sich die Nutzer nennen, sind überwiegend 18 bis 26 Jahre alt und posten so ziemlich alles, was ihnen gerade einfällt. Das kann eine Beobachtung sein, eine ernste Frage oder die Meldung, dass man gerade eine herrenlose EC-Karte gefunden hat. Andere User können die Posts mit „Pfeil nach oben“ oder „Pfeil nach unten“ bewerten. Bekommt ein Jodel-Post fünf schlechte Bewertungen, wird er automatisch gelöscht. Bekommt er viele gute, steigt das Karma-Konto seines Absenders. Der darf sich freuen – anonym. Antworten sind natürlich auch möglich. Der Besitzer der herrenlosen EC-Karte könnte sich beim findenden Jodler melden – falls er selbst Jodel installiert hat. turi2 edition #5 · Digital Me

Hochburgen des Jodelns sind vor allem Studentenstädte, da die App intensiv bei dieser Zielgruppe beworben wurde. Klar, dass da auch viele schale Witze gepostet werden. „Es geht bei Jodel aber nicht um den besten Spruch“, erklärt Alessio Borgmeyer. Er, Karma-Konto etwa 250.000, schätzt vor allem den schnellen Austausch. „Was ich besonders gut finde, ist das lokale Element; die Tatsache, dass man über Jodel schnell die Eigenheiten einer Stadt kennen lernt.“ Ein Berliner Jodler verriet unlängst seinen Trick, ohne langes Anstehen in den Bundestag zu kommen. Auch für solches Insider-Wissen gibt es Borgmeyers App – und es funktioniert in Berlin nicht anders als in München. In der bayerischen Landeshauptstadt interessieren sich einige Jodler aber eher für die Bierpreise im Augustinerkeller. Genaue Nutzerzahlen nennt Borgmeyer nicht, auch bei Fragen zu Umsatz und Gewinn jodelt er nicht fröhlich heraus. Die App habe bis jetzt „keinen Cent verdient“ schrieb das „Handelsblatt“ im Juni 2017 – und werde von Investoren finanziert, darunter die Samwer-Brüder. Die Geldgeber zahlen auch die 30 Mitarbeiter, die derzeit bei Jodel arbeiten. Etwa die Hälfte von ihnen sitzt in Berlin, der Rest ist über Deutschland und weitere Länder verteilt. Nicht mehr lange, wenn es nach Borgmeyer geht. „Wir versuchen hier alles zu bündeln“, das heißt: Jodel und seine Angestellten sollen künftig ausschließlich in Berlin sitzen. Dabei steht auch eine Expansion zur Debatte: Der USKonkurrent YikYak, ebenfalls ein ortsbasierter Messenger, hörte im Mai 2017 auf. Grund waren Posts, in denen Nutzer belästigt und bedroht wurden. Borgmeyer sieht diese Gefahr bei Jodel nicht: Tausende Moderatoren haben ein Auge auf Jodler, die sich im Ton vergreifen – und die Möglichkeit, Posts sofort zu löschen. Bezahlt werden sie nicht. Die Moderatoren sind Langzeit-Nutzer, die als zuverlässig gelten. „In den USA machen wir sporadische Tests“, sagt Borgmeyer. Nach Übersee-Sehnsucht klingt das nicht. Muss vielleicht auch nicht sein: Jodel hat bereits Nutzer in Amerika, die die App für sich entdeckt haben. Eine kleine Community ist organisch gewachsen. Ganz von allein. Ginge es nach Amerika, würde auch der Aufwand größer werden; noch mehr Moderatoren wären gefragt, noch mehr Posts könnten eventuell doch entgleisen – mehr oder weniger schlimm. Praxistest, München: Auf Jodel wurde im Frühjahr 2017 der „Leierkasten“ in der Nähe des Frankfurter Rings als hervorragendes Speiselokal empfohlen. Der Tipp verbreitete sich schnell. Wer sich allerdings mit einem „Holdrio!“ auf den Weg gemacht hatte, musste hungrig wieder gehen. Der Leierkasten ist ein Bordell.

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Landau Media

Die Ausschneider Landau Media beobachtet für Kunden, was die Presse berichtet. Chef Uwe Mommert würde gerne alle Informationen digital liefern. Trotzdem bleiben Messer und Papier die wichtigsten Arbeitsgeräte Von Jens Twiehaus

U

we Mommert ist Optimist – schon immer gewesen. Als er gemeinsam mit Michael Busch und Namensgeber Lothar Landau 1997 den Medienbeobachter Landau Media gründet, beziehen die drei kein Garagenbüro, sondern gleich einen Raum in den Galeries Lafayette. Dann inserieren sie in der Zeitung: „Wir suchen 200 Medienrechercheure.“ Die Botschaft schlägt ein unter Journalisten, der Berliner Pressemarkt ist damals schon angespannt. Heute ist er es wieder und Landau Media 280 Köpfe stark. Noch immer sitzen die drei Gründer in einem gemeinsamen Büro, brüten über Ideen – und sehen in der Digitalisierung ihre nächste Chance. Nebenan trifft die nächste Palette mit Zeitungen ein. Über Nacht liefern Lastwagen die alte Medienwelt stapelweise an die Berliner Friedrichstraße. Sie bringen Zeitungen aus allen Teilen Deutschlands in die Großraumbüros von Landau Media. Der ehemalige Checkpoint Charlie liegt in Sichtweite, der Geruch von Druckerschwärze wabert durch die Räume. Um die 80.000 Seiten Zeitungspapier kommen hier an, Tag für Tag, Magazine nicht mitgerechnet. Landau Media liest Zeitungen, Zeitschriften, OnlineQuellen, schaut fern und hört Radio. Stellvertretend für seine Kunden. Dazu zählt zum Beispiel der Ibis-Hotel-Betreiber Accor. Auch eine Supermarktkette lässt beobachten.

In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ führt Uwe Mommert durch die Abteilungen von Landau Media turi2.de/edition/landau-media

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Landau erledigt gesammelt, was die meisten alleine nicht können: durchwühlt so ziemlich alle Kanäle nach Informationen und verspricht den vollen Durchblick der Lage. Eine Art individualisiertes Google, das sich unter dem Druck der Digitalisierung neu erfindet. Der gelernte Computer-Fachmann und LandauGeschäftsführer Mommert weiß, was auf ihn zukommt. „Mein Ziel ist nicht, dass hier kein Papier mehr reinkommt“, sagt er. „Es soll nur keines mehr rausgehen – ich will den Kunden alles auf einem digitalen Portal liefern.“ Das wäre schneller und vermutlich auch günstiger als täglich Papierberge anzunehmen und in großen Bündeln wieder wegzuschmeißen. Außerdem schläft die Konkurrenz nicht: Mehrere Beobachter versprechen deutschen Kunden Überblick darüber, wie sie in der Presse dastehen. Seit 1896 ist der Schweizer Dienst Argus aktiv; seit 1946 die Berliner Firma Ausschnitt, heute Teil von Argus – und früher einmal Arbeitgeber von Lothar Landau, bis der sich selbständig macht. Bis zur vollständigen Digitalisierung der Presse-Späher ist es noch ein langer Kampf. Aber Optimist Mommert ist ein Kämpfer: Der Endvierziger powert sich privat mit der philippinischen Kampfkunst Eskrima aus, bei der sich Kerle mit Stöcken hauen. Ob er den Kampf um die Digitalisierung gewinnt, weiß Mommert noch nicht.

Rund 80.000 Zeitungsseiten lesen die Landau-Rechercheure täglich. Dazu kommen Magazine

turi2 edition #5 · Digital Me


Landau Media würde gern alle Informationen digital liefern. In der Praxis sieht das anders aus

Landau Media lässt 1.500 Printmedien noch am Erscheinungstag in die Pressespiegel einfließen. Dafür lesen Mitarbeiter ab 4 Uhr 30 eine Million Online-Quellen und 80.000 Zeitungsseiten, die täglich ins Berliner Büro geliefert werden. Gleichzeitig werden 130 TV- und 140 Radio-Sender beobachtet. Die Redakteure durchsuchen Artikel, Bilder und Grafiken nach 11.000 Stichworten – zum Beispiel nach Firmennamen, Produkten und Personen

Vor allem das Urheberrecht zwingt Medienbeobachter, wie anno dazumal zu arbeiten. Was Landau Media darf: Artikel mit einem kleinen Messer ausschneiden, aufkleben und an Kunden per Post verschicken. Was extra kostet: den Artikel zu kopieren, zu scannen oder aus dem E-Paper zu ziehen – weil Landau ja nicht privat kopiert, sondern mit den Ausschnitten eine Dienstleistung verkauft. Mommert rechnet vor: Einen Text auszuschnippeln kostet einen Euro, ihn digital zu liefern ungefähr drei. Deshalb führt Landau ständig Verhandlungen mit Verlagen und der Rechte-Gesellschaft Presse Monitor Deutschland. Auch das Leistungsschutzrecht für Online-Artikel, eigentlich ein Bollwerk gegen die Kostenlos-Kultur von Google, schränkt den Medienbeobachter ein. Kämpfer Mommert sieht sich im „friendly fire“ der Verlage: Die wollen sich gegen den Giganten Google schützen – und treffen damit auch sein 280-Mitarbeiter-Unternehmen. Die Hürden der Digitalisierung haben aber auch schöne Seiten. Mommert kann jedem Besucher eine ansehnliche Show bieten. Statt Bildschirm- gibt es hier viel Handarbeit. In der Presseannahme schichtet eine Mitarbeiterin kilo­ schwere Zeitungen auf und reicht Exemplare danach an eine Kollegin weiter. Die hakt ab: „Bild“, Ausgabe Hannover: angekommen. „Der Kitzinger“ aus Mainfranken: ebenfalls angekommen. Jeder Titel kommt mindestens doppelt, weil beim Ausschneiden eines Artikels ja immer die Artikel auf der Rückseite kaputtgehen. turi2 edition #5 · Digital Me

Doch bevor das passiert, wandern die Ausgaben auf die nächste Etage. Im Lesesaal der Rechercheure ist es mucksmäuschenstill wie in einer Bibliothek. Nur Papier raschelt, ab und zu klappert ganz sachte eine Tastatur. Rechercheurin Regine hat ein waches Auge und unzählige Anforderungen im Kopf. Die Kunden von Landau lassen nach rund 11.000 Stichworten suchen. Das können ihre Firmenlogos auf Fotos sein – oder eines ihrer Produkte im Text einer Regionalzeitung. Die Rechercheure lesen alles kreuz und quer, nach der „Nordwest-Zeitung“ kommt die „Bäckerblume“, dann der „stern“. Momentan ist es noch unmöglich, die Recherche zu automatisieren. Im Lesesaal sitzen deshalb Menschen und das wird auch mit fortschreitender Digitalisierung so bleiben. Die Technik wird zwar besser, die Anforderungen aber auch höher. Wie bewertet man die Medienresonanz in InstagramStorys? Solche Frage können menschliche Auswerter noch besser beantworten als Suchroboter. Das ist nicht der einzige Vorteil, mit dem Landau Media um Kundschaft wirbt. Je unübersichtlicher das Angebot der Medien wird, desto besser ist es fürs Geschäft – die Digitalisierung ist ein Treiber. Während sie hinten das nächste Paket Zeitungen auf den Tisch wuchten, sagt Geschäftsführer Mommert zufrieden: „Der Kunde hat das Gefühl, den Überblick zu verlieren, und wendet sich an uns.“

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Emmy

Die Emmy-Mission Wer braucht ein Auto, wenn er einen Roller mieten kann? Drei junge Gründer bringen das Vespa-Feeling mit einer App in deutsche Städte Von Alexandra Korimorth

Flott durch Friedrichshain: In Berlin düsen Emmy-Roller durch elf Kieze

Foto: Christoph Spranger

E

mmy – so heißen mehr als 1.000 Elektroroller in Berlin, Stuttgart, Hamburg, Mannheim, Düssel­ dorf und München, die auf ihren Einsatz warten. Per App kann man sie leihen, um die Stadt zu erkunden, zur Arbeit zu fahren, zur Verabre­ dung zu düsen oder einfach nur, um das Gefühl von Freiheit zu genießen. Ein bisschen wie einst Audrey Hepburn und Gregory Peck im Film „Ein Herz und eine Krone“ – nur dass Emmy nicht grau, sondern quietsch­ orange ist. Oder blau. Oder grün. Mit der Farbe ändert Emmy auch seinen Namen und heißt Emmy dementsprechend Elli, Stella oder Eddy. Emmy und ihre bunt lackierten Verwand­ ten sind Teil eines modernen urbanen Mobilitätskonzepts: Roller- und Car-Sharing via App. Die Idee zu Emmy kommt ihren drei Vätern Valerian Seit­ her, Alexander Meiritz und Hauke Feldvoss im Sommer 2014. Die drei sind seit dem gemeinsamen Wirtschaftsingenieursstudium befreundet und alle eifrige Car-Sharing-Nutzer. Als sie im Berliner Stadtpark Tempelhof sitzen, fragen sie sich angesichts der vielen Roller in der Stadt, warum zwei von ihnen noch nie auf einem saßen. Dabei sind die Vorteile of­ fensichtlich: Roller sind unabhängig von Fahrplänen, schnell und einfach zu parken. Meiritz, Seither und Feldvoss sind sich zwar sicher, dass für sie ein Roller im Alltag ungeeignet wäre. Aber sie wissen auch, dass sie ihm immer mal wieder den Vorzug vor U-Bahn oder Leihauto geben würden. Nur umweltschonend müsste das Ganze noch sein. „Die Idee eines Roller-Sharings lag dann nah“, sagt Seither. Das Trio stürzt sich in Marktstudien, nimmt am europäischen Wettbewerb „Open Innovation Slam“ teil, gewinnt und wird in den Climate-KIC Accelerator aufgenommen. Ein halbes Jahr später starten die Freunde mit 150 roten Rollern unter dem Namen „eMio“. Den ändern sie 2017 aus rechtlichen Gründen in das fröhliche „Emmy“ – auch dieser Name spielt auf das Thema E-Mobility an. Der Umweltgedanke, der schon im Tempelhofer Park eine Rolle spielt, ist bei Emmy ein zentraler. Alle Emmy-Roller – mittlerweile gibt es vier Typen ver­ schiedener Hersteller – sind Elektroroller: Es gibt sie modern, aber auch im Retro-Schick. So wie die Schwalbe, die schon in der DDR Kult war und jetzt eine Elektro-Schwalbe ist.

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Die Akkus haben eine Reichweite von 100 Kilometern. Außerdem ist jeder Roller mit Sender und Software ausgestattet, mittels der er geortet und die Fahrtge­ bühren minutengenau abgerechnet werden. 19 Cent kostet Emmy pro Minute – beziehungsweise 59 Cent pro angefangenem Kilometer, wenn man im Stau steht. Umgerechnet auf Berlin bedeutet das: Die Strecke von der Admiralsbrücke zum Kotti kostet etwa einen Euro. Nach jeder Nutzung kommt die Abrechnung per Mail, zudem visualisiert die Emmy-App Fahrten und Kosten des Nutzers. Sie errechnet automatisch den günstigeren Gesamtpreis und deckelt einen ganzen Roller-Tag auf 24 Euro. Nur die Anmeldung und Verifi­ zierung der Fahrerlaubnis kostet ganz zu Beginn einmal 10 Euro extra. Dafür gibt es 100 Freiminuten geschenkt, zum Anfixen. Bezahlen müssen Nutzer einmal monat­ lich, per Lastschrift oder Kreditkarte. Hat man Lust auf Emmy, sucht die App den nächsten verfügbaren Roller. Ähnlich wie bei verschiedenen Car-Sharing-Anbietern können Kunden 15 Minuten kostenlos reservieren. Via Smartphone öffnet sich die Helmbox, darin sind zwei Jet-Helme in unterschiedli­ chen Größen, Hygienehauben und der Schlüssel. Das Smartphone mit Routenplaner kommt in die vorge­ sehene Halterung – los geht‘s. Durchschnittlich ist eine Fahrt mit Emmy derzeit 5,5 Kilometer lang, haben die Gründer errechnet. Mieten und abstellen kann man die Roller in ausgewiesenen Stadtgebieten. In Berlin düsen Emmys durch elf Kieze, in München durch sechs Viertel, in Hamburg durch 13 Bezirke. Klar, auch ein Ausflug ist drin. „Hauptsache, du hast vorher die noch verfügbare Roller-Reichweite ge­ checkt und bleibst nicht überraschend in Potsdam oder am Tierpark Hagenbeck liegen“, sagt Seither und grinst. Unter der Woche und morgens sind die gefahrenen Strecken kürzer. Am Wochenende sind längere Fahrten mit Rollern im Retro-Look gefragt. Damit dabei eben niemand liegenbleibt, analysiert die App Emmys Akku­ stand: Sobald er unter 20 Prozent fällt und eine Fahrt beendet wird, verschwindet der Roller aus dem System, bis der Akku getauscht ist. „Alles ganz sorgenfrei“, ver­ spricht Seither. Schließlich geht es bei Emmy vor allem um Freiheit. „Ich war selbst großer Auto-Fan und habe vor allem die Vorstellung der Unabhängigkeit genossen“, sagt Seither. Im Studium habe sich das geändert. Ein eigenes Auto in der Großstadt mit allen Kosten und Parkplatz­ sorgen kam Seither plötzlich wie eine Belastung vor. „Mit Emmy bist du unabhängig, tust etwas Gutes für die Umwelt und hast gleichzeitig einen Riesenspaß.“ Heute arbeiten an der Emmy-Mission ein Team von 25 festangestellten Mitarbeitern und bis zu 25 studentische Hilfskräfte. Doch Emmy ist nicht nur ein Freizeitspaß, sondern in einigen Städten mittlerweile Standbein des urba­ nen Mobilitätskonzepts. Seither, Meiritz und Feldvoss kooperieren mit den Stadtwerken in Düsseldorf und Stuttgart, in Mannheim und München sind sie mit den Energieanbietern MVV und Green City verbandelt. Daher stammen auch die unterschiedlichen Namen: 100 grüne Flitzer aus Düsseldorf heißen Eddy, 75 Stuttgarter Stellas strahlen blau. Nur das Miet-Prinzip ist dasselbe, für mehr als 1.100 Roller in deutschen Städten. Es dürfen noch mehr werden, geht es nach den Grün­ dern. „Emmy ist auf Expansionskurs. In Frage kommen Städte, in denen es bereits Car-Sharing-Anbieter gibt. Da ist der Lerneffekt schon da und wir müssen keine Überzeugungsarbeit leisten“, sagt Seither.

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Club of Cooks

Der Appetit kommt beim Senden Gruner + Jahr kocht bei YouTube, Facebook und Co nicht sein eigenes Süppchen, sondern lässt Food-Tuber brutzeln und backen. Denn Social-Media-Erfolg geht durch den Magen Von Markus Trantow

A

lle reden über TV-Serien wie „Game of Thrones“ oder „House of Cards“? Doris Flury nicht. „Fernsehen interessiert uns nicht mehr. Die spannenden Inhalte sind für uns online“, sagt die Mutter von drei Kindern. Demnächst wollen sie und ihr Mann ihr Heimkino verschenken. Dabei sind die bei­ den vollauf damit beschäftigt, selbst Bewegtbild zu produzie­ ren. 66.000 Follower bei YouTube, Instagram und Facebook wollen zweimal pro Woche mit neuen Koch-Videos und Rezepten von „Mrs. Flury“ versorgt werden. Auf ihrem Blog erreicht die Wahl-Schweizerin noch einmal 70.000 Nutzer pro Monat. Wenn die 37-Jährige zu Tisch bittet, wird es zwar oft heiß, aber selten fettig. Flury kocht, backt und brät gesund: kein Kristallzucker, kaum tierische Produkte. Sie serviert glutenfreie Waffeln mit Erdnussbutter oder selbstgemachte Süßkartoffel-Pommes. Was nach Küchenmeister Schmalhans klingt, sorgt für ordentlich Buzz. Ein Video auf YouTube hochladen oder ein Foto auf Instagram posten und anschlie­ ßend das Handy ausschalten? Unmöglich. Doris Flury ist eine von rund 30 Food-Tubern, die im „Club of Cooks“ brutzeln – ein YouTube-Netzwerk nach dem Vorbild von MediaKraft oder Studio 71. Hinter dem Social-Media-Sen­ der steckt der Hamburger Verlag Gruner + Jahr. Die Idee zu dem Netzwerk hat Video-Chef Steffen Horstmannshoff Mitte 2015. Er will für zusätzlich Traffic und Vermarktungsmög­ lichkeiten auf den Food-Websites des Verlags sorgen. Statt aber selbst den Kochlöffel zu schwingen, sollen Food-Tuber Küchen-Clips liefern – die Geburtsidee des „Club of Cooks“. Drei Monate lang evaluiert Horstmannshoff seine Idee im sogenannten „Greenhouse“, Gruners Gewächshaus für digitale Projekte im Hamburger Schanzenviertel. Er inter­ viewt YouTuber, die als Clubmitglieder infrage kommen, spricht mit den Food-Redaktionen im Verlagshaus und mit möglichen Werbekunden. Am Ende darf der Koch-Club mit Genehmigung der Verlagsführung den Herd anschmeißen. Der „Club of Cooks“ lockt YouTuber mit einem höheren Tausender-Kontaktpreis, als YouTube ihn zahlt, und leiert turi2 edition #5 · Digital Me


Kooperationen mit Werbepartnern an. Davon hat auch „Mrs. Flury“ schon profitiert: Mit dem veganen Blubb­Spinat von Iglo kocht sie im Verlagsauftrag ein Spinat­Linsen­Curry, für Universal Deutschland gibt’s Brownies – die Rezepte laufen wie alle ihre Videos auf ihrem YouTube­Kanal. Die Ein­ nahmen für die Produktplatzierung teilen sich die Zürcher Hobbyköchin und der Hamburger Verlag. Zusätzlich bekommen die YouTuber inhaltlichen Support: Der Verlag gibt seinen Club­Köchen Zugang zu einer Musik­ datenbank und nimmt sich Zeit für Entwicklungsgespräche. Anders als Konkurrenz­Netzwerke verlangt Gruner + Jahr von den Mitgliedern keinen Beitrag, nur bei den Werbeein­ nahmen verdient das Zeitschriftenhaus mit. Die Größe von 30 Food­Tubern findet Flury optimal. Mehrfach pro Jahr trifft sich der „Club of Cooks“ in Hamburg. Flury findet den Aus­ tausch mit anderen YouTubern und Bloggern „hilfreich und nützlich“, auch wenn die manchmal ganz anders kochen als sie. Faustformel: Je dicker die Nutella aufgetragen wird, desto höher die Klickzahlen. Der aktuelle Clubchef David Breul mischt sich bei seinen YouTubern nicht ein: „Die Hobbyköche leben von ihrer Authentizität, wir wollen ihnen aber die Möglichkeit geben, sich weiterzuentwickeln“, sagt der 31­Jährige. Deshalb bietet er seinen Köchen auf den Club­Treffen auch Workshops für den Umgang mit Snapchat, Instagram und Facebook an. Oder Nachhilfe in Sachen Suchmaschinen­Optimierung. Das Rezept für den „Club of Cooks“ ändert sich praktisch ständig: Kurz nach dem Start entsteht gegen den eigentlichen Plan die Landingpage clubofcooks.de mit allen Rezept­Videos sowie eine Facebook­Präsenz, die der Seite Traffic bringen soll. Neben den externen Food­Tubern brutzeln die Club­Ma­ cher inzwischen auch selbst und produzieren eigene Videos – Zeitraffer­Filmchen, in denen ein aufwändiges Rezept in wenigen Sekunden verfolgbar ist. Die Abhängigkeit von Facebook fordert ihren Tribut. Wenn der US­Konzern die Zutaten in seinem Newsfeed anders dosiert, rotieren in Hamburg die Programmierer. Zuckerbergs neueste Idee: Links zu externen Videos, etwa auf clubofcooks.de, werden mit weniger Reichweite bestraft. Künftig laufen deshalb alle Club­Videos auch direkt auf Face­ book. Doch damit wandert auch die Monetarisierung von der eigenen Website in das soziale Netzwerk. „Wir haben natürlich einen Plan für 2018. Digitale Geschäftsmodelle fordern aber, dass wir uns schnell an Veränderungen anpassen“, sagt David Breul. Prognosen dar­ über hinaus lässt er lieber sein. Gruner + Jahr hat sich damit abgefunden, dass die Küche im „Club of Cooks“ praktisch nie kalt wird, sich das Geschäftsmodell also dauernd ändert. Als Konsequenz ist das Projekt an seinen Entstehungsort zurück­ gekehrt, das „Greenhouse“. Für klassische Verlagsstrukturen ändert sich die digitale Welt offenbar zu schnell.

Hallo, Schnittchen: Kurze Clips sollen Appetit machen turi2 edition #5 · Digital Me

Doris Flury ist eine von rund 30 Food­Tuberinnen und ­Tubern, die für den „Club of Cooks“ in der Küche stehen. Die Ernährungswissen­ schaftlerin betreibt gleichzeitig ihren eigenen Blog „Mrs Flury“

Die Marschrichtung für die weitere Entwicklung des Pro­ jekts gibt „Greenhouse“­Chef Jens Uehlecke vor: „Was funk­ tioniert wird ausgebaut; was nicht klappt, wird schnell und konsequent beendet.“ Die Macher glauben an das Erfolgs­ rezept des „Club of Cooks“ und haben bereits einen Ableger ins Netz gestellt: das „Kreativ­Kollektiv“, ein Netzwerk von derzeit 13 Do­it­yourself­Kanälen, auf denen genäht, gestrickt und gehäkelt wird. Bei Facebook laufen außerdem Experi­ mente mit einem „Klub der Kerle“, auf dem Männer allerlei verrücktes Zeug anstellen. Geld verdienen diese Versuche noch nicht. „Wir be­ trachten den ‚Club of Cooks‘ und seine Ableger als Startup­ Projekte. Also Innovationsprojekte, in die wir – monetär, technologisch und mit viel Herzblut – investieren“, sagt „Greenhouse“­Chef Uehlecke. Im Idealfall ist der „Club of Cooks“ also nur der erste Gang eines ganzen Social­Media­ Menüs. Das hat der Koch­Club mit Food­Tuberin „Mrs. Flury“ gemeinsam: Ihren Teilzeitjob im Marketing hat die studierte Ernährungswissenschaftlerin zugunsten ihres YouTube­Ka­ nals im Mai aufgegeben. Seitdem arbeitet sie an ihrer Marke – und hat obendrein noch mehr Zeit für ihre drei Kinder. „Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht und kehre zurück zu meinen Wurzeln.“ Leben kann sie von ihren Werbeein­ nahmen zwar noch nicht, aber sie entsprechen etwa dem Lohn aus ihrem früheren Job. Tendenz steigend.

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Picture Alliance

Masse und Klasse Der Foto-Händler Picture Alliance ist ein früher Spross der Plattform-Ökonomie. Doch das allein genügt im Zeitalter der Digitalisierung nicht mehr Von Jens Twiehaus

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Über 30.000 Bilder speisen Fotografen täglich ins System ein

Distribution“, sagt Genz. „Es geht nicht mehr um das Besitzen von Inhalten, sondern um das Verteilen.“ Wem die Pflaume im Speckmantel gehört, wird immer unwichtiger. Gewinner ist derjenige, der sie zur Verfügung stellt. Doch die Pflaume verändert sich: Medien brauchen immer häufiger Bewegtbild. Genz freut das natürlich, doch die momentane Lage bereitet ihm auch Kopfzerbrechen. Denn seine Kunden wollen immer mehr Bilder, gerne auch Videos. Doch sie haben immer weniger Geld dafür. Das drückt auf die Preise. Die Plattform muss zweigleisig fahren. Während sie noch mehr Material auf den „visuellen Marktplatz“ schafft, muss sie an besonderen Dienstleistungen verdienen. Dazu zählt Auftragsfotografie ebenso wie das Vorbauen kompletter Bildergalerien. Genz‘ Hoffnung für die Zukunft: Je mehr Bilder, desto größer der Beratungsbedarf. Er will Unternehmen künftig erklären, wie sie einen guten Aufbau für eine Pressekonferenz schaffen. Wo die Protagonisten sitzen müssen, ohne dass ihnen der Schatten der Deckenbeleuchtung Augenringe des Todes ins Gesicht zaubert. Es scheint, als sei die Pflaume im Speckmantel längst nicht mehr genug.

Picture Alliance wird ab 2002 von dpa-Bildchef Reiner Merkel als Online-Plattform der sechs großen Bildagenturen akg-images, Bildagentur Huber, dpa-Bilderdienste, kpa photo archive, Okapia und Picture Press aufgebaut. Heute vermarkten rund 250 Partneragenturen ihre Bilder über Picture Alliance

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Foto: picture alliance/Westend61

enn Andreas Genz über das Handeln mit Fotos spricht, fällt ihm eine Szene aus seiner Kindheit ein. Da steht der kleine Andreas in der Metro, einem Großverbraucher-Markt. Riesige Halle, Auswahl im Überfluss. Und trotz tausender Produkte: Am Ende, erinnert sich Andreas Genz, willst du immer ein bestimmtes Produkt. Wenn du die Metro ohne Pflaume im Speckmantel verlässt, war es kein guter Einkauf, Auswahl hin oder her. Ganz ähnlich ist es bei Picture Alliance. Genz ist Geschäftsführer des Foto-Händlers, der auf einer riesigen Datenbank sitzt. Masse ist gut, aber am Ende braucht es auch hier immer die buchstäbliche Pflaume im Speckmantel. Ein ikonisches Fotomotiv. Oder Material, das sonst niemand beschaffen kann. Von Frankfurt am Main aus verkauft Picture Alliance Bilder an mehrere tausend Medien. Bei der Tochterfirma der Deutschen Presse-Agentur schlummern 50 Millionen Bilder im Online-Archiv, 300 Millionen sind über Partneragenturen verfügbar. Picture Alliance und die Kollegen des dpa-Bildfunks sind die Standard-Versorger der deutschen Medien. Doch ihnen gegenüber stehen viele Konkurrenten. Nachrichtenagenturen, Symbolfoto-Anbieter wie Shutterstock oder das Adobe-Kreativ-Portal sind nur einen Klick entfernt. Die Ware Bild ist zwar begehrt, aber auch allgegenwärtig. Genz bemerkt den Preisverfall und den Spardruck vieler Kunden. Und hier kommt die Pflaume im Speckmantel wieder ins Spiel. Um besonders zu sein, muss Genz seine Pflaumen schmackhaft mit Speck umwickeln. Konkret bedeutet das: Picture Alliance muss viel Material anbieten – und zugleich viel Einzigartigkeit. Im Zeitalter der Digitalisierung sind die Bedingungen für Picture Alliance günstig. 2002 gegründet, ist das Unternehmen von Beginn an digital. Und ein früher Spross der so genannten Plattform-Ökonomie: Produktionen eigener Fotografen sind Nebengeschäft, Picture Alliance vermarktet vor allem die Arbeit anderer. „Heute dreht sich alles um


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„Wir wollen ein neues Publikum erreichen, direkt und unmittelbar, ohne Umwege über Multiplikatoren wie die Presse“

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Städel Museum

Moderne Kunst Im Frankfurter Vorzeigemuseum Städel ist Fotografieren nicht länger verboten, sondern Selfies machen erwünscht. Besucher können das Museum virtuell entdecken Von Heike Reuther

Foto: Städel Museum

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ir schreiben das Jahr 1878. Es ist das Jahr, in dem der neue Museumsbau des Städels am südlichen Mainufer eröffnet wird. Wir stehen vor einem Prachtbau aus Sandstein, der im Stil der Neorenaissance errichtet wurde. Drinnen warten 700 Jahre europäische Kunstgeschichte auf uns. Wir gehen auf den Eingang zu, passieren eine schwere Schwingtür und betreten den „Tempel der Kunst“. Wir nähern uns der Treppe, die uns in die beiden Obergeschosse führen wird. Oben angekommen, orientieren wir uns Richtung Wandelhalle – ein spartanisches Rondell in Hellgrau. Hier steht nur eine einzige Büste: Sie zeigt Johann Friedrich Städel, Frankfurter Bankier und Mäzen. Auf sein Testament von 1815 geht die Stiftung des Kulturinstituts zurück. Das zweite Obergeschoss ist Heimat der Alten Meister. Links öffnet sich die Galerie der Niederländer und Italiener. Rechts die der deutschen Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts. Cut. Wir nehmen die Samsung Gear VR vom Gesicht und sitzen im Büro von Kommunikationschef Axel Braun. Es ist wenig pompös, eher eine Denkzelle, klein und praktisch. An der Wand stehen Regale mit Fachliteratur, es gibt einen Schreibtisch mit Stuhl, eine weitere Sitzgelegenheit für Besucher. Von hier aus steuert Axel Braun mit einem Team von sieben Leuten die Kommunikation für zwei große Frankfurter Kulturinstitutionen: das Liebighaus, das die Skulpturensammlung der Stadt Frankfurt beheimatet. Und das Städel, das mit seiner Gemäldegalerie als renommierteste Museumsstiftung Deutschlands gilt. „Leitung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit & Onlinekommunikation“ steht auf Brauns Visitenkarte. Die Onlinekommunikation ist explizit erwähnt, denn als Axel Braun 2009 ans Städel kommt, befindet sich diese noch im Dornröschenschlaf. Der Grundstein für das Digital-Angebot des Städels wird 2012 gelegt. Damals wird der Erweiterungsbau eingeweiht. „Wir wollten ein neues Publikum erreichen, direkt und unmittelbar, ohne Umweg über Multiplikatoren wie die Presse“, erklärt Braun. Wieso nicht neue technische Möglichkeiten nutzen? Die Museumsbesucher direkt einbinden? Als erste und einfachste Maßnahme wird das FotografierVerbot im Museum aufgehoben. Dazu kommt Wlan im ganzen Haus. Zwei Museumsbesucherinnen aus Japan danken es mit einem Lächeln vor Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins „Goethe in der römischen Campagna“ und laden ihr Selfie umgehend bei Instagram hoch. Einem traditionellen

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Museumsbesucher gefällt das gar nicht, er schüttelt empört den Kopf. Doch so wird die Kunst im Städel mit der gesamten Welt geteilt. Die Kernaufgaben eines Museums lauten: sammeln, bewahren, forschen, vermitteln und ausstellen. „Unser OnlineAngebot ermöglicht ganz andere Lernerlebnisse, als es ein Besuch im Museum täte“, sagt Braun. Er selbst nutzt gern die „Digitorials“, ein kostenfreies multimediales Angebot, mit dem sich Besucher auf eine Ausstellung vorbereiten können. Die Jury des Grimme-Preises zeichnete die Frankfurter dafür mit dem Grimme Online Award aus. Mit so viel Aufwand und Liebe wie das Städel war bis dato noch kein Museum an die Sache herangegangen. Auch die Besucher werden eingebunden. Auf ihre Anregung entstand „Kunstgeschichte online – Der Städel Kurs zur Moderne“, mit der sich Laien einfach an 250 Meisterwerke annähern können. Worauf muss ich bei einer Bildbetrachtung achten? In welchem Kontext habe ich ein Bild zu sehen? Inzwischen ist das Städel voll im digitalen Zeitalter angekommen. 240 Filme finden sich auf YouTube, 108.000 Social-Media-Fans zählt der Jahresbericht 2016 für Städel Museum und Liebighaus. Dazu kommen 49.870 Downloads der Städel App. 16.220 Exponate sind bereits digitalisiert, 500.000 Mal haben Nutzer Digitorials abgefragt. Und die StädelKommunikatoren stellen fest, dass neben jungen Menschen besonders Männer auf das Digital-Angebot anspringen – eine Zielgruppe, die beim klassischen Museumsbesuch eher die Minderheit ist. Wir tauchen wieder in die Welt von 1878 ein. Über die Menüsteuerung der VR-Brille entscheiden wir uns für eine geführte Audio-Tour. Wir sehen, dass bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wände im Städel mit Gemälden regelrecht tapeziert waren. Wir lernen, dass durch die symmetrische Galeriehängung die Wände selbst zu Kunstwerken wurden. Eine halbe Stunde später sind wir wieder im Hier und Jetzt – und überrascht, wie spannend sich Kunst vermitteln lässt. Axel Braun studierte Kunstgeschichte und Soziologie in Hamburg und Paris. Er arbeitete für die Financial Times und die Mathildenhöhe Darmstadt, bevor er 2009 nach Frankfurt ging. Dort ist er für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie die Onlinekommunikation des Städel Museums und der Liebighaus Skulpturensammlung verantwortlich

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Flyeralarm

Alarm im Druckgeschäft Vor 15 Jahren beginnt Thorsten Fischer in seinem Jugendzimmer, Druckaufträge zu sammeln, zu bündeln und unschlagbar günstig zu produzieren. Es ist die Geburtsstunde von Flyeralarm, Europas größter Online-Druckerei Von Markus Trantow (Text und Foto)

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och heute erinnert sich Thorsten Fischer gut an jenen Tag im Jahr 2002, als er den wichtigsten Druckauftrag seines Lebens bekommt. Fischer, bis dahin ein mittelmäßig erfolgreicher Stadtmagazin-Macher aus Würzburg, hat gerade bei einem Gastwirt den siebten Druckauftrag für einen Werbeflyer akquiriert – und macht damit erstmals Gewinn. Denn er lässt die Flyer nicht einzeln drucken, sondern im Sammeldruck; mit acht anderen Handzetteln auf einem Druckbogen. Das ist deutlich billiger. Fischers Rechnung an jenem Tag ist einfach: 5.000 Werbeflyer im Format A6 kosten eigentlich 300 Euro, doch er bietet sie seinen Kunden zum Kampfpreis von 99 Euro an. An den Drucker zahlt er für den Sammeldurchlauf 600 Euro. Ab dem siebten Flyer verdient Fischer also Geld. Sind alle neun Plätze gebucht, macht er knapp 300 Euro Gewinn. Sind es nur sechs Bestellungen oder weniger, zahlt Fischer drauf. Und tatsächlich: An dem Tag, an dem Fischer den siebten Flyer verkauft, schafft er auch den achten und neunten. Er macht 30 Prozent Umsatzrendite und hängt das Stadtmagazin an den Nagel. Der Sammeldruck ist Fischers Königsidee – bis heute. Beim Druck von Handzetteln oder Visitenkarten kostet vor allem die Einrichtung der Druckplatten und -maschinen Zeit und Geld. Findet Fischer genug Kunden, die ähnliches Material bestellen, kann er deutlich günstiger anbieten. Kann er günstiger anbieten, findet er mehr Kunden. Den Kunden freut’s, 1.000 Visitenkarten für 30 Euro waren früher undenkbar. Fischers Idee, die sich dank Internet immer weiter verbreitet, hebt die Druckindustrie aus den Angeln. „Aus den Angeln heben“ sagt der Franke selbst aber nicht. Er spricht bescheidener vom „Dornröschenschlaf“, aus dem er die deutschen Drucker geweckt habe. Wegen seines Weckrufs herrscht der 42-Jährige jetzt über ein Druckimperium mit 2.000 Mitarbeitern, das 330 Millionen Euro Jahresumsatz macht. Im Jahr 2002 klappert Fischer noch selbst mit einem alten dunkelgrünen Peugeot Kneipen, Restaurants und Discos ab, um seine Druckaufträge auszuliefern. Eine Druckmaschine besitzt er nicht, die Aufträge erledigt damals eine Druckerei in Marktheidenfeld. Anfangs sitzt die Unternehmenszentrale in Fischers Elternhaus, im Jugendzimmer des Gründers. Dort haben er, eine Sekretärin und ein Programmierer aus dem Freundeskreis gerade so Platz.

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Ein einziges Massenmailing hat Fischer geschrieben, ganz am Anfang, erinnert er sich, an Frankfurter Gastronomen. Danach läuft die Sache von allein. 2004 kauft Fischer seine erste eigene Schneidemaschine, 2006 kommt eine Druckmaschine dazu. Zusammen mit Christoph Schleunung baut Fischer eine Reihe von Druckereien auf. Die Werke an acht Standorten stehen selten still und produzieren pro Tag zwischen zehn- und fünfzehntausend Kundenaufträge. Inzwischen nimmt Fischer für die Flyeralarm-Werbung beträchtliche Summen in die Hand. Allerdings gibt er sein Geld nur selten für klassische Anzeigen, Spots oder Banner aus. „Alles muss auf die Marke einzahlen“, sagt er – denn mit der hat er Großes vor. Fischer setzt auf Sport-Sponsoring: Bei Spielen der Fußball-Nationalmannschaft läuft das Flyeralarm-Logo über die Bande, seit 2013 heißt das Stadion der Würzburger Kickers am Dallenberg Flyeralarm-Arena. Fischer ist einer von drei Hauptsponsoren des Vereins. Am österreichischen Fußballklub Admira Wacker Mödling ist Flyeralarm sogar mit rund 20 Prozent beteiligt. Auch beim Basketball und im Wintersport ist der Online-Drucker als Sponsor aktiv. „World of Print“ leuchtet in weißen Großbuchstaben vom Schaufenster des Flagship-Stores im Erdgeschoss der Firmenzentrale. Im Showroom rückt der Chef Handzettel und Getränkedosen mit Logo gezielt ins rechte Licht. Zwar machen der klassische Flyer, Plakate und Broschüren noch immer den Löwenanteil des Geschäfts aus. Der Online-Shop bietet aber inzwischen mehr als drei Millionen Produkte, die sich individuell bedrucken lassen: Tassen und Sonnenbrillen, sogar Getränkedosen, Fußball-Trikots und USB-Sticks. Fischers Geschäft wächst und wächst – und produziert Zahlen, von denen traditionelle Druckereien nur träumen können. Seit 2006 ist die Zahl der Druckereien bundesweit von 653 auf 559 zurückgegangen, statt knapp 83.000 arbeiten nur noch rund 71.000 Menschen in der deutschen Druckindustrie. Flyeralarm dagegen wächst seit der Gründung um durchschnittlich 20 Prozent pro Jahr. Online-Drucker wie Fischer machen kleinen Druckern das Geschäft kaputt, sagen Kritiker. Bei Heidelberger Druck heißt es hinter vorgehaltener Hand, dass für jede Druckmaschine, die Flyeralarm kauft, fünf kleine Druckereien aufgeben. Fischer fühlt sich in der Rolle des digitalen Zerstörers sichtlich unwohl. Er sieht sich lieber als Bewahrer der Druckkultur. „Wenn wir den Sammeldruck nicht populär gemacht turi2 edition #5 · Digital Me


Flyeralarm wird 2002 in Würzburg von Thorsten Fischer gegründet – dem Mann auf dem Motorroller. Heute beschäftigt das Unternehmen 2.000 Mitarbeiter und bearbeitet 3,3 Millionen Aufträge pro Jahr. Das Unternehmen produziert an acht Standorten in Süddeutschland, dazu kommen elf Ladengeschäfte in der gesamten BRD. Auch im EU-Ausland ist Flyeralarm präsent– in den Niederlanden, Frankreich, Spanien und Ungarn

hätten, wäre der klassische Druck im heutigen Internetzeitalter nicht mehr konkurrenzfähig.“ Überhaupt sieht Fischer sich nicht als Online-Drucker: „Wir arbeiten ja in der wirklichen Welt und beschäftigen echte Menschen zu guten Gehältern.“ Flyeralarm druckt nahezu alle seine Produkte auf eigenen Maschinen in Würzburg, Marktheidenfeld und an zwei Standorten in Sachsen. Auch die Aufträge aus seinen Onlineshops in 14 europäischen Ländern laufen in Würzburg vom Band. Sogar eine Zuckerabfüllung hat Fischer gebaut – für die kleinen Tütchen mit Werbeaufdruck in Cafés und Gaststätten. Und Flyeralarm breitet sich immer weiter in der Offline-Welt aus. Zwischen Hamburg und Freiburg gibt es elf Shops, in denen Kunden Druckaufträge abgeben, die Produkte anfassen und sogar Grafik-Arbeiten erledigen lassen können. Wo liegt die Zukunft von Flyeralarm? Ans nächste große Ding, auf das im Silicon Valley alle hoffen, glaubt Thorsten Fischer nicht. „Wir gehen lieber viele kleine Schritte. Das ist nachhaltiger.“ Auch sonst hat der Unternehmer mit Startups aus den USA wenig gemein: Einen schnellen Exit mit einer Übernahme durch Bertelsmann hat Fischer vor einigen Jahren ausgeschlagen. Ein externer Manager, der das Unternehmen auf Gewinnmaximierung trimmen sollte, musste nach einem Jahr wieder gehen. Der Digitalisierungs-Gewinner Thorsten Fischer ist ein Digitalisierungs-Skeptiker. Und ein durch und durch analoger Mensch. Auf dem Sideboard in seinem Büro stapeln turi2 edition #5 · Digital Me

sich dicke Print-Magazine, Facebook und Twitter sind ihm zuwider. Die Verschiebung der persönlichen Kommunikation in soziale Netzwerke hält er für gefährlich und beobachtet besorgt, wie Familien beim Essen lieber mit ihren Smartphones daddeln anstatt ein Gespräch zu führen. Trotzdem hat Flyeralarm im Digitalgeschäft einen Fuß in der Tür. Das Unternehmen spielt natürlich bei Social Media mit, auch wenn Likes, Shares und Retweets meist zweistellig bleiben. Bei Facebook verdient Fischer sogar Geld als Mittler: Kunden können ihren Flyer oder ihr Plakat via Flyeralarm bei Facebook in die Timelines der Zielgruppe bringen. „10.000 garantierte Sichtungen“ gibt es bei den Würzburgern für 69 Euro. Und Flyeralarm bietet sogar Kreation: Der Ableger Moving Pictures dreht kurze Animations-Videos in 2D und 3D, programmiert bewegte Infografiken und interaktive Filme. Auch hier startet Fischer mit Kampfpreisen von 499 Euro pro Produktion. Kann also sein, dass der Slogan „World of Print“ für Flyeralarm und Fischer bald zu eng wird. Ganz entziehen kann Thorsten Fischer sich der digitalen Welt ohnehin nicht. Vermutlich will er das auch gar nicht: Immerhin hat er zwei iPhones, die dauernd vibrieren und um Aufmerksamkeit betteln. In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ spricht Thorsten Fischer über die Erfindung des Sammeldrucks turi2.de/edition/flyeralarm

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Am Set: Die Macher der „Zeit Akademie“ konkurrieren heute mit Diensten wie Netflix und Amazon. Deshalb werden die Produktionen aufwändiger

Angela Broer ist seit September 2014 Chefin der „Zeit Akademie“. Davor arbeitete die DiplomKauffrau unter anderem für Gruner + Jahr, zum Beispiel als Director Electronic Media der G + J Wirtschaftsmedien

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Zeit Akademie

Seminar in Serie Wer etwas lernen will, kann bei der „Zeit“ VideoSeminare auf DVD kaufen. Oder sich seine tägliche Dosis Wissen ganz einfach streamen Von Jens Twiehaus

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ngela Broer eilt zum Termin. Die langen blonden Haare fliegen hinter ihr durch die Flure des backsteinernen „Zeit“-Verlagshauses; Broer ist bei der Team-Verabschiedung aufgehalten worden. Bei einem SchönesWochenende-Handschlag bespricht die „Zeit Akademie“-Leiterin, was in der Woche so los war. Und, viel wichtiger: was nächste Woche kommt. Die „Zeit Akademie“ ist ein junges Gewächs des Verlags. Im Januar 2011 steigt die Wochenzeitung in das Geschäft mit der Weiterbildung ein. Zum Auftakt erläutern die Professoren Julian Nida-Rümelin und Rüdiger Pohl politische Philosophie und Wirtschaft in DVD-Seminaren. Das ist gefühlt schon länger her als 2011. Denn die Digitalisierung wälzt die Akademie seitdem ganz unakademisch im Eiltempo um. Vor allem Broer tritt aufs Gas. Im Sommer 2014 holt Verlagschef Rainer Esser die frühere Unternehmensberaterin ins Haus. Sie richtet die noch junge Akademie neu aus und macht sie zum spannendsten Digitalgeschäft des Hauses. Unter ihr steigt der Absatz rein digitaler Akademie-Produkte, der früher unbedeutend war. Inzwischen ist jedes dritte verkaufte Produkt virtuell, Tendenz: stark steigend. Die DVD bleibt immer häufiger im Lager. Broer bedauert das Ausklingen des alten Geschäftsmodells nicht. Ganz im Gegenteil – sie treibt die Digitalisierung konsequent voran. Broer ist diplomierte Kauffrau. Sie spricht knappe Sätze mit einem Bullshit-Anteil, der gegen 0 geht, was im Digitalgeschäft ein seltenes Phänomen ist. Ihr kleines Team bezeichnet sie als „Startup innerhalb des ´Zeit´-Verlags“. Und führt es entsprechend. Die Truppe erwirtschaftet bereits einen Millionenumsatz. Mehr als 15.000 Seminare gehen im Jahr über die virtuelle Ladentheke – wobei die Zahl nur noch schwer zu ermitteln ist. Immer mehr Wissensdurstige streamen ihr Seminar, sie kaufen Abos statt DVD-Boxen. Broer entwickelt dafür pragmatische Angebote: Sie bietet „Zeit Akademie“-Lektionen zum Kauf auf Xing an. Auf der Streamingplattform von Amazon können Nutzer ein Dutzend Seminare für eine monatliche Flatrate von acht Euro ansehen. Die „Zeit Akademie“ wird ein bisschen zum YouTube für Profis. Oder auch: das Netflix für Bildunghungrige.

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Häppchenweise Wissen: Die Videos der „Zeit Akademie“ sind heute kürzer als frühere Produktionen – und folgen den Protagonisten ins persönliche Umfeld

Doch die Netflixisierung der Online-StreamingWelt birgt im Vertrieb ihre Tücken. Netflix definiert die Preise für Abos im Netz. Das Standard-Angebot liegt bei 9,99 Euro im Monat, die übliche Schmerzgrenze. Denselben Preis verlangt auch Spotify für sein werbefreies Musikangebot. Bei der „Zeit Akademie“ verkaufen sie den vollen Online-Zugang immerhin ab 14,99 Euro aufwärts. Verglichen mit 129 Euro teuren DVD-Boxen ein Schnäppchen. Verschleudert die „Zeit Akademie“ ihr Angebot? Nicht unbedingt. An dieser Stelle kommt Zahlen-Mann Nils von der Kall ins Spiel. Der Marketingchef des Verlags ist Broers Co-Chef in der Akademie. Er kalkuliert, dass günstige Abos am Ende mehr einbringen können als einzelne DVD-Boxen. Ein bisschen Prinzip Hoffnung schwingt mit, denn auch von der Kall kann nur hochrechnen. Für die durchschnittliche Laufzeit eines Abonnements glaubt er an 300 bis 400 Euro Umsatz. Das bedeutet: Wer einmal gebucht hat, bleibt lange dabei. Und jeden Monat füllt sich die Kasse um weitere 14,99 Euro. Ähnlich wie die Kaufrituale ändern sich auch die Sehgewohnheiten der Kunden. Kulturpessimisten werden die Hände vors Gesicht schlagen: Selbst die Zielgruppe der „Zeit Akademie“ will es bildreicher, leichter, schneller. Auch hier setzt Netflix die Standards. Der US-Konzern produziert statt Standardware Serien in Kino-Optik. Letztlich konkurriert auch die „Zeit Akademie“ mit solchen Angeboten um Aufmerksamkeit und Zeit der zahlenden Nutzer. Broer kennt den alltäglichen Konflikt selbst, sie ist Fan der Netflix-Serie „House of Cards“. Die abendliche Frage lautet: Serie oder Seminar? Die heutigen Online-Seminare werden visuell anspruchsvoller und folgen ihren Protagonisten ins persönliche Umfeld. In früheren Seminaren genügte noch die Qualität aus biederen Telekolleg-Zeiten: Mann steht vor Wand. Die Lektionen waren um die 30 Minuten lang. Wenn die ProduktionsCrew jetzt loszieht, bringt sie 15- bis 20-minütige Häppchen mit. Auch die Gesamtspielzeit der Seminare schrumpft – von früher acht auf heute maximal sechs Stunden. Weil selbst das wohlsituierte, aber vielbeschäftigte „Zeit“-Klientel sich kaum noch stundenlang auf ein Thema konzentrieren will.

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In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ erklären Angela Broer und Nils von der Kall die Strategie der „Zeit Akademie“ turi2.de/edition/zeit-akademie

Broers Überzeugung lautet deshalb: „Academia und Entertainment dürfen sich nicht ausschließen.“ Die Themen werden weicher, denn das größte Interesse gilt nicht unbedingt den Klassikern aus der Uni. Sie weiß das, denn sie befragt einen festen Kundenstamm und lädt wechselnde Fokusgruppen ein. Daraus lernt Broer, dass die Nutzer „nicht alle akademischen Fächer durchreiten“ wollen. Seminare zum menschlichen Gehirn, zu Fotografie, Rhetorik und Business-Kommunikation für Frauen stehen auf dem Lehrplan. Kein Wunder: Auch im Kostenlos-Universum YouTube zählen Erklärvideos, so genannte Tutorials, schon lange zu den beliebtesten Formaten – vom richtigen Krawattenbinden bis zum Kochen der cremigsten Karottensuppe. Die Zukunft ist übrigens nicht nur Video. Künftige Seminare bekommen mehr Begleitmaterial, Podcasts zum Hören sollen das Bewegtbild ergänzen. Broer will zeitakademie.de als E-Learning-Plattform etablieren. Präsenz-Kurse sind kaum interessant: „Stationäre Bildung skaliert nicht.“ Dann fliegt Broers blonde Mähne mit ihr zur Tür hinaus. turi2 edition #5 · Digital Me


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Deutsche Bank

Deutsche Werk-Bank Geldgeschäfte werden digital, die Bankfiliale der Zukunft heißt Smartphone. In einem Gewerbegebiet am Stadtrand von Frankfurt kämpft die krisengeschüttelte Deutsche Bank deshalb um ihre Zukunft Von Jens Twiehaus

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ie digitale Zukunft der Deutschen Bank beginnt in einem betonfarbenen Büroviertel. Der Name Digitalfabrik an der Fassade trifft es gut: Wer aus dem Fabrikgebäude tritt, fällt fast auf die lärmende A66 am Rand von Frankfurt am Main. Ernüchterung einerseits, aber auch ein Ort, der erdet. Vielleicht ist Bodenhaftung die beste Strategie für ein Unternehmen, das durch Zockereien erst Milliarden Euro und dann das Ansehen der Kunden verloren hat. Während der Konzern Stellen streicht, arbeiten in der Digitalfabrik schon mehr als 400 Leute. Bald 800, wenn nebenan weitere Büros frei werden. In der Fabrik sitzen überwiegend Männer unter 40 ohne die obligatorische Banker-Krawatte. So unspektakulär sieht Zukunft auf den ersten Blick aus. Doch es lohnt sich ein zweiter. Ein Grundproblem der digitalen Revolution: Sie ist beinahe unsichtbar. Ob die Mitarbeiter Spesenbelege ausfüllen oder Software programmieren, ist kaum zu unterscheiden. Joris Hensen, der sich Innovations-Manager nennt, versichert: Hier wird programmiert. Etwas, das es in der 150-jährigen Geschichte der Deutschen Bank nicht gab: ein offenes System. Informatiker Hensen leitet das Team dbAPI. Dessen Mitglieder tun etwas, das für eine Bank unerhört klingt: Sie bauen an die Computer-Systeme der Bank eine ProgrammierSchnittstelle heran, über die externe Dienstleister Kundendaten saugen können. Was dieses kontrollierte Datenleck bewirken soll, erklärt Hensen gemeinsam mit „Head New Digital Ecosystem“ Frank Pohlgeers. Die aktuelle Situation ist so: Seit einigen Jahren wollen immer mehr Menschen ihre Geldgeschäfte per Smartphone steuern. Zeitgleich fallen App-Entwicklern tausend Geschäftsmodelle ein, was sich mit Konto- oder Kapitalmarkt-Daten anstellen ließe. An dieser Stelle kommt die Schnittstelle dbAPI ins Spiel. Indem sich die Deutsche Bank nach außen öffnet, lädt sie externe Partner ein, ihre Produktwelt zu erweitern. Es wäre denkbar, dass sich das Deutsche-Bank-Konto künftig per WhatsApp meldet, bevor es ins Minus geht. „Die dbAPI ist wie eine Steckdosenleiste. Wir bauen immer neue Steck­plätze dran“, sagt Hensen. Fremde Anbieter können sich daran anschließen – wenn der Kunde seine Daten herausgeben will. Unter strengsten Datenschutz-Kriterien, versichert Pohlgeers, der die Startup-Partner einzeln mitaussucht. Durch das Erdgeschoss der Digitalfabrik flitzt Michael Koch. Auf den vielen Zetteln des Online-Banking-Chefs

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steht ein straffes Programm: Seine Leute müssen neue EUStandards in die digitalen Produkte einbauen und alle Apps auf die neuesten Software-Versionen der Handyhersteller bringen. Die Zeiten, in denen Kunden Überweisungsträger in Briefkästen warfen, waren einfacher. Sie kommen aber nicht wieder. Koch wirkt nicht wie einer, der diesen Zeiten hinterhertrauert. Er hat ein paar Minuten übrig und zückt sein iPhone. Auf die Deutsche-Bank-App ist Koch so stolz, dass er seinen privaten Kontostand offenbart, anstatt ein Demokonto zu zeigen. Beim Blick auf die Zahl entschuldigt er sich: er habe kürzlich geerbt. Dann navigiert Koch mit Wischgesten durch sein Konto: Die App visualisiert, wo das Geld herkommt und wohin es fließt. Flugs liefert Koch einen weiteren Beleg für die neue Offenheit der Deutschen Bank: Auch Konten anderer Institute können in die App integriert werden. Die Deutsche-Bank-App wird so zur Plattform für Finanzgeschäfte. Ein Tribut an die globale Plattform-Ökonomie. Doch es gibt auch Hindernisse. Eines ist vor allem die Komplexität des Unternehmens. Ausgerechnet die ComputerTechnologie macht Probleme. Die Banker-Gewerkschaft DBV wirft dem Unternehmen vor, „außen hui und innen pfui“ zu sein. Die Rede ist von 38 Betriebssystemen, auf denen die technische Architektur der Bank ruht. Hensen und Pohlgeers werden einsilbig bei solchen Themen. Auch sie kämpfen mutmaßlich täglich mit Versäumnissen der Vergangenheit. Ihre Schnittstelle nach außen soll es jetzt richten. „Wir sind offen für Partnerschaften mit FinTechs und den großen Internet-Playern“, sagt Hensen. Heißt: Die Deutsche Bank öffnet auch Google, Amazon und Facebook die Tür zu ihrer Daten-Schatzkammer.

In der Augmented-RealityApp zur „turi2 edition“ beschreibt Joris Hensen die Öffnung der Deutschen Bank nach außen turi2.de/edition/ deutsche-bank

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Sportbuzzer

Der Cheftrainer Der Sportbuzzer von Madsack bündelt das Fußballgeschehen in Deutschland – egal ob Champions League oder Kreisliga. Sportchef Marco Fenske sorgt dafür, dass der digitale Ball rollt Von Markus Trantow

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erfen, fangen, werfen, fangen ... Wenn Marco Fenske in seinem Büro der Madsack-Zentrale in ­Hannover sitzt und telefoniert, hat sein Baseball keine ruhige Minute. „Mein Stressball“, sagt Fenske. Passt zu einem Ex-Amateur-Kicker. Mit Bällen umgehen, das kann Fenske. In seiner aktiven Zeit hat es der 34-Jährige zwar nur bis in die Kreisliga gebracht, in seinem Heimatverein SV Bredenborn ist Fenske aber bis heute Torschützenkönig des Jahrtausends. Seit Beginn des Millenniums hat kein Spieler öfter pro Saison getroffen als er. Torjubel sieht Fenske heute meist indirekt – auf dem Flach­ bildschirm gegenüber seinem Schreibtisch. Dort beobachtet er die Besucherzahlen auf sportbuzzer.de, denn Fenske ist für den Erfolg der zeitungsübergreifenden Fußball-Plattform verantwortlich. Wenn Hansa Rostock oder RB Leipzig spielen, schnellen die Zahlen in die Höhe. Der Live-Ticker ist dann die meistgeklickte Seite. „Die Mehrheit unserer Leser interessiert sich für ihren Verein vor Ort“, sagt Fenske. Rund drei Viertel aller Klicks verbuchen regionale Inhalte. Schon zum Start 2013 ist Regionalität die Stärke des Sportbuzzers. Er entsteht zwölf Mal: unabhängige Sportportale, die als Beiboote neben den Sportseiten der Madsack-Zeitungen schippern. Entwickelt hat sie Uwe Dulias, selbst SportReporter und Erfinder von bild.de. Eine der Grundideen: Hier sollen die Mannschaften aus den unteren Ligen aufspielen. Vereine und Fans können selbst Spielberichte publizieren, später Fotos und Videos hochladen. Vorbild und Konkurrent ist das Portal FuPa.net. Das Startup, 2006 von einem Schüler gegründet, funktioniert nach demselben Prinzip. Als es durch Kooperationen immer größer wird, setzt Dulias ihm ein eigenes Portal entgegen. Den Sportbuzzer. Heute ist Dulias beim Sportbuzzer der Elder Statesman. Fenske schätzt den Input des fast dreißig Jahre älteren Journalisten: „Ich wäre ja auf den Kopf gefallen, wenn ich auf seine Erfahrung und Expertise verzichten würde.“ Mehrmals pro Woche tauschen sich Gründer und Geschäftsführer mit­einander aus. Und Dulias steht schon mal um halb elf am Vormittag im Büro von Fenske und fragt, warum auf der Webseite nur Artikel vom Vortag stehen. Anfang 2017 baut Fenske das Sportbuzzer-Konzept radikal um. Aus den zwölf regionalen Plattformen machen er und seine Mannschaft ein großes Portal mit zwölf Unterseiten. Er verteilt die Arbeit neu: In der Zentrale in Hannover entstehen die überregionalen Texte und Bildergalerien, die auf allen Seiten der Madsack-Gruppe laufen. Die Regional-Reporter sollen stattdessen ihre ganze Energie in den Fußball vor Ort stecken.

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Unumstritten ist der Umbau nicht. Der Betriebsrat fürchtet Stellenabbau, weil die Sportredaktionen der „Hannoverschen Allgemeinen“ und der „Neuen Presse“ zusammen­gelegt werden. Auch die Onliner sind skeptisch. Wenn Fußball nicht mehr auf den Portalen der Zeitungen läuft, zieht der Sportbuzzer womöglich Klicks ab. „Wir haben keine Stellen abgebaut“, kontert Fenske, „ganz im Gegenteil: Wir stellen Journalisten ein.“ Auch die Kannibalisierungs-Ängste seien unbegründet. Der Sportbuzzer zieht zwar 15 Prozent seines Traffics von Zeitungsportalen; die Zahl der Nutzer, die das Portal via Google oder direkt ansurfen, ist aber fast fünfmal so hoch. Wie schafft es der Fußball-Tanker aus Hannover, in Kiel, Rostock oder Leipzig ein wendiges Schnellboot zu sein? „Ich sehe uns als eine große Sportredaktion, egal, wo in Deutschland die Kollegen arbeiten“, sagt Fenske. Mindestens zweimal im Jahr trifft er sich mit allen Sportchefs zum Workshop. Dreimal pro Woche schaltet er sich per Video-Konferenz mit allen Standorten zusammen. Für jede Redaktion definieren Fenske und sein Team Zielvorgaben, helfen aber auch, diese zu erreichen. Wenn es in Potsdam nicht läuft, sieht der Cheftrainer in Hannover das als eigene Niederlage. Das digitale Kurzpassspiel zwischen den Regionen und der Zentrale ist ein Erfolgsrezept. Über ein zentrales Portal sehen alle Sportbuzzer-Journalisten in Echtzeit, woran die Kollegen von Kiel bis Leipzig arbeiten. Nur bei den gedruckten Seiten für die Zeitungen gibt es Nachholbedarf. Ein Drittel der Sportbuzzer-Standorte kann fertige Sportseiten nicht selbst ändern, sondern muss dafür die Zentrale anrufen. Grund sind unterschiedliche Redaktions-Systeme, die aber Schritt für Schritt umgestellt werden sollen. Dass Marco Fenske sich dann zurücklehnt, ist kaum vorstellbar. „Ich bin eigentlich nie zufrieden.“ Der Sportchef hat viele Pläne. Seit diesem Jahr versucht sich der Sportbuzzer zum ersten Mal mit einer Show im Web-TV. Bei der Premiere diskutieren Leipzigs Sportdirektor Ralf Rangnick, Sportkommentator Wolff Fuss und Ex-Spieler Stefan Effenberg. Fenske schwitzt Blut und Wasser, weil die Skype-Schaltung zum früheren Gladbach-Trainer Lucien Favre erst Sekunden vor der Sendung funktioniert. Künftig soll die Talkshow dreimal pro Saison laufen. Und dann ist da ja noch die Idee des Sportbuzzers als Mitmachportal. Die Funktion war abgeschaltet – aus technischen Gründen, sagt Fenske. Seit Juni können User ihre Texte wieder veröffentlichen. Und es sollen mehr werden: Fenske will verstärkt um Schreiber aus den Amateurligen werben.

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Marco Fenske war stellvertretender Sportchef der Münchner „Abendzeitung“, bevor er zu Madsack wechselte. Seit November 2016 verantwortet er den Sportbuzzer

Sportbuzzer Zahlen und Fakten

2013 wird der Sportbuzzer gegründet

14.000.000

12 Seitenaufrufe verzeichnet der Sportbuzzer monatlich

Sportbuzzer-Standorte gibt es in Deutschland: Hannover, Dresden, Leipzig, Kiel, Rostock, Lübeck, Bremen, Wolfsburg, Schaumburg, Göttingen, Peine und Potsdam

Neun

festangestellte Sportbuzzer-Redakteure arbeiten in der Zentralredaktion

30.000 User-Autoren sind auf der Plattform angemeldet

In der Augmented-RealityApp zur „turi2 edition“ erklärt Marco Fenske, wie Madsack die Sportberichterstattung umbaut turi2.de/edition/sportbuzzer

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Bild

Die bewegte „Bild“ Die Zukunft der „Bild“ liegt eher im Digitalen als am Kiosk. Die Redaktion gibt bei Videos Vollgas – und tut sich schwer, den Überblick zu behalten Von Jens Twiehaus

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as riesige iPad ist weg. Lange leistete es treue Dienste im Newsroom der „Bild“-Redaktion. An dem tischgroßen Touchscreen suchten Redakteure Fotos aus, diskutierten und verwarfen. Jetzt ist ausgerechnet das iPad Opfer der Digitalisierung geworden. In der Herzkammer der „Bild“ stehen stattdessen neue Tische, an denen junge Männer vor Doppelmonitoren sitzen und Videoclips schneiden. Es ist nur eine Momentaufnahme. Aber die Sache mit dem iPad hat Symbolkraft: Die „Bild“ befindet sich im größten Umbruch ihrer Geschichte. Im Hochhaus des Axel Springer Verlags gibt es mittlerweile sechs Orte, an denen Journalisten Live-Übertragungen ins Internet starten können. Ein gläserner Konferenzraum ist zum kleinen Studio umfunktioniert. Moderator Moritz Wedel hält Politik-Chefkorrespondent Ralf Schuler ein „Bild“-Mikrofon vor den Mund. Scheinwerfer leuchten, ein Kameramann filmt, einige Stockwerke tiefer führen vier Leute Regie. Bevor Schuler wieder Texte schreibt, ist er live auf Sendung. Wer jetzt denkt, „Bild“ wandle sich zum Fernsehsender, hat die Sache nur halb verstanden. Jakob Wais ist der Richtige, um alles einzuordnen. Wais, Ende 20, ist oberster Videostratege im Haus. Der Röhrenjeans-Träger strahlt die Ruhe aus, die dem Blut-und-Brüste-Angebot von bild.de fehlt. Wais nimmt im größten „Bild“-Studio Platz und beginnt, Scheckkarten auf dem Boden zu verteilen. Zur Veranschaulichung. Jede Karte steht für ein Video-Team. Personalausweis: steht für das Team „Now Video“ – schnelle Clips für soziale Medien. Bankkarte: „Visual Reporting“, aktuelle Reporter-Berichte. Kreditkarte: das Team für Livesendungen. Presseausweis: besondere Formate wie die Web-Kochshow „Futtern“. Führerschein: das Team „Sport-Video“. Wais‘ Krankenkassen-Karte steht für „Operation Netflix“. Unter diesem Schlagwort entwickelt ein Team Video-Serien, die es mit dem Streamingriesen aus den USA aufnehmen sollen. Wais verschiebt Karten wie ein Hütchenspieler und fragt: „Alles klar?“ So ganz klar ist ihm selbst noch nicht, welche Blüten der Wandel treibt. Zeitlich lässt sich die Entwicklung von „Bild“ zur Videoplattform besser einordnen: Sie beginnt am 13. November 2015 um 21 Uhr 17. Damals detoniert vor dem Pariser Stade de France der erste Sprengsatz. Millionen Fernsehzuschauer, die das Spiel Frankreich gegen Deutschland sehen, hören den Knall. Und wollen wissen: Was ist da los? Die TV-Journalisten sind vor Ort, sie können live berichten. Das, sagt Wais, erwarten Nutzer heute: ganz schnelle Einordnung. Dafür gibt es nichts Authentischeres als live übertragene

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Bewegtbilder. „Wenn sich Informationen schneller verbreiten“, sagt Wais, „müssen Journalisten noch schneller Orientierung bieten.“ Die Welt dreht sich nicht nur immer schneller, sie kommuniziert auch immer mehr. Vor allem große Unternehmen und Prominente sind längst kleine Medien-Unternehmen, die Instagram-Fotos an Millionen Fans verbreiten und so Deutungshoheit erlangen. Für ein Massenmedium wie „Bild“ gibt es nur zwei Optionen: zuschauen oder mitmachen. Die „Bild“ entscheidet sich für Variante zwei und stellt jetzt Leute ein, die sich ausschließlich um Hochkant-Fotos und -Videos für Smartphones kümmern. Wais wird bald noch mehr Scheckkarten auspacken müssen, weil weitere Spezialisten in die Redaktion kommen. Ein solcher Spezialist ist auch Kai Weise. Der bärtige Hüne ist Politik-Redakteur und verantwortlich für die montägliche Politik-Internet-Talkshow „Die richtigen Fragen“. Spitzenpolitiker streamen live aus ihren Wohnungen oder vom Arzttermin. Wenn „Bild“ ruft, sagen nur wenige ab. Kai Weise kennt das Geschäft auch, weil er zuvor die Redaktion des ARD-Talks „Günther Jauch“ geleitet hat. Natürlich schauen online an einem Montagmorgen weniger Menschen zu, aber Weise denkt einen Schritt weiter: Seine Redaktion nutzt die Livegespräche als Quelle. Knackige Zitate landen bei den Nachrichtenagenturen, die sie weiterverbreiten. Die besten Videoclips laufen auf bild.de und in den sozialen Netzwerken. „Bild“ hat eine Maschine aufgebaut, die immer mehr bewegte Bilder produziert. Denn durch Werbespots in ihren Videos und Abonnements erschließt die „Bild“ neue Geldquellen. Anders als in den meisten Unternehmen herrscht hier keine Angst vor radikalem Wandel. Oder, wie es Redakteur Kai Weise formuliert: „Veränderungen sieht hier niemand als Gefahr.“

In der Augmented-RealityApp zur „turi2 edition“ verrät Jakob Wais, woran „Bild“ bei Bewegtbild arbeitet turi2.de/edition/bild-digital turi2 edition #5 · Digital Me


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Bräustüberl

Digitalitas Bavariae Peter Hubert ist Wirt mit Leib und Seele. Trotzdem geht er schon 2009 unter die App-Entwickler, um das Bräustüberl Tegernsee mobil zu machen Von Alexandra Korimorth

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eter Hubert ist ein junger Wirt der alten Schule. Er führt das legendäre Tegernseer Bräustüberl und verknüpft dort Gegensätzliches zu einem erfolgreichen Ganzen: Erstens ist er Gastgeber mit Leib und Seele. Für süffiges Bier, resche Brezn und cremigen Obazd‘n hat er ein Gespür wie kaum ein anderer. Punkt zwei: Hubert hat einen Hang zu neuen Medien. Dem hat das Traditionshaus unter anderem eine App zu verdanken, die bayerisches Lebensgefühl direkt auf das Smartphone des Kunden bringt. 2009 sitzen Hubert und Stammgast Harry Zischg bei einem Tegernseer Hell zusammen. Zischg kümmert sich damals um die EDV des Bräustüberls, das auf Homepage, Facebook und YouTube bereits recht umtriebig ist. Nur eine eigene App fehlt noch – so etwas können sich bisher nur die großen Konzerne leisten. Warum also nicht eine Standard-App individualisieren, die sich auch Unternehmen mit kleinerem Budget leisten können? Kurze Zeit später wird Wirt Hubert zum IT-Unternehmer und App-Vorreiter. Gemeinsam mit Zischg und einer IT-Firma gründet er die appstro GmbH. Die Firma soll eine Applikation entwickeln, die das Bräustüberl mobil macht. Ein Jahr später geht die Bräustüberl-App an den Start. Sie ist eine der ersten ihrer Art in der Gastronomie, obwohl sie nicht sonderlich kompliziert ist: Nutzer können sich durch verschiedene Speisekarten scrollen, durch eine Bildergalerie wischen, Tische reservieren und direkt via App in Tegernsee anrufen. Verknüpft sind auch die Videos aus dem hauseigenen YouTube-Kanal, in denen etwa der bayerische Kult-Comedian Harry G seine Witze über Weißwürste und „Zuagroaste“ reißt. Denn Wirt Hubert sendet volles Rohr – auf allen Kanälen. Er ist Herausgeber einer eigenen „Bräustüberlzeitung“, die gedruckt auf allen Tischen liegt und online abrufbar ist. Bei Facebook hat sein Haus mittlerweile 90.000 Abonnenten, im digitalen „Bräu-Ladl“ verkauft Hubert Fußmatten, Sonnenschirme und Blechschilder mit „Buzi“, dem Maskottchen des Bräustüberls. Die Filme des hauseigenen YouTube-Kanals verzeichnen 40.000 Abrufe. Mit seiner App bringt Hubert all diese Stränge zusammen. 15.000 Mal wurde sie bis jetzt heruntergeladen, jeder zehnte Download kommt aus dem Ausland – von Japan bis Australien. Und Hubert ist längst noch nicht fertig: „Sobald man die App mit einer Geruchsfunktion ausstatten kann, mit der sich die Aromen unserer Schmankerl in die Welt tragen lassen, rüsten wir nach“, verspricht er augenzwinkernd. turi2 edition #5 · Digital Me

Das Bräustüberl in Tegernsee zieht täglich hunderte Besucher an – mit toller Aussicht und einer App

2012 wird Hubert für sein Engagement zu einem der 100 innovativsten Mittelständler Deutschlands gewählt. Die Jury um TV-Journalist Ranga Yogeshwar bescheinigt ihm „exzellenten Erfindergeist und einen erfolgreichen Brückenschlag von der Idee zum Markterfolg“. Mittlerweile hat die Bräustüberl-App viele Nachahmer, Brauhäuser rund um die Welt bieten ähnliche Plattformen an. Das Original aber kommt aus Tegernsee. Genau wie das Bier.

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Christian Friege, Jahrgang 1966, ist seit Juli 2017 Vorstandsvorsitzender von Cewe. Der studierte Betriebswirt verantwortete zuvor den Vertrieb des Unternehmens

Carsten Heitkamp, Jahrgang 1964, ist Vorstand für Betriebe und Logistik bei Cewe. Von 2013 bis 2014 wirkte er bei Cewe als Geschäftsführer

In der AugmentedReality-App zur „turi2 edition“ sprechen Christian Friege und Carsten Heitkamp über den Wandel des Fotogeschäfts turi2.de/edition/cewe

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Cewe

Einkleben war gestern Print ist tot? Von wegen! Cewe, jahrzehntelang Fotoentwickler im Hintergrund, hat sich selbst neu erfunden. Und dem Fotoalbum eine digital-analoge Zukunft gegeben

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Von Markus Trantow

ie Antwort auf „Wer hat’s erfunden?“ lässt sich für das Fotobuch nicht mehr genau rekonstruieren, doch die Spur führt tatsächlich in die Schweiz – und nach Bayern. Schon in den Siebzigern kursiert die Bezeichnung Fotobuch für Bände, in denen Fotografen ihr Portfolio zeigen. Um die Jahrtausendwende gibt es Fotobücher, wie wir sie heute kennen, bei Anbietern wie fotobuch.ch und fotobuch.de. Doch erst Cewe macht das Fotobuch 2005 zur Marke. Im Sommer 2017 läuft das 50-millionste Exemplar vom Band. Cewe-Hauptquartier, der Meerweg am südlichen Stadtrand von Oldenburg. Hier herrscht Baustellen-Atmosphäre. Gerade ist der moderne Glas- und Stahlpalast fertig geworden, der den alten Zweckbau ergänzen und 170 Mitarbeitern Platz bieten soll. Im Inneren des zweistöckigen Verwaltungshauses ist das Fotobuch schon jetzt der Star: Von einer Wand im Foyer lächelt eine blonde Frau aus der FotobuchWerbung, gegenüber steht ein Wandregal mit besonders gelungenen Exemplaren. Panoramen aus Island, schottische Highlands – Werke von Kunden, die sich bei einem der CeweFotowettbewerbe ganz vorn platziert haben. Die Marke „Mein Cewe-Fotobuch“ kennt jeder, der sich schon mal einen Bildband am Rechner zusammengeklickt hat. Auch dann, wenn er nicht beim Marktführer bestellt, sondern bei einem Konkurrenten. Aber die Oldenburger wollen sich mit Qualität und Service von den Billig-Druckern abheben, sagt Vorstandschef Christian Friege: „Selbst wenn ein Kunde sich verschreibt und den ‚Urlaub mit Ursel‘ zu ‚Ferien mit Frieda‘ erklärt, nehmen wir das Buch zurück und drucken neu.“ Friege arbeitet erst seit 2016 im Unternehmen, im Sommer 2017 ist er zum Vorstandschef aufgerückt. Doch verbunden fühlt er sich dem Unternehmen schon lange. Als Kunde. Gerade erst hat er ein Fotobuch gestaltet – als Geburtstagsgeschenk für seine Frau. Seit dem Ausscheiden von Gründer Heinz Neumüller 1992 wird Cewe von Managern geführt, Friege ist der dritte Firmenchef nach Neumüller. Wenn der 51-Jährige in seinem Büro sitzt und über Cewe spricht, klingt es so, als sei er schon 1961 bei der Gründung durch Neumüller dabei gewesen. Der baut aus dem kleinen

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3.500 Mitarbeiter achten bei Cewe auf Qualität und Pünktlichkeit. Montags ist besonders viel los

Fotostudio seines Schwiegervaters den größten Fotoentwickler Europas auf. Neumüller profitiert vom Boom der Farbfotos Mitte der Sechziger, eröffnet das erste Fotogroß­ labor in Oldenburg. In den Siebzigern breitet sich die Firma in Westeuropa aus. In Deutschland übernimmt oder eröffnet Cewe Labore von Lübeck bis München; das erste Cewe-Fotolabor in der DDR gibt es 1986. Das Unternehmen wird zum Marktführer für Fotofinishing und arbeitet als Dienstleister für Drogeriemärkte, Elektrohändler, andere Fotostudios. Fast überall, wo Kunden ihre Filme zum Entwickeln bringen, steckt Cewe dahinter. Das Geschäft floriert bis zur Jahrtausendwende. Dann fallen die Preise. Ein Fotoabzug, lange Luxusprodukt, wird zum Pfennigartikel. Die Firma braucht fünf Jahre, um eine Antwort zu finden. Sie lautet: „Mein Cewe-Fotobuch“. Möglich macht es die Digitalisierung, die bei Cewe schon 1991 beginnt. Damals steckt die Digitalfotografie noch in den Kinderschuhen. Trotzdem will die Firma die neue Technik nutzen. Es dauert drei Jahre bis zum ersten Digital-Produkt, dem Foto-Index. Bei ihm sind alle Bilder eines Films digital auf ein Foto gedruckt. Das Cewe-Fotobuch ist schließlich die Idee von Frieges Vorgänger Rolf Hollander. Mit dem Claim „Einkleben war gestern“ führt er es 2005 ein. Eine eigens entwickelte Software sorgt dafür, dass Kunden das Buch selbst am Rechner zusammenstellen können. Doch erst zwei Jahre später wirkt sich das Fotobuch-Geschäft erstmals positiv auf die Bilanz aus. Heute ist das Flaggschiff Fotobuch Cewes meistverkaufter Artikel. In der günstigsten Ausführung kostet ein Fotobuch

nur knapp 8 Euro, nach oben gibt es kaum Grenzen. Der Kunde kann wählen: sechs unterschiedliche Papiersorten, zehn Formate, goldene oder silberne Schriftzüge gegen Aufpreis. Sogar Google-Maps-Karten und Urlaubsvideos lassen sich einbinden. Sie werden auf den Cewe-Server hochgeladen und sind später über einen QR-Code im Buch abrufbar. Zusätzlich bedruckt Cewe Kissen, Tassen und Handyhüllen, bietet Fotos als Poster und Wandbilder an. Nur wenige Schritte trennen das Verwaltungsgebäude von der Produktion. Auf 25.000 Quadratmetern rattern hier 32 Druck- und Belichtungsmaschinen. In langen Gängen reihen sich Postfächer, in die ein Mitarbeiter Fototaschen stapelt. An diesem Mittwochnachmittag ist die Halle fast menschenleer. Nur über wenige Fließbänder laufen Fotobücher, die von einer Handvoll Mitarbeitern geprüft und versandfertig gemacht werden. Die Produktion in Oldenburg folgt einer vorhersehbaren Konjunktur: „Montags ist besonders viel los“, sagt Carsten Heitkamp, Vorstand für Betriebe und Logistik. „Die meisten Kunden erstellen ihre Fotobücher am Sonntagabend. Am Montag und Dienstag machen wir Überstunden.“ Zum Wochenende sinkt die Zahl der Aufträge. Nur im November und Dezember ist alles anders: Vor Weihnachten laufen die Druckmaschinen fast im Dauerbetrieb. Die Zahl der Mitarbeiter wächst allein in Oldenburg um gut 300 Saisonkräfte. Dann muss Heitkamp Aufträge zwischen den Produktionsstandorten im In- und Ausland hin- und herschieben, damit alle Pakete rechtzeitig unterm Baum landen. Voraussetzung für Cewes günstige Preise ist der Digitaldruck, der keine Druckplatten mehr braucht und dadurch deutlich billiger ist. Der zweite Trick der Oldenburger ist eine Art Sammeldruck, erklärt Heitkamp: „Wir drucken alle Aufträge mit gleichem Papier, Format und Seitenzahl auf derselben Maschine in einem Durchgang.“ Die Buchcover entstehen zeitgleich auf einer anderen Maschine, Barcodes sorgen dafür, dass in der Bindemaschine Außen- und Innenleben zusammenfinden. „Wir ermöglichen es Menschen, digitale Erfahrungen wieder haptisch zumachen. Wir verlängern das Digitale, das Digitale ersetzt uns nicht“, sagt Christian Friege. Trotzdem ist er überzeugt, dass die Lebenszyklen von Produkten endlich sind. Irgendwann wird auch das Fotobuch verschwinden, glaubt er. Bis dahin hegt und pflegt er das Produkt, bringt neue Features und Formate auf den Markt. Zeit für neue Ideen nimmt sich die Firma meist im Februar, wenn der Weihnachtsansturm vorbei ist. Bei der hauseigenen Innovationsmesse setzt Cewe auf die Vorschläge der rund 3.500 Mitarbeiter. Sie alle sollen Ideen für neue Produkte einbringen. Am Ende des Tages stimmen alle Mitarbeiter ab – die besten Innovationen haben gute Chancen, zum neuen Standard zu werden. Auch die App „Cewe Fotobuch Pure“ kommt aus dem Kreis der Mitarbeiter. Cewe hat zwar bereits Apps, mit denen sich Fotobücher gestalten oder einzelne Abzüge bestellen lassen. Mit dem neuen Programm brauchen Nutzer aber nur wenige Wische, um aus ihren Handy-Fotos ein Fotobuch zu machen. Das Format ist quadratisch, das Cover hart, das Papier matt. Vier Werktage nach Bestellung kommt das fertige Fotobuch mit der Post – fast wie eine digitale Fotopräsentation, wie Facebook und Apple sie seit einiger Zeit anbieten. Nur eben zum Anfassen.

Cewe wird 1961 von Heinz Neumüller gegründet. 2017 beschäftigt das Unternehmen 3.500 Mitarbeiter, dazu kommen je nach Bedarf 650 Saisonkräfte. An 12 Standorten in Deutschland und dem EU-Ausland kümmern diese sich um Fotofinishing und Digitaldruck. Jährlich werden 6,2 Millionen Fotobücher produziert – das entspricht einem Marktanteil von 24 Prozent in Europa. 2016 schreibt Cewe so 593 Millionen Euro Umsatz

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News Aktuell

Die Botschafter News Aktuell ist seit seiner Gründung der führende Verbreiter von Pressemitteilungen. Die PR-Branche ändert sich schnell, News Aktuell schneller: Nur so können die Hamburger im Digitalen bestehen Von Jens Twiehaus

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in Faxgerät? Frank Stadthoewer lacht. Nein, ein Fax gibt es bei News Aktuell seit zehn Jahren nicht mehr. Dass es fehlt, ist keine Sensation. Andererseits: Das Telefax bildete einst die Basis für das Unternehmen, dessen Chef Stadthoewer ist. News-Aktuell-Gründer Carl-Eduard Meyer kommt 1989 in Hamburg auf die Idee, Pressesprechern einen beschwerlichen und teuren Teil ihrer Arbeit abzunehmen: das Verschicken von Mitteilungen an Journalisten. Der effektivste Weg ist damals das Fax – und das Aussenden via Satellit. Also kauft Meyer ein paar Maschinen und tippt fleißig Nummern ein. Die werden nur beliefert, wenn sie nicht besetzt sind. Nachrichten brauchen Stunden, oft Tage. Bis heute sind Pressemitteilungen Kern des Geschäfts von News Aktuell. Doch die Digitalisierung hat alles verändert. Zum Positiven. Die PR-Kommunikation floriert im digitalen Raum, nur eben auf diversen Wegen: auf dem hauseigenen presseportal.de, in der App oder im Direktkontakt mit Medienmachern.

In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ erklärt Frank Stadthoewer, wie sich PR-Kommunikation weiterentwickelt turi2.de/edition/news-aktuell

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News Aktuell streckt früh die Fühler aus und ändert sich mit dem Markt. So hat es „Edu“ Meyer in die Firmenkultur eingepflanzt. Der gelernte Banker, Jahrgang 1948, testet leidenschaftlich digitale Alltagshelfer. Er ist ein zurückhaltender Charakterkopf, aber auch ein erbarmungsloser Vorausmarschierer. Weil sich News Aktuell schnell aufs Digitale einlässt und sogar das Fax-Geschäft emotionslos über Bord wirft, kann sich Stadthoewer in seinem Chefsessel entspannt zurücklehnen. Sein Blick geht hinaus auf den Hamburger Mittelweg: Immobilienmakler, Privatbank, Beauty-Klinik. Auf der anderen Straßenseite, in einer weißen Villa, liegt der Hauptsitz der Deutschen Presse-Agentur dpa, die seit 1994 Inhaber von News Aktuell ist. In diesem mondänen Umfeld strahlt Stadthoewer eine Botschaft aus: Es läuft. „Der Wert, eine relevante Pressemitteilung zu bekommen, wird unter Journalisten immer noch hoch geschätzt.“ Um das zu belegen, hat er Zahlen parat: Eine halbe Million aktive Nutzer wischen sich durch die Presseportal-App. Dazu kommt die Website presseportal.de, die nach außen die sichtbarste Marke von News Aktuell ist. Über sie verbreiten Unternehmen die sogenannten ots-Meldungen. ots steht für Originaltext-Service – ein hübscher Begriff für Pressemitteilungs-Versand. Die Faxgeräte der digitalen Zeit sind Website, E-Mail, App und Social Media. Reichweite bringt heute kein starker Satellit mehr, der viele Apparate beliefert, sondern Google. Bei News Aktuell hadern sie nicht mit der Google-Macht, sondern optimieren laufend auf Konformität. Auch die Bedeutung von Daten hat News Aktuell frühzeitig erkannt. 2013 kauft das Unternehmen die Datenbank Zimpel – die wichtigste Übernahme der Firmengeschichte. 100.000 Medien- und 270.000 Journalisten-Mailadressen sind ein mächtiges PR-Werkzeug. 15 Mitarbeiter kümmern sich laufend darum, alle Daten aktuell zu halten. Trotzdem gerät auch Stadthoewer manchmal aus der Puste, denn Kommunikation ändert sich immer schneller. Seine Kunden verbreiten immer mehr Bilder mit ihren Pressemitteilungen, künftig kommen vermutlich Videos dazu. Um diese Entwicklung im Blick zu behalten, rät er seinen 130 Mitarbeitern: rausgehen. Auf Konferenzen, zu Kunden – und auf die andere Seite des Mittelwegs, zu dpa. Dort waren die PR-Botschafter anfangs nicht besonders angesehen. Doch der Wind dreht sich. In Vertrieb, Technik und Marketing sind die Verbindungen zwischen der dpa und ihrer Tochter stark wie nie. Je größer die digitale Herausforderung, desto enger wachsen früher getrennte Welten zusammen. turi2 edition #5 · Digital Me


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WeltN24

„Welt“ und wendig „WeltN24“ umarmt den digitalen Wandel seit Jahren wie kein anderes Unternehmen. Das erfordert neue Arbeitsweisen – und eine Chefin, die mit fernen Visionen nichts anfangen kann Von Jens Twiehaus

In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ spricht Stephanie Caspar über digitale Markenbildung turi2.de/edition/weltn24-digital

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or dem Fenster drehen sich Baukräne, doch Stephanie Caspar hat anderes im Kopf. Aus ihrem Büro blickt die Chefin von „WeltN24“ auf die Baustelle des Axel-Springer-Neubaus in Berlin. Hier entsteht die Zukunft eines Verlags, der sich Digitalkonzern nennt. Doch die Zukunft, die Caspar im Kopf hat, spielt sich nicht an fernen Terminen ab. Sondern jetzt. „WeltN24“ ist ein multimedialer Nachrichtentanker, der Newsroom seine Kommandobrücke. Wenn der Chefredakteur in diesem Bild Kapitän wäre, ist Geschäftsführerin Caspar die Reederin. Delegationen aus diversen Ländern besichtigen auf ihrem Schiff den Medienwandel live. Aus dieser Redaktion kommen: eine Website plus App und SocialMedia-Kanäle, eine Tageszeitung plus Kompaktausgabe, eine Sonntagszeitung sowie eigene Apps für die Zeitungsinhalte. Und, nicht zu vergessen: ein Fernsehsender. Okay, der Sender produziert derzeit noch außerhalb, am Potsdamer Platz. Aber nur, weil der Neubau nebenan noch Baustelle ist. „Welt“-Chefin ist zwar ein lustiger Begriff für Caspar, aber er stimmt. Sie leitet eine Medienwelt. Kein anderes deutsches

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Medium kann Journalismus auf so unterschiedliche Kanäle verteilen. Kaum eines denkt seit so vielen Jahren digital. Keines hat den Wandel so umarmt. Wie machen die das? Caspar lächelt. Es ist schwer in Worte zu fassen. Fast allen digitalen Vordenkern geht es so. Sie scheren sich wenig um Konzepte, sie handeln einfach. Also wählt Caspar die pragmatische Antwort: Ihr Team nimmt sich Ziele vor, die schnell zu schaffen sind, und macht dann weiter. „Ständig zu philosophieren lenkt zu viele Leute ab.“ Die Arbeit als lebenslange Testphase. Schon bevor Caspar 2013 an die Spitze des Unternehmens kommt, tickt die „Welt“ digital. Der damalige Chefredakteur Jan-Eric Peters geht voran. Er nutzt Strategien wie Online-toPrint: Die Zeitung wird aus dem digitalen Angebot destilliert. Dann, mit Ende 30, kommt Caspar als promovierte Ex-McKinsey-Beraterin und Mitgründerin des Online-Schuhversandes Mirapodo neu in die Ex-Papierbranche. Kurz darauf verkündet sie den Zukauf des Fernsehsenders N24. Altgediente Journalisten können bei diesem Tempo graue Haare bekommen. Bei Oliver Michalsky ist das kein Thema – nicht nur, weil er keine Haare mehr hat. Der stellvertre-

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Stephanie Caspar ist Geschäftsführerin von „WeltN24“. Vor ihrem Wechsel zu Springer arbeitete sie unter anderem für McKinsey, Ebay und Immobilien Scout und gründete den Online-Schuhversand Mirapodo Oliver Michalsky ist stellvertretender Chefredakteur von „WeltN24“. Der 53-Jährige studierte Journalistik in Leipzig und arbeitete zu Beginn seiner Karriere bei der „Berliner Morgenpost“

tende Chefredakteur ist abgebrüht, er muss den Laden zusammenhalten. „Sprechen Sie unbedingt mit omi“, rät eine Mitarbeiterin auf die Frage, wer das Phänomen „Welt“ erklären kann. Aber „omi“ sagt gleich zu Beginn, dass auch er an einigen Punkten kapitulieren muss. Er hat neulich versucht, aufzuschreiben, in wie vielen Schichten seine Mitarbeiter arbeiten. Bei 40 hat er aufgehört zu zählen. Die Redaktion funktioniert wie ein Startup. Auch Kollegen ohne Chef-Titel haben viel Verantwortung. Wer in der Mitte des Newsrooms sitzt, steuert etwas: die Website, die Facebook-Seite, die journalistische Linie. Wer an den langen Tischreihen in der Nähe arbeitet, ist Ansprechpartner für seinen Bereich. „Heute fällen Redakteure Entscheidungen, die früher dem Chefredakteur oder zumindest einem Ressortleiter vorbehalten waren“, sagt Michalsky. Beim Tempomachen sind Hierarchien ein Hindernis. „Führung aus dem Elfenbeinturm ist nicht mein Konzept“, sagt auch Caspar. Wenn „WeltN24“ heute Produkte entwickelt, die Redaktionssoftware etwa oder eine App, bilden Redakteure und Kaufleute deshalb Pärchen. Auch Caspar wird als Zuhörerin beschrieben, die nicht glaubt, durch ihren Chef-Posten weise geworden zu sein. „WeltN24“ hat den digitalen Wandel weiter vorangetrieben als die meisten Konkurrenten. Hier haben sie schon 2006 begonnen, Abläufe auf den Kopf zu stellen und nicht aufgehört, sich infrage zu stellen. Das schließt auch unpopuläre Entscheidungen ein. Der gigantische Newsroom kommt anfangs nicht gut weg. Muss eine Redaktion wie eine Fabrik aussehen? Diese Stimmen haben sich gelegt. Die Redaktion ist zwar unpersönlich bis zum Gehtnichtmehr, aber: Das Konzept geht auf. Auch die Übernahme von N24 verläuft nicht ohne Enttäuschungen. Fast das ganze Webvideo-Ressort bleibt auf der Strecke. Unter Kurzzeit-Chefredakteur Stefan Aust fallen Entscheidungen, die nicht zu einem digitalen Kurs passen. Aust zieht sich schnell auf die Autorenrolle zurück, der manchmal vorlaute Ulf Poschardt übernimmt. Doch Caspar will nicht lang über Vergangenes reden. Ihr Geschäft ist die Zukunft. Um Kraft und Größe der „Welt“ zu sichern, setzt sie auf zahlende Kunden. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Die Konkurrenz baut überwiegend auf Werbeeinnahmen – und die sprudeln nur bei vielen Nutzern. Caspar sagt: „Reichweite nehmen wir gerne mit, sie ist aber nicht allein entscheidend.“ In der Praxis bedeutet das: Für viele Artikel müssen Nutzer heute zahlen, nur das Grundrauschen ist gratis. Dass es dem Unternehmen damit nicht glänzend, aber ordentlich geht, lässt sich nur erahnen. Springer hütet seine Zahlen wie Coca-Cola sein Rezept.

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WhiteWall

Bilder für die Ewigkeit Die normalen Fotos kommen auf Facebook, die besonderen gerahmt an die Wand – bei WhiteWall kann sich jeder Otto Normalknipser als Fotokünstler fühlen Von Heike Reuther

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erade einmal 60 Quadratmeter misst der WhiteWall Store in der Gerhofstraße 2 in Hamburg. Der Raum ist knapp bemessen, nach hinten schlauchartig. Das muss reichen, um das Angebot des exklusiven Fotolabors ins reale Leben und damit an Frau oder Mann zu bringen. Schließlich finden Bildbearbeitung und Bildbestellung nach wie vor online statt. Im Eingangsbereich sitzen zwei WhiteWall-Mitarbeiterinnen an einem Hochtisch auf Barhockern und lugen hinter großformatigen Mac-Bildschirmen hervor. Ansonsten: wenig Einrichtung. Die braucht es auch nicht, denn die Hauptsache hängt an der Wand: Bilder. Dort sind Fotografien in unterschiedlichen Formaten zu sehen, auf ebenso unterschiedlichen Trägerplatten und in unterschiedlicher Rahmung. Der WhiteWall Store soll visualisieren, was sonst auf der WhiteWall-Website stattfindet. Hier wird der Besucher analog Schritt für Schritt durch den Bestellvorgang geführt. Es ist fast anachronistisch, dass WhiteWall einen Laden nach dem anderen eröffnet. Und das in einer Zeit, in der sich alles ins Digitale verlagert und herkömmliche Fotogeschäfte schließen. Nach Berlin, Hauptsitz des Unternehmens, folgt München, Düsseldorf, Köln, bald Frankfurt und sogar New York. „Die Verknüpfung aus Online- und Offline-Geschäft differenziert uns von anderen Online-Fotodienstleistern“, sagt CEO Daniel Raab. Das gilt vor allem für die USA. WhiteWall produziert alle Bilder in Deutschland und verschickt sie auch von dort. Deshalb ist es besonders wichtig für amerikanische Kunden, von der „Quality made in Germany“ überzeugt zu sein. Davon, dass es sich lohnt, bei einem deutschen Unternehmen zu bestellen. WhiteWall bietet alles, was das Digital Me will: individuelle Bildbearbeitung in zentimetergenauem Wunschformat – online, ohne Software-Download. Ultra-HD-Abzüge in doppelter Auflösung auf Premium-Papier, damit jedes Bild wie ein echtes Kunstwerk wirkt. Über 80 handgefertigte Rahmenmodelle. turi2 edition #5 · Digital Me


Daniel Raab verantwortet seit August 2017 als CEO der Avenso GmbH die Leitung der Marken Lumas und WhiteWall. Raab, 35, war zuletzt Geschäftsführer der ProSiebenSat.1 Commerce GmbH und der SevenVentures GmbH

Kunst zum Anfassen: Die Läden von WhiteWall wirken wie Wohnzimmer

Aber: Hat sich das Foto an der Wand in Zeiten von Instagram und Pinterest nicht längst überlebt? Jeden Tag werden mit Smartphone-Kameras unzählige Fotos geschossen, von denen nur ein Bruchteil ausgedruckt an der Wand landet. Die Hochzeit der besten Freundin, der Geburtstag der Oma und der letzte Urlaub – Erinnerungen an schöne Momente verschwinden oft im digitalen Nirwana. Das war früher anders. In der Ära der Analog-Kameras nahmen sich Fotografen Zeit, um Bilder in Dunkelkammern zu entwickeln. Sie legten liebevoll Alben an, an denen sich noch folgende Genera­ tionen freuen konnten. Deshalb startet WhiteWall 2016 eine Umfrage und will wissen: Welche Wirkung haben Bilder auf Menschen – egal ob auf Social Media oder als Wandbild? Das Fazit ist eindeutig. In sozialen Netzwerken verbreitete Fotos sind kurzlebig und wirken manchmal sogar negativ – weil sie Neid und Geltungsbedürfnis bei den Betrachtern auslösen können. Fotos im Eigenheim oder Album beeinflussen die Stimmung positiv. Und halten Erinnerungen wach. Zwei Herzen schlagen in der Brust des digitalen Egos. In den sozialen Medien wird Masse statt Klasse gelebt. Beim Wandbild gelten andere Parameter. Qualität kommt vor Quantität. Genau darin liegt das Erfolgsrezept von WhiteWall, sagt Raab: „Wir machen Bilder, die bleiben, die Erinnerungen wecken, an denen man sich jeden Tag erfreut. Mit diesen Momenten sind wir emotional verbunden. Also müssen die Produkte, die diese Augenblicke widerspiegeln, hochwertig gefertigt sein.“ Der Qualitätsanspruch bei WhiteWall kommt nicht von ungefähr. Bereits 2003 treten Stefanie Harig und Marc Ullrich turi2 edition #5 · Digital Me

an, um den Kunstmarkt mit erschwinglichen Editionen zu revolutionieren. Das Galeriekonzept Lumas setzte Maßstäbe in der Fotografie, die Alexander Nieswandt, der dritte im Initiatoren-Bund, erst ermöglicht. Heute ist WhiteWall als Foto-Fachlabor etabliert. Das Unternehmen schafft Plattformen, die es lange nicht gab. Die WhiteWall Ambassadors zählen zu den einflussreichsten Profi-Fotografen weltweit. Gemeinsam mit WhiteWall verfolgen sie ein Ziel: Sie wollen neue Wege in der Fotografie aufzeigen und andere inspirieren. Ob bei Workshops, in den sozialen Netzwerken oder auf Messen – hier können sich Liebhaber und Profi-Fotografen austauschen. Das hohe Engagement zeigt sich in der Bilanz: Über 237.000 Kunden vertrauen mittlerweile auf das Fachlabor – darunter 21.500 Profi-Fotografen und 380 internationale Galerien. WhiteWall beliefert mit 180 Mitarbeitern 43 Länder der Welt – weitere Expansion im Blick. Für 2017 rechnet die Geschäftsführung für Lumas und WhiteWall mit einem Umsatz im mittleren zweistelligen Millionenbereich. Zwei der Gründungsmitglieder sind unterdessen auf Weltreise.

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Thomann

Töne aus Treppendorf Das Musikhaus Thomann aus Oberfranken hat den Online-Großhandel erobert – und gräbt in seiner Nische sogar Amazon das Wasser ab Von Björn Czieslik

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er Musiker, Produzent oder Tontechniker ist, hat mit großer Wahrscheinlichkeit schon einmal ein Paket aus Treppendorf bekommen. Treppendorf liegt etwa 20 Kilometer südwestlich von Bamberg, hat 191 gemeldete Einwohner, fünf FerienApartments und eine Pizzeria namens „Alberto“. Und dann ist da noch das Musikhaus Thomann. Seinetwegen trifft in Treppendorf Provinz-Idylle auf Gigantismus. Nach eigenen Angaben ist Thomann der weltweit größte Versandhandel für Musikinstrumente, Audio-, Studio- und Bühnentechnik. Das Musikhaus beschäftigt in Treppendorf rund 1.200 Mitarbeiter und hat fast 89.000 Produkte im Sortiment. Rund 76.000 davon sind auf Lager und sofort lieferbar. Das ist erstaunlich in einer Branche, die von kleinen, oft familiengeführten Musikgeschäften geprägt ist. Viele von ihnen führen ihre Läden mit Idealismus und Leidenschaft, bleiben aber letztlich Einzelkämpfer. Genau so hat auch bei Thomann alles angefangen. 1954 beschließt Hans Thomann Senior, seinen Job als Wandermusiker an den Nagel zu hängen und sesshaft zu werden. Im Hof der Familie in Treppendorf eröffnet er ein Musikgeschäft und kümmert sich nebenbei um Viehzucht und Landwirtschaft. Die Anfänge sind mühsam. Aber schon bald reist Thomann immer häufiger durchs Land, um Geschäfte mit Blaskapellen und anderen Musikern zu machen. Im Lauf der Jahre werden die Wohnräume des Hofs zu Ausstellungsflächen für Gitarren, Orgeln und erste Synthesizer. In die Scheune zieht die Lichtabteilung ein, ins ehemalige Kinderzimmer die Buchhaltung. 1990 gibt Hans Thomann Senior die Geschäftsführung in die Hände seines Sohnes. Der heißt ebenfalls Hans und hilft seit seinem zwölften Lebensjahr im Musikhaus mit. Eigentlich ist Thomann Junior zwar gelernter Feingerätemechaniker, aber als leidenschaftlicher Musiker treibt er das Wachstum des Familienbetriebs weiter voran: Im November 1992 verschickt das Musikhaus Thomann zum ersten Mal seine „Hot Deals“ an rund 10.000 Kunden. Das Werbeprospekt listet knapp 100 Angebote auf – anfangs noch ohne Bilder, nur mit Text.

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Gitarre gesucht? Das Musikhaus Thomann fĂźhrt vom klassischen AkustikModell bis hin zum E-Bass fast alles



Mehr als 76.000 Artikel für Musiker, Produzenten und Radio-Macher liegen in Thomanns Lagerhallen bereit

Vier Jahre später ist Thomann der erste deutsche Musikhändler mit einer eigenen Homepage im World Wide Web. Die ist damals nicht viel mehr als eine Web-Visitenkarte mit einer E-Mail-Adresse. Kunden-Anfragen werden ausgedruckt und in die zuständigen Fachabteilungen gebracht. Es melden sich aber auch kritische Stimmen, die es zu kommerziell finden, auf der Website Produkt-Angebote zu veröffentlichen. Zu dieser Zeit kommt Sven Schoderböck zu Thomann. Hans Thomann Junior und er kennen sich, auch Schoderböck ist in der Musikbranche groß geworden, spielt selbst Klavier und Bass. Jetzt soll er Thomann als Digital-Chef helfen, im noch jungen Internet mitzuspielen. Als sich das ZDFWirtschaftsmagazin „Wiso“ meldet, um einen Beitrag über Firmen zu drehen, die schon damals im Netz präsent sind, programmiert Schoderböck in vier Tagen und drei Nächten eine neue Website mit Online-Shop und Warenkorb. Die Bilder dafür scannt er teilweise aus Hersteller-Katalogen ein. Doch innerhalb der eigenen Firma muss Schoderböck viel Überzeugungsarbeit leisten. Dass er bei einer Gitarre in drei Farben wirklich von jedem Farbmodell ein Bild braucht, wollen nicht alle einsehen. Als er Fotos einer Schraube für Transport-Racks sucht, hört er aus der Fachabteilung: „Jeder Musiker weiß, wie eine Rack-Schraube aussieht!“ Heute betreibt Thomann drei Fotostudios, in denen sieben Fotografen eigene Bilder aller Produkte anfertigen. In einem Audiostudio in Treppendorf nimmt das Unternehmen Klangbeispiele auf, damit die Kunden zu Hause am Rechner hören können, wie das eine Mikrofon im Vergleich zum anderen klingt. Auch das Wachstum überlässt Hans Thomann Junior nicht dem Zufall. 1997 übernimmt er Roadstar aus Pforzheim, den damals größten Versandhandel für Musikinstrumente in Deutschland. So verdoppelt er auf einen Schlag seinen Kundenstamm. In Treppendorf platzt die Firma aus allen Nähten und macht ihren Nachbarn ein Angebot, „das sie nicht ablehnen konnten“. Endlich ist Platz für einen Neubau. Kaum ein Jahr vergeht ohne Baustelle, es entstehen neue Büros, Logistik- und Lagerflächen. Thomann hat zwei Millionen Kunden, als Sven Schoderböck und sein Team den Online-Shop 2008 komplett neu aufsetzen: Mehr als 120.000 Zeilen Programmcode, Teile davon sind heute noch online. Amazon ist von Anfang an Vorbild. Die Kunden haben mittlerweile hohe Erwartungen an die Funktionalität eines Online-Shops, der Preiskampf im Internet tobt. „Wir sind die Referenz für den Preis, das ist schon so“, räumt Schoderböck ein, „aber wir reagieren nur, wir agieren nicht.“ Wenn ein anderer Händler den Preis für ein Produkt senkt, zieht Thomann nach. In der Branche bleibt aber der Eindruck hängen, Thomann habe den neuen Preis gesetzt. „Unsere Branche ist traditionell eine Schlachter-Branche. Vielen Händlern fällt nichts anderes ein, als am Preis zu drehen“, bedauert Schoderböck – denn deshalb bleibt manch kleiner Anbieter auf der Strecke. Einen Teil des Sortiments gibt es auch bei Amazon, womöglich auch günstiger. Der Unterschied: Im Gegensatz zu Amazon können Kunden bei Thomann anrufen. Im hauseigenen Call-Center beantworten Experten Fragen aller Art. Wenn sie doch keine Antwort wissen, stellen sie durch: zu den Spezialisten für Blechblasinstrumente oder Digitalmischpulte. Muttersprachler helfen Kunden aus dem Ausland weiter, egal ob West- oder Osteuropa. Eigene Werkstätten sorgen bei Problemen für schnelle Reparaturen. Amazon

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Die Gemeinde Treppendorf im Landkreis Bamberg hat nur 191 gemeldete Bewohner. Zum Arbeiten bei Thomann pilgern dafür täglich mehr als 1.200 „Rockstars“ ins Dorf

hat in Sachen Versandlogistik und schneller Lieferung zwar Maßstäbe gesetzt, aber Thomann muss sich nicht verstecken. Dank ausgeklügelter Logistik geht ein Artikel im Idealfall eine halbe Stunde nach Bestellung in den Versand. Die Herausforderung ist eher, Interesse für die Produkte zu schaffen. „Es gibt in unserer Branche keine relevanten Offline-Medien mehr“, sagt Digital-Chef Schoderböck. Die „Hot Deals“ schickt Thomann seinen Kunden trotzdem immer noch per Post. Das Prospekt hat inzwischen eine Auflage von 8,3 Millionen und listet 400 Produkte auf. Ansonsten findet Thomanns Werbung online statt. Nicht alles funktioniert: „Google generiert keine Geschäfte mehr, sondern leitet nur noch Leute mit Bedarf durch“, klagt Schoderböck. Um diesen Bedarf zu schaffen, stattet Thomann ein großes Netzwerk an YouTubern mit Equipment aus, ist in allen sozialen Netzwerken aktiv und betreibt über Tochterfirmen 15 der 20 wichtigsten Musiker-Webseiten für Neuheiten und Produkttests. Das Kalkül: Wer nach bestimmten Produkten sucht, landet früher oder später bei Thomann. 92 Prozent seines Umsatzes erwirtschaftet das Musikhaus mittlerweile online. Doch das Herzstück der Firma bleibt das Ladengeschäft in Treppendorf. „Wir haben immer noch die Seele eines Musikgeschäfts“, sagt Schoderböck. „Das ist einfach Teil unserer Identität.“

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Was hab´ ich?

Die Dolmetscher Die Gründer von „Was hab‘ ich?“ nehmen den Begriff Social Web wörtlich: Auf ihrer Plattform übersetzen Ehrenamtliche medizinische Diagnosen in verständliches Deutsch Von Anne Fischer

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erade mal vier Tage brauchen Anja und Johannes Bittner sowie Ansgar Jonietz im Januar 2011, um die erste Version von „Was hab‘ ich?“ zu entwickeln. Vier Tage, die dafür sorgen, dass die Götter in Weiß und ihre Schutzbefohlenen künftig auf Augenhöhe kommunizieren. Die Idee ist einfach – nur darauf gekommen ist bisher niemand: Auf ein passwort­ geschütztes digitales Portal laden Patienten ihre anonymisierten Diagnosen hoch. Als angehende Ärzte übersetzen die Bittners die Befunde in verständliches Deutsch. Sobald ihre Übersetzung fertig ist, werden die Patienten per E-Mail benachrichtigt und können sie abrufen. Dass sie die Welt der Kliniken und Kranken damit auf den Kopf stellen werden, ahnen die drei anfangs noch nicht. „Als Medizinstudent wird man oft von Freunden und Verwandten gebeten, medizinische Befunde zu erklären. Wir haben uns gefragt: Was machen eigentlich die Patienten, die keinen Mediziner kennen? Wir wussten nicht, ob es überhaupt Bedarf für unsere Idee gibt“, sagt Ansgar Jonietz. Jonietz selbst ist Informatiker und baut unter dem Dach seiner ersten IT-Firma „Netzmanufaktur“ auch die Plattform für „Was hab‘ ich?“. Zwölf Minuten nach deren Start trudelt der erste Befund ein. Einen Monat später sind es bereits 500. Es gibt also Bedarf, sehr großen. Anja und Johannes Bittner dolmetschen anfangs noch vom heimischen Wohnzimmer aus. Zwischen Ärzten ist die medizinische Fachsprache wegen ihrer Kürze und Präzision zwar unverzichtbar, erklärt Jonietz. Wenn ein Patient etwas von „physiologischer Lordose der HWS“ liest, versteht er aber oft kein Wort. „Unsere ehrenamtlichen Übersetzer würden das so erklären: `Wenn man von der Seite auf die Wirbelsäule schaut, dann ist die Wirbelsäule nicht gerade. Sie ist zum Beispiel am Hals nach vorn gebogen. Das nennt man Lordose. Wenn die Halswirbelsäule normal nach vorn gebogen ist, dann heißt das physiologische Lordose.´“ Hakt die Kommunikation zwischen Arzt und Patient, ist das nicht nur für den Kranken problematisch, sondern auch für den Staat: Das Gesundheitsministerium schätzt, dass Fehler im Gespräch zwischen Arzt und Patient das Gesundheitssystem jährlich zwischen neun und 15 Milliarden Euro kosten. Zum Beispiel, weil Patienten sich in der Folge nicht an Therapieempfehlungen halten oder Medikamente falsch einnehmen. Dazu kommt, dass Doktor Google im InternetZeitalter allzeit bereit ist – und mit ihm oft haarsträubende Erfahrungsberichte vom Onkel der digitalen Nachbarin. „Was hab‘ ich?“ möchte das verhindern. Doch schon bald reicht die Zeit der Bittners allein nicht mehr aus. Sie und Jo-

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nietz holen Medizin-Studenten ab dem achten Fachsemester ins Boot, auf ehrenamtlicher Basis. Damit die von allen Ecken Deutschlands aus mithelfen können, baut Jonietz die Plattform zu einem internen Medizinernetzwerk aus, das neben Übersetzungs-Werkzeugen auch Diskussionsforen bereithält. Der wichtigste Grundsatz ist Neutralität: Die Befunde werden niemals interpretiert, sondern ausschließlich vollständig und in ausformulierten Sätzen übersetzt. Bis heute haben über 1.600 Medizinstudenten mehr als 33.000 Befunde übersetzt. Aktuell schaffen die Ehrenamtlichen etwa 100 pro Woche. Die große Nachfrage wird durch eine Warteliste reguliert, die täglich um 7 Uhr öffnet. Die Übersetzer sehen ihre Arbeit als Win-Win-Situation: Der Patient weiß, was der Radiologe genau meint. Der Medizinstudent übt für seine berufliche Zukunft – nämlich verständlich zu erklären. Das Projekt ist so gefragt, dass die Gründer 2014 beginnen, universitäre Kommunikationskurse anzubieten. Dafür kombinieren sie E-Learning-Einheiten mit 1:1-Telefonbetreuung – ähnlich, als würden sie einen neuen Dolmetscher anlernen. „Was hab‘ ich?“ wird schnell bekannt, Eckart von Hirschhausen und der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe sind Botschafter des Dienstes, das Projekt bekommt ein breites Medienecho. Springer Medizin stellt dem Team über 4.000 Abbildungen seiner Visual-Science-Kollektion kostenlos zur Verfügung. Seitdem enthalten die meisten Übersetzungen auch erklärende Grafiken. „Was hab‘ ich?“ ist eine gemeinnützige GmbH und arbeitet nicht gewinnorientiert, sondern kostendeckend. Das Geld kommt hauptsächlich aus Spenden, aber auch aus Sponsoring-Projekten und Preisgeldern. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung zum Beispiel hilft jährlich mit 50.000 Euro. Hinter den Kulissen hat das Team weitere Ideen, wie sie das Verständnis zwischen Medizinern und Kranken verbessern können: Ihr Ziel ist es, irgendwann alle MedizinStudenten in Deutschland zu schulen. In einem Pilotprojekt erklären sie seit Herbst 2015 Krankenhaus-Patienten nach deren Aufenthalt ihren Entlassungsbrief in leicht verständlicher Sprache. Unterstützt von der Bertelsmann-Stiftung sammeln sie wichtige Fachbegriffe in einem digitalen Medizinersprech-Wörterbuch, damit Patienten bestenfalls selbst die Antwort auf „Was hab‘ ich?“ finden. Ohne das Internet wäre ihre Art der Hilfe undenkbar. Der schönste Ansporn sind für Jonietz die E-Mails der Nutzer: „Einmal schrieb ein Patient, dass sein Befund auf ihn wie eine kryptische Nachricht der Geheimdienste wirkte. Nach unserer Entschlüsselung war er unglaublich dankbar.“

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Gero Hesse, 47 ist Experte in Sachen Karriere und Personalmarketing. Als Geschäftsführer von Territory Embrace berät Hesse Konzerne wie Allianz, Osram oder Telekom in der Frage, wo künftig deren Führungskräfte herkommen. Der vierfache Vater bloggt unter saatkorn.com, schreibt Bücher und hält Vorträge darüber, wie Talente und Arbeitgeber zusammenfinden. Territory Embrace betreibt als Tochter von Bertelsmann/Gruner + Jahr auch die Karriereportale ausbildung.de, meinpraktikum.de, trainee.de und meineuni.de


»Der Mitarbeiter ist König – noch vor dem Kunden« Junge Leute auf dem Arbeitsmarkt werden immer weniger – und immer anspruchsvoller. Kommt jetzt die Generation Ego? Ein Gespräch mit dem Karriere-Experten und vierfachen Vater Gero Hesse Von Peter Turi

Was unterscheidet einen typischen 18-Jährigen von einem 47-Jährigen, wie Sie es sind? Zunächst mal das Alter. Bei mir tut ab und zu das rechte Knie weh. Am Ende ist der große Unterschied die Sozialisation in der Zeit, in der man groß wird. Alles andere ist eher die Frage, wie alt man in jungen Jahren schon ist oder wie jung man im Kopf bleibt, wenn man älter wird. Würden Sie nochmal 18 sein wollen? Nein, ich fühle mich mit meinen 47 Jahren wohl. Aber einzelne Tage nochmal erleben, die ich mir selbst aussuche: gern. Junge Menschen wachsen heute viel digitaler auf als Sie oder ich. Sie haben selbst vier Kinder – sind die zu beneiden oder zu bedauern? Leben ist ein Risiko – immer schon gewesen, auch vor dem Internet. Von daher finde ich, dass Neid oder Bedauern nicht angebracht sind. Jede Zeit hat ihre Chancen und Risiken. Es gilt natürlich, Kinder darauf aufmerksam zu machen. Welche Chance werden Ihre Kinder mal haben, die Sie nicht hatten? Die Chance, sich umfassend und schnell über Themen zu informieren und ihr Leben unkomplizierter zu gestalten. Beispiel: Meine 16-jährige Tochter nimmt ab Januar an einem dreimonatigem Schülerprogramm in Neuseeland teil. Sie hat die turi2 edition #5 · Digital Me

Informationen dazu selbst zusammengetragen, alles koordiniert und sich aktiv gekümmert. Das wäre für mein 16-jähriges Ich vor 30 Jahren schwierig und vor allem sehr zeitaufwändig gewesen. Welche Gefahren sehen Sie für Ihre Kinder? Die Gefahr, in der digitalen Welt zu versinken. Ich kenne mehrere Familien, die ihre Kinder, meist Söhne, an die digitale Welt mehr oder weniger verloren haben. Diese bemitleidenswerten Kinder befinden sich in digitalen Welten und bekommen von der realen Welt nahezu nichts mehr mit. Für sie ist das quasi die Matrix. Wie sieht Medien-Erziehung im Hause Hesse aus? Meine Frau und ich nutzen aktiv alle möglichen Medien und verschließen uns nicht. Das finde ich wichtig. Ich erlebe bei vielen Eltern meiner Generation, dass gar kein Interesse daran besteht, über WhatsApp hinaus tiefer einzutauchen. Das ist ein Fehler. Man sollte verstehen, welche Kommunikationskanäle die Kinder nutzen. Bei uns spielen aber auch die Tageszeitung oder der „stern“ eine Rolle. Ihre Kinder lesen Zeitung? Nein, tun sie nicht. Aber mir geht es um die Vermittlung,

»Es gibt ein Leben außerhalb von Instagram und Snapchat«

dass Medienkonsum eben nicht nur Instagram ist, sondern eine Mischung verschiedener Kanäle. Unsere große Tochter liest unregelmäßig den „stern“ und die Zeitung. Und regelmäßig Magazine wie die „Neon“. Ich habe nicht den Eindruck, dass bei jüngeren Menschen Print völlig out ist. Worauf legen Sie wert? Das Wichtigste ist, den Kindern klar zu machen, dass übermäßiger Online-Medienkonsum nicht sinnvoll ist. Dass es auch ein Leben außerhalb von Instagram und Snapchat gibt. So neu ist das aber nicht. Früher ging es um übermäßigen Fernsehkonsum. Aber irgendwann war in den Siebzigern Sendeschluss. Keiner hatte den Fernseher in der Hosentasche. Wichtig ist, wie in der Familie die Freizeit verbracht wird und welche Vorbildfunktion Eltern übernehmen. Wir achten darauf, regelmäßig mit den Kindern etwas zu unternehmen. Gleichzeitig gibt es bei uns aber gemeinsames Filmeschauen und Diskussionen über Medienkonsum und -nutzung. Unsere Kinder sehen, dass auch im Leben ihrer Eltern Smartphone und PC eine wichtige Rolle spielen. Es muss aber deutlich werden, dass die Eltern nicht die ganze Zeit am Smartphone abhängen. Sonst noch Erziehungstipps? Wir erziehen unsere vier Kinder unterschiedlich. Das

mag komisch klingen, aber unser Sohn ist wie viele Jungs um die 13 im PC-SpielAlter. Unsere 16-Jährige kommuniziert eher über

»Manche Eltern haben ihre Kinder an die digitale Welt verloren« Instagram. Wir begrenzen die Zeiten und setzen auf Selbstkontrolle der Kinder – abhängig vom jeweiligen Kind. Wenn wir merken, dass das nicht funktioniert, gibt es auch mal Spielverbote oder Handy-Entzug. Was halten Sie von kompletten Verboten? Die sind nicht zielführend. Es geht ja darum, Kinder zu einem gesunden Medienkonsum zu befähigen. Junge Menschen müssen lernen, Daten und Fotos nicht unreflektiert zu teilen – gerade mit Blick auf spätere Bewerbungen und den künftigen Job. Allerdings rücken inzwischen junge Personaler nach, die vielleicht auch schon mal ein fragwürdiges Foto von sich gepostet haben. Gut möglich, dass die Einstellung liberaler wird. Wir wollten dieses Interview eigentlich schon vor Ihren Sommerferien führen – aber dann sind Sie drei Wochen abgetaucht. Waren Sie wirklich 21 Tage offline? Nein, war ich nicht. Es gab in der Zeit Gespräche rund um die Budgetplanung für 2018, die nicht verlegbar waren.

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Ich bin aber überzeugt, dass es sinnvoll ist, einmal im Jahr gründlich abzuschalten. Mir zumindest tut es gut, in der Zeit keine Mails zu lesen und ständig erreichbar zu sein. Ich habe dafür ein einfaches Rezept: telefonisch bin ich erreichbar – aber nur über das Handy meiner Frau. Wenn etwas wirklich Kritisches auf Kunden- oder Mitarbeiterebene passiert, bin ich da. Andere Themen müssen warten. In den letzten sechs Jahren war das nie ein Problem.

»Arbeitgeber müssen wissen, wofür sie stehen« Drei Wochen offline kann sich nur leisten, wer festangestellt ist. Für Menschen wie mich ist das undenkbar. Ich beantworte an 365 Tagen im Jahr meine Mails. Bin ich ein Opfer oder schon typisch? Gute Frage – die müssen Sie selbst beantworten. Ich bin der Meinung, dass sich Möglichkeiten schaffen lassen, um einmal im Jahr länger offline zu sein. Das kommt aber darauf an, wie leicht einem die Delegation von Verantwortung fällt. Ich sehe darin keine wirkliche Belastung: Ich kann Kommunikation auch im

Urlaub in meinen Tagesplan integrieren – so wie Zähneputzen oder 30 Minuten Yoga am Morgen. Rein technisch ist das überhaupt kein Problem, das sehe ich genauso. Es ist eher eine Frage der individuellen Bedürfnislage – sofern man über eine entsprechende Team-Infrastruktur verfügt. Ist das nicht der Fall und man arbeitet komplett autark, dann ist ständige Verfügbarkeit ein Preis dafür, autark zu agieren. Wie wirkt sich die totale Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt aus? Wir werden zeitlich, räumlich und organisatorisch flexibler. Zentrale Werte sind Souveränität des Individuums, Balance im Sinne eines ganzheitlichen Lebens bestehend aus Arbeit und Freizeit und Flexibilität. Der Arbeitsalltag der Zukunft wird einerseits von Agilität und Flexibilität geprägt sein. Auf der anderen Seite wird es auch weiterhin Arbeit geben, wie wir sie kennen: in hierarchisch strukturierten, autoritär geführten Organisationen ohne Flexibilität. Worauf müssen sich Arbeitgeber einstellen? Arbeitgeber müssen wissen, wofür sie stehen. Ich bekomme oft mit, wie schwer sich viele Unternehmen damit tun. Fragen Sie mal die

»Ich kann jungen Menschen kein Hochglanzbild verkaufen« Geschäftsleitung, wofür ihr Unternehmen als Arbeitgeber steht. Da kommen – wenn überhaupt – immer die gleichen Phrasen. Es gibt nicht viele Unternehmer, die ein klares Bild davon haben, was für eine Positionierung ihr Unternehmen als Arbeitgeber hat. Wozu braucht es diese Positionierung? Ich kann der jüngeren Generation kein Hochglanzbild verkaufen, das mit der Realität nichts zu tun hat. Solche Unwahrheiten werden über Social Media entlarvt: Bewerber können über Portale wie glassdoor oder kununu schnell herausfinden, wie es um die Arbeit in einem bestimmten Unternehmen bestellt ist. Was hat das für Folgen? Demographie und Digitalisierung führen zu einem härteren Kampf um Talente als früher. Unternehmer müssen erkennen, dass ihre wichtigste Ressource die eigenen Mitarbeiter sind. Noch vor den Kunden. Der Mitarbeiter ist König. Als Unternehmer muss ich den Fokus darauf legen, Mit-

arbeiter zu gewinnen und zu binden. Sonst habe ich zwar Kundenaufträge, aber keine Mitarbeiter, die diese ausführen. Lassen Sie uns auf diejenigen schauen, die in den nächsten Jahren in den Beruf kommen. Die standen ihr junges Leben lang digital im Mittelpunkt. Kommt da eine Generation Ego auf uns zu? Pauschal sehe ich das nicht so. Jeder hat zwar die Möglichkeit, sich mit seiner digitalen Stimme Gehör zu verschaffen. Das alleine reicht allerdings nicht, um das eigene Ego zu boosten. Welchen Tipp geben Sie jungen Leuten, die auf den Arbeitsmarkt kommen? Seien Sie offen und neugierig. Trauen Sie sich den Sprung in kaltes Wasser zu. Tun Sie das, was Sie wirklich, wirklich interessiert und nicht das, was vermeintlich die besten Jobchancen bietet. Welchen Tipp geben Sie Eltern? Bemühen Sie sich, die Interessen Ihrer Kinder zu verstehen. Seien Sie neugierig und beschäftigen Sie sich selbst mit digitalen Medien. Seien Sie ein Vorbild bei der Nutzung von digitalen und analogen Tools und bei der Freizeitgestaltung.

Baby-Boomer

Generation X

Generation Y

Generation Z

Generation Alpha

►geboren zwischen 1955 und 1965 ►Fokus auf Arbeit, Karriere und persönlichem Wachstum ►aufwachsen ohne digitale Medien, teilweise erschwerter Umgang damit

►geboren zwischen 1965 und 1980 ►Arbeits- und Privatleben vereinbaren und Lebensqualität erhöhen ►lediglich mit Fernsehen aufgewachsen, heutzutage aber mit digitalen Medien vertraut

►geboren zwischen 1981 und 1995 ►Berufsleben in Einklang mit persönlichen Werten bringen & kombinieren ►hat den Übergang zur digitalen Welt miterlebt, kennt „beide Welten“

►geboren zwischen 1996 und 2010 ►Trennung von Arbeits- und Privatleben ►vernetztes Leben selbstverständlich, digitale Medien von immensem Wert

►geboren ab 2010 ►gekennzeichnet durch stetigen Wandel und fortlaufende Anpassungen an eine globale Welt ►komplett neue Beziehung zur Digitalisierung und Technik

Quelle: Gero Hesse, Territory Embrace

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Digitalisierung heißt, aus Big Data Erlebnisse zu machen.

Wir verknüpfen Zahlen und Fakten zu lebendigen und authentischen Geschichten, die Kunden begeistern. wdv – Content trifft Marketing seit 70 Jahren.


Foto: (c) dpa


Willkommen im Troubadix–Paradies Der Narzissmus hat die digitale Gesellschaft fest im Griff. Im Netz wollen alle schöner und erfolgreicher erscheinen als sie sind. Plattformen wie Instagram, Facebook und YouTube machen die Selbstliebe zum Geschäftsmodell – mit unguten Folgen Ein Essay von Imre Grimm

Pamela Reif

geboren am 19. August 1996 Bürgerlicher Name: Pamela Reif Bekannt für: Fitness- und Mode-Posts Fun Fact: bestand ihr Abitur mit 1,0

Fans YouTube-Abonnenten: 175.945 Instagram-Follower: 3,1 Millionen Facebook-Abonnenten: 96.255 Twitter-Follower: 336


Dagi Bee

geboren am 21. September 1994 Bürgerlicher Name: Dagmara Nicole Ochmanczyk Bekannt für: Styling- und Mode-Tutorials Fun-Fact: leidet unter morgendlichem Nasenbluten

Fans YouTube-Abonnenten: 3,6 Millionen Instagram-Follower: 4,9 Millionen Facebook-Abonnenten: 1,5 Millionen Twitter-Follower: 1,8 Millionen

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er Barde kann nicht singen, nicht einen Ton. Wenn er zur Lyra greift, fallen die Vögel tot vom Himmel. Asterix weiß es, Obelix weiß es, das ganze Dorf weiß es. Das ganze Dorf? Nein! Troubadix selbst ist fest davon überzeugt, ein Goldkehlchen zu sein. Ein Star, dessen Talent verkannt wird. Dass diese Banausen ihn bei jedem Gelage an einen Baum fesseln, damit er das Fest nicht durch lyrische Ergüsse stört, ist für den gallischen Narzissten nur ein Beweis ihrer Barbarei. Die Welt ist voll von Troubadixen. Von Menschen, deren Selbstbewusstsein unerschütterlich scheint, obwohl alle Fakten Anlass zur Zurückhaltung böten. Von Gernegroßen, die in ihrem festen Glauben an die eigene Grandezza alle Rückschläge nicht etwa sich selbst ankreiden, sondern ihrer neidischen, ahnungslosen und undankbaren Umwelt. Ihr seid doch bloß unfähig, die Talente dieses Gottesgeschenks

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anzuerkennen, das da in eurer Mitte weilt! Die USA werden derzeit von einem solchen Gottesgeschenk regiert: Donald Trump ist der bekannteste Patient, der am TroubadixSyndrom leidet. Eigene Fehler? Nicht doch. Die Medien. Die Demokraten. Die Eliten. Hillary. Alle sind schuld. Nur nicht Trump. Und Trump ist nicht allein. Erdogan. Orban. Putin. Ronaldo. Kim Kardashian. Theresa May. Dieter Bohlen. Ihnen allen fehlt die Souveränität wirklich großer Menschen. Das Gespür für die Bedürfnisse anderer. Narziss und Vollmund, frei nach Hermann Hesse. Befallen sind aber nicht nur die Mächtigen: Die Welt ist voll von Menschen, denen es schwerfällt, die eigenen Stärken und Schwächen einzuschätzen. Narzissmus wird zur Volkskrankheit. Das Heer der Blender, die sich von Blendern bereitwillig blenden lassen, schwillt an. Millionen nehmen nur noch zur Kenntnis, was ihnen schmeichelt und turi2 edition #5 · Digital Me


Daniel Fuchs geboren 1989

Bürgerlicher Name: Daniel Fuchs Bekannt für: Mode- und Fitness-Posts Fun Fact: hat Maschinenbau studiert

Fans YouTube-Abonnenten: – Instagram-Follower: 1,3 Millionen Facebook-Abonnenten: 6873 Twitter-Follower: –

was sie hören wollen. Sie sehen die Welt als Jagdplatz für den eigenen Vorteil. Soziale Medien sind die Tummelplätze für narzisstische Soziopathen im Sog des Selbst. Wir erleben die Instagramisierung des menschlichen Zusammenlebens: Wo die Wahrheit nicht reicht, kommen beschönigende Filter zum Einsatz, technische wie emotionale. „Unser Leben erscheint sehr viel interessanter, wenn es durch die sexy Facebook-Schnittstelle gefiltert wird“, sagt der US-Autor Jonathan Frantzen. „Wir sind Stars unserer eigenen Filme.“ So wird die Welt jedes Einzelnen zum Zerrspiegelkabinett. Narzissmus ist ein Schutzschild der Seele. Es verleiht Menschen die Fähigkeit, auch bei geringem Selbstbewusstsein Kränkungen und Enttäuschungen auszuhalten. Unentwegt spricht der Narzisst über sich selbst, blickt spöttisch auf Spötter, wirkt durchaus eloquent, ist reizbar, nachtragend und turi2 edition #5 · Digital Me

kleinlich, wird eisig bei Witzen auf seine Kosten, fühlt sich von Natur aus im Recht, ohne jedes Gespür für den Moment, in dem sein Selbstlob peinlich wird. Es ist eine emotionale Flucht nach vorn. Studien zeigen, dass Männer eher Narzissten sind als Frauen, Westdeutsche eher als Ostdeutsche und Deutsche insgesamt eher als Chinesen. Ist das so schlimm? Heißt es nicht schon in der Bibel: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“? Ist Selbstliebe nicht die Voraussetzung für Liebe überhaupt? Nicht, wenn sie abhängig macht. Wenn sie Ehepartner und Wähler quält. „Die Eigenliebe bringt mehr Wüstlinge hervor als die Liebe“, schrieb Jean-Jacques Rousseau. Trotzdem belohnt die moderne Gesellschaft Geltungssucht. Wer schweigt, gilt als nichtssagend. Wer brüllt, wird eher erhört. Die Weltmedien stürzten sich auf das Phänomen Trump wie Wespen auf den Erdbeerkuchen. Das Fernsehen

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Sami Slimani

geboren am 20. März 1990 Bürgerlicher Name: Sami Slimani Bekannt für: Testvideos zu Beauty-Produkten Fun-Fact: betreibt mit seinen Schwestern die Lifestyle-Marke „Maison Slimani“

Fans YouTube-Abonnenten: 1,6 Millionen Instagram-Follower: 1,5 Millionen Facebook-Abonnenten: 700.000 Twitter-Follower: 765.000

spiegelt und befeuert den Trend zur Eigenliebe mit TV-Egotrips wie „Deutschland sucht den Superstar“, „Die Höhle der Löwen“, „Der Bachelor“ und einer Unzahl von Reality-Shows, in denen der beste Verkäufer seiner selbst siegt. Und bei YouTube und Instagram verkaufen Tausende Influencer als digitale Marktschreier Lidschatten und Pubertantenprosa an kleine Mädchen. So entsteht ein Milliardenmarkt der Egomanie. Es ist neun Jahre her, dass das US-amerikanische „Time Magazine“ die komplette Weltbevölkerung zur „Person des Jahres 2006“ kürte. 6,6 Milliarden Menschen standen damals in einer Reihe mit Bono und Bill Gates, Wladimir Putin und Barack Obama. Auf dem „Time“-Titel klebte Spiegelfolie. Darauf stand: „Person of the Year: You“. Und darunter: „Ja, du. Du beeinflusst das Informationszeitalter. Willkommen in deiner Welt.“ Ein Marketingcoup, das auch. Aber er trug einer revolutionären Entwicklung Rechnung, die niemand

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mehr leugnen konnte: Das Internet – das war nicht länger die Spielwiese von Technokraten, Wissenschaftlern, Firmen, Nerds und Militärs. Das Netz waren nicht mehr „die“. Das Netz waren „wir“. Es war die Geburtsstunde des Web 2.0 mit seinen Bloggern, Wikipedia-Autoren, Produktbewertern, Kommentatoren, Filmemachern, Meinungsventilierern, Plagiatsjägern, Instagram-Postern. Und eben Influencern. Diese Berufsbezeichnung aus dem ABC des Business Bullshit kennzeichnet diejenigen, die aus dem Narzissmus ein Geschäftsmodell gemacht haben – die mit Adsense und Sponsoring, als Testimonial, mit „Tests“ von Werbeartikeln und durch Provisionen aus Affiliate-Marketing viel Geld verdienen. Über-50-Jährige stehen vor dem Phänomen ähnlich ratlos wie Unter-30-Jährige vor einer Eagles-Schallplatte. Was machen die da? Die Antwort ist: Sie beuten die Sehnsucht von Minderjährigen nach Teilhabe aus. turi2 edition #5 · Digital Me


Ruby R�e

geboren am 20. März 1986 Bürgerlicher Name: Ruby Rose Langenheim Bekannt als: Schauspielerin, Model, Musikerin Fun Fact: fühlt sich keinem Geschlecht fest zugehörig

Fans YouTube-Abonnenten: 616.000 Instagram-Follower: 11,5 Millionen Facebook-Abonnenten: 5,6 Millionen Twitter-Follower: 1,33 Millionen

„Hallo Leute“, strahlt etwa Nilam Farooq, posierend vor einem weißen Lackschränkchen. „Ich zeig’ euch heute, wie man sich Sockenlocken macht!“ Und dann flicht sie sich schwarze Socken in die Haare, neun Minuten lang.

Influencer monetarisieren die Träume von Teenagern, Teil von etwas Großem zu sein „Daaruum“ nennt sich Farooq bei Youtube. Sie ist 27 Jahre alt, Berlinerin, Schauspielerin, Werbefigur. 1,1 Millionen Menschen haben ihren YouTube-Kanal abonniert. Daaruum lebt gut von Sockenlocken und Schminktipps. Pro 1.000 Klicks auf ihre Videos sollen 2 bis 4 Euro Werbeeinnahmen auf ihr Konto fließen. Die Fangemeinde nimmt regen Anteil: „Ich habe es aus brobirt und es hat nicht geklabt“, schreibt „Manuela“ enttäuscht. „Msp Mausi“ ist dagegen begeistert: turi2 edition #5 · Digital Me

„Schöne Haare und schöner Lippenstift wie heißt der?“ Oder Caro Daur, mit 1,1 Millionen Followern einer der größten deutschen Stars bei Instagram. Die 22-Jährige aus Seevetal arbeitet für Marken wie Dior, Cartier, Tommy Hilfiger, Marc O‘Polo und Wempe. Bis zu eine Million Euro soll sie pro Jahr verdienen. „Mein Leben ist komplett durchorganisiert“, sagte sie dem „Manager Magazin“ – „Anfragen selektieren, Kooperationen auswählen, Verträge verhandeln, Logistik der Musterteile koordinieren, Interviews geben, Fotoshootings für Magazine planen, Postingtexte formulieren, Looks jeden Tag neu planen ...“ Teenager sehnen sich danach, Teil von etwas Großem zu sein, sich verortet zu fühlen, verankert in der Welt. Die Communities der Influencer monetarisieren diese Träume. YouTube ist im elften Jahr seines Bestehens nicht bloß digitale Volkshochschule, Teilchenbeschleuniger für niesende

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Julie Sarinana

geboren am 9. Januar 1986 Bürgerlicher Name: Julie Sarinana Bekannt für: Reise- und Mode-Blogeinträge Fun Fact: misst gerade mal 1,52 Meter

Fans YouTube-Abonnenten: – Instagram-Follower: 4,6 Millionen Facebook-Abonnenten: – Twitter-Follower: 62.900

Pandabären und beißwütige Babys, globales Bildgedächtnis und popkulturelles Schlemmerbüfett. YouTube hat als mächtiges Marketinginstrument die Parameter des globalen Entertainments verändert. Das Leitmedium der Jugend heißt nicht VIVA, nicht MTV und schon gar nicht „Bravo“. Es heißt YouTube. Der größte Konkurrent von Disney ist nicht mehr Sony oder Fox, sondern jeder 15-Jährige, der ein Smartphone halten kann. Zu den deutschen Stars gehören die Brüder Roman und Heiko Lochmann aus Köln, die von ihren Eltern gemanagt werden und als Die Lochis mit Lilalaunepop und schmerzfreiem Pubertantenhumor 2,4 Millionen Abonnenten amüsieren. Oder Online-Videospieler, die sich beim Zocken filmen wie Sarazar, Dner oder Platzhirsch Gronkh, bürgerlich Erik Range, dem 4,6 Millionen Daddler folgen. Oder die kreuzbrave 24-jährige Kölnerin Bianca Heinicke alias Bibi.

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Die erfolgreichste deutsche YouTuberin wird von ihren Fans fast kultisch verehrt – als beste Freundin, Kummerkastentante und große Schwester, nahbar und unnahbar zugleich, wie eine hemdsärmelige Version von Lady Gaga. Knapp 4,5 Millionen Fans hat ihr YouTube-Kanal „BibisBeautyPalace“. „BITTE KEINE FANPOST“ heißt es dort trocken. Heinicke, 1,55 Meter groß, hat ihr Studium des Erfolgs wegen geschmissen. Aus Lidschattenanalysen, Cupcake-Backen, Malediven-Urlaubsvideos und schnappatmiger Mädelsprosa hat sie ein einträgliches Geschäft gemacht. Mit Freund Julian Claßen – mit dem sie seit der zehnten Klasse liiert ist – zelebriert sie eine keimfreie Boyfriend-Romantik, die bestens ins Neobiedermeier der Gegenwart passt. Zusätzlich verstörte sie die Popwelt mit einem Song, der klang wie ein akustischer Meniskusriss („Wap-bap, ba-da-di-da-da Wap-bap, ba-da-dada-da-da“). turi2 edition #5 · Digital Me


Sappi&You Papier und mehr Als einer der führenden Anbieter grafischer Feinpapiere steht Sappi für garantierte Qualität unserer Produkte und individuellen Service für Ihre Herausforderungen. Unser Sortiment wird in hergestellt und bietet somit Europa nach höchsten Standards hergestellt Qualität, Konstanz und Nachhaltigkeit. Wir arbeiten dafür, dass Print ein nachhaltiges, effektives und starkes Kommunikationsmedium bleibt. Welche Anforderungen Sie auch immer haben, wir sind bereit für Ihre Herausforderungen und die Komplexität Ihres Unternehmens. Erfolgsstory Lassen Sie uns gemeinsam aus Print eine Erfolgsstory machen.

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Julian Claßen

geboren am 21. April 1993 Bürgerlicher Name: Julian Claßen Bekannt für: Comedy- und Lifestyle-Videos Fun Fact: ist mit YouTuberin Bibi liiert

Fans YouTube-Abonnenten: 3,2 Millionen Instagram-Follower: 4 Millionen Facebook-Abonnenten: 658.000 Twitter-Follower: 1,24 Millionen

Die Bedeutung von YouTube-Stars liegt allein in ihrer �istenz

Lange haben etablierte Medienmultis die digitale EgoSpielwiese mit all ihren Tütenauspackern und Lippenstiftaposteln mit einer Mischung aus Spott, Ratlosigkeit und Herablassung betrachtet. Doch das Geschäft mit der Zielgruppe der 12- bis 20-Jährigen professionalisiert sich. Aus der Szene ist eine Branche geworden. Investoren, Spekulanten, Medienprofis lockt bei den Social-Media-Stars eine Eigenschaft, die keine Marketingabteilung der Welt liefern kann: Glaubwürdigkeit. Durch „Volksabstimmung“ erzeugte Prominenz. Es sind digitale Helden mit starkem Identifikationspotenzial und hoher Autorität bei Teenagern. Eben: Influencer. Das Wort impliziert Verantwortung. Die aber lehnen sie ab. Ist doch nur Spaß. Rein rechtlich unterliegen Social-Media-Stars wie Blogger der Kennzeichnungspflicht von Bezahlinhalten. Aber derlei gilt hier als Anachronismus aus einer alten Welt. Wie viele

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Posts sind bezahlt? Wie unabhängig sind die „Produkttests“? Compliance-Fragen beantwortet man nur ungern. Schweigen überall. Seliges Unwissen bei Sendern wie Empfängern. Studien zeigen, dass das Gehirn von Menschen, die für ihr Verhalten keine unmittelbaren Konsequenzen befürchten müssen, Denkabkürzungen nimmt, also vernunftreduziert funktioniert. Facebookeinträge, Lochi-Sketche und BibiVideos belegen dieses Phänomen jeden Tag.

Das Geschäft mit der Zielgruppe der 12- bis 20-Jährigen professionalisiert sich. Aus der Szene ist eine Branche geworden Niemand hat die industrialisierte „Liebe“ zu pubertierenden Mädchen so zur Perfektion getrieben wie Sami Slimani. turi2 edition #5 · Digital Me


Bibi

geboren am 6. Februar 1993 Bürgerlicher Name: Bianca Heinicke Bekannt für: Beauty- und Lifestyle-Tipps Fun-Fact: ist mit YouTuber Julian Claßen liiert

Fans YouTube-Abonnenten: 4,5 Millionen Instagram-Follower: 5,3 Millionen Facebook-Abonnenten: 1,3 Millionen Twitter-Follower: 1,8 Millionen

Einst testete der damals schüchterne, dickliche Junge als „Mr. Tutorial“ noch Antipickelcremes. Inzwischen würden Slimani und seinen Schwestern Hunderttausende „Saminators“, die ihren Helden mit der Entschlossenheit von japanischen Kamikazefliegern verteidigen, jederzeit blind in den Tod folgen. Slimani tötet jeden Nerv, erfüllt aber die klassische Schmusefunktion von Boygroups – mit einem endlosen Strom von überzuckerten Alltagsvideos und billigster Ermutigungslyrik („Das Leben ist etwas Besonderes & unsere Zeit auch“). Im Fernsehen funktionierte er nicht. Fans dürfen ihn bei Live-Auftritten 15 Sekunden lang umarmen. Handgestoppt vom Sicherheitspersonal. Was macht Narzissten wie Slimani, Kim Kardashian und Bianca Heinicke überhaupt zu Stars? Der wichtigste Resonanzboden für den Erfolg ist und bleibt das Publikum. „Die Menschen machten mich dazu. Das war kein Studio und kein turi2 edition #5 · Digital Me

Manager, nur die Menschen“, sagte einst Marylin Monroe. Ist das Publikum homogen zusammengesetzt, bleibt die „Leistung“ des Kandidaten beurteilbar, weil über die Kriterien Einigkeit besteht. Das ist selten. Ist es heterogen, muss die „Leistung“ künstlich sichtbar gemacht werden – durch Glamoursymbole, die den Starkult nähren: Stretch-Limousinen, Scheinwerfer, Fernsehshows, Preise und Werbung. Shep Gordon, Manager von Alice Cooper und Blondie: „Wenn ich eine Band in die Hände bekam, dann wurden ihre Mitglieder jederzeit wie Stars behandelt. Sie wurden bedient und verwöhnt, und man gab ihnen das Gefühl, die größten Musiker der Welt zu sein. Schließlich glaubten die Jungs selbst daran – und dies übertrug sich auf die Journalisten, die sie interviewten, und auf die Fans, die sie hörten.“ Und so stehen die YouTube-Stars in Messehallen vor 10.000 jubelnden Teenagern herum, winken huldvoll und tun – nichts. Ihre

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Kayla Itsines

geboren am 21. Mai 1991 Bürgerlicher Name: Kayla Itsines Bekannt für: Fitness-Tipps und die WorkoutApp „Sweat with Kayla“ Fun-Fact: bedient ihre SocialMedia-Kanäle ausschließlich selbst

Fans YouTube-Abonnenten: 193.000 Instagram-Follower: 7,2 Millionen Facebook-Abonnenten: 12,7 Millionen Twitter-Follower: 420.000

Bedeutung liegt allein in ihrer Existenz. Das ist Narzissmus in Reinkultur. „Für viele Jugendliche ist Gott weit weg, zu weit“, schrieb einst eine Osnabrücker Zwölftklässlerin in einer Facharbeit. „Und Gott ist umstritten. Wir wachsen in einer Gesellschaft auf, die von der Wissenschaft dominiert wird, und die Religion kommt oft zu kurz. Die Stars begegnen uns in unserem Leben ständig, sie sind uns nah. Sie geben uns Kraft und lassen uns von einer besseren Welt träumen, in der ewig die Sonne scheint, man das Geld im Handumdrehen verdient, jeder schön und gesund ist, viele Freunde hat und von allen geliebt wird. Kurzum, wir sehnen uns nach dem Leben, was uns die meisten Stars in Zusammenarbeit mit den Medien präsentieren. Wir brauchen diese Illusion.“ Natürlich haben YouTube, Instagram, Facebook und Twitter das Prinzip des trivialisierten, demokratischen Ruhms

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nicht erfunden, aus dem die Castingshows der Nullerjahre dann die Illusion der „Geburt“ eines Stars machten. Aber sie haben die professionelle Eigenliebe zur Perfektion gebracht. Das Web 2.0 schien endlich das Versprechen einer digitalen Solidargemeinschaft zu erfüllen, die das tiefe menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Bestätigung befriedigt. Das Netz. Schon dieses Wort klingt ja nach Zusammenhalt, Struktur und Elastizität.

Narzissten treffen auf überaus dankbares Publikum – denn das Bedürfnis nach Identifikationsfiguren ist größer denn je Stars sind Bezugspunkte für ein Halt suchendes, junges Publikum, Projektionsflächen für den inneren Datenabgleich, turi2 edition #5 · Digital Me


Simeon Panda

geboren am 28. Mai 1986 Bürgerlicher Name: Simeon Panda Bekannt für: Fitness- und Bodybuilding-Posts Fun Fact: führt mit seinem Bruder Samuel den OnlineFitness-Shop SP Aesthetics

Fans YouTube-Abonnenten: 314.000 Instagram-Follower: 3,3 Millionen Facebook-Abonnenten: 5,3 Millionen Twitter-Follower: 75.500

Zum Narzissten wird erst, wer sich allen anderen überlegen fühlt

Symbole kultureller Werte. Der Prominentenkult floriert vor allem in Zeiten schnellen sozialen Wandels. Der Narzisst trifft also auf ein überaus dankbares Publikum. Denn das Bedürfnis nach Identifikationsfiguren ist größer denn je. „Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm dran“, hat schon Bertolt Brecht geschrieben. „Noch schlimmer sind Zuhörer dran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat.“ Das war 1927. Es ging um das Radio. Brecht träumte schon damals von einem Rückkanal, der den „Distributionsapparat“ in einen „Kommunikationsapparat“ verwandeln würde. 70 Jahre später ist Brechts Vision Wirklichkeit. Aber das ist eben der unauflösbare Widerspruch der Jahrtausenderfindung Internet: Einerseits erleichtert es die Suche nach dem einen, nie zuvor gedachten Gedanken. Andererseits verbirgt sich das Gold der Originalität in einem anschwellenden turi2 edition #5 · Digital Me

Geröllberg von tausendmal gelesenen Redundanzen, endlos Wiedergekäutem, Ausrechenbarem, Oberflächlichem, Lahmem, Nervtötendem und Zerstörerischem. Elf Jahre nach dem Partizipationsversprechen auf dem „Time“-Titel ist das Mitmachinternet, der Garten Eden des globalen Narzissmus, an einem kritischen Punkt angekommen. Es ist ausgerechnet das „Wir“, das „uns“ zu schaffen macht. Trolle und Pöbler haben die Kommunikation zerstört. Das Wort von den asozialen Medien macht die Runde. Jean-Paul Sartres existenzialistischer Stoßseufzer – „Die Hölle, das sind die anderen“ – gilt heute unvermindert. Es erweist sich als enorm anstrengend dranzubleiben, in einem permanenten Prozess das eigene Filtersystem für die Digitalfluten zu optimieren, den idealen Algorithmus für die eigenen Interessen zu entwickeln. Mit der Vergabe des Prominententitels freilich ist das Publikum weiterhin großzügig. „Es hat gegen heikle Begleitum-

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Caro Daur

geboren am 12. März 1995 Bürgerlicher Name: Caroline Daur Bekannt für: Model- und Werbeauftritte Fun Fact: ist Fan von Karl Lagerfeld

Fans YouTube-Abonnenten: – Instagram-Follower: 1,1 Millionen Facebook-Abonnenten: 121.000

stände wie Ehebruch, Mitgiftjägerei, Trunkenheit, Fausthiebe und Schamlosigkeit nichts einzuwenden“, schrieb Friedrich Sieburg schon 1954 in der „Zeit“. Die Medienmaschinerie dürstet es geradezu nach Narzissten und Histrionikern – überdreht emotionale Menschen mit überstarkem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Bestätigung und Lob. Und Teenager ahmen nach, was sie sehen. Ein Symptom sind die aufgeregten Schulmädchen, die sich mit flatternden Händen Luft zufächeln und „Oh mein Gott!“ hauchen. Aber nicht jeder, der einen Selfiestick hält, ist ein Narzisst. Er betreibt nur eine moderne Form der Identitätssuche und Rückversicherung. Zum Narzissten wird er erst, wenn er sich allen anderen dabei überlegen fühlt. Der römische Dichter Ovid erzählt die antike Sage vom Jüngling Narziss, der einst die Liebe einer Frau verschmähte und dafür mit unerfüllbarer Selbstliebe zu seinem Spiegelbild im Wasser bestraft

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wird. Die Herzen von Männern und Frauen fliegen ihm zu, aber er ist unfähig zur Erwiderung. Die Nymphe Echo und der Verehrer Ameinios nehmen sich das Leben. Im Tod verwandelt sich der traurige Liebende in eine schöne Blume – eine Narzisse. In der Seele des Menschen gebe es „eine natürliche Sehnsucht, das Objekt fortwährender Beobachtung zu sein, überall Bilder von sich selbst zu erblicken“, schrieb der englische Essayist William Hazlitt schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Je mehr wir wahrgenommen werden, desto mehr scheint unsere Existenz bewiesen. Der „Wert“ eines Individuums, sein Ansehen, richtet sich nach dem Urteil seiner Umwelt. Er pendelt sich ein wie ein Marktpreis. Ein geringes Selbstbewusstsein und der Wunsch, geliebt zu werden, sind also kraftvolle Motoren für eine Show- oder Internetkarriere. „Mein Vater hat mir nie gesagt, dass er mich liebt“, sagte turi2 edition #5 · Digital Me

Fotos: S.120-130 Instagram

Twitter-Follower: 152


Michael Jackson mit Tränen in den Augen bei einem Auftritt vor Oxford-Studenten. „Ich bin das Produkt eines Mangels an Kindheit.“ Der Trick der Psyche: Narzissmus immunisiert gegen die Kritik, ein Narzisst zu sein. Als Krankheitsdiagnose „ICD-10“ existiert die „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ erst seit 1980 – seit dem Beginn des ersten Ich-ich-ich-Jahrzehnts, das Jahrhundertnarzissten wie Prince, Madonna, Axl Rose und Michael Jackson hervorbrachte. Psychologen unterscheiden dabei zwischen dem „grandiosen“ – nach Anerkennung und Erfolg strebenden – Narzissten und dem „vulnerablen“, seine Depressionen überdröhnenden Narzissten. Unglücklich sind sie beide. „Karriere ist etwas Herrliches“, hat Marilyn Monroe mal gesagt, „aber man kann sich nicht in einer kalten Nacht an ihr wärmen.“

Der Trick ist die Psyche: Narzissmus immunisiert gegen die Kritik, ein Narzisst zu sein Ein Grund für die Jagd des Narzissten nach Glamour und Aufmerksamkeit – so meint der Berliner Philosophieprofessor Byung-Chul Han – liegt darin, dass Innerlichkeit und Einkehr in der medialen Verwertungskette keinen Resonanzboden fänden. Stattdessen bestimmten Sichtbarkeit und Oberflächlichkeit den Alltag, in dem sich lauter narzisstische Ichs im Leerlauf befänden, die sich selbst fremd sind. So entsteht statt Selbstbewusstsein eine kollektive Selbstbewusstlosigkeit. Komikerin Carolin Kebekus („Pussy Terror TV“) irritiert die sinnleere, apolitische Haltung „all dieser BeautyYouTuberinnen“. „Da geht es um nichts anderes als: Schuhe, Frisurentipps und wie man möglichst wenig isst“, sagte sie der „Welt am Sonntag“. Manche YouTuber hätten Millionen Fans, aber nichts anderes im Kopf als Frisuren. „Das macht einem schon Angst. Ich glaube nicht, dass man das einfach als vorübergehendes Phänomen abtun kann.“

YouTube-Narzissten sind die perfekten Symbolfiguren einer durchökonomisierten Gegenwart, die Gemeinschaft nur simuliert Jede Ära hat die Ikonen, die sie verdient. James Dean brauchte drei Filme und einen Autounfall, um zum Mythos zu werden, weil er, wie Andy Warhol sagte, „der beschädigten, aber wunderbaren Seele unserer Zeit vollendeten Ausdruck verleiht“. Insofern sind die YouTube-Narzissten perfekte Symbolfiguren der durchökonomisierten Gegenwart, die Gemeinschaft nur simuliert. Der ruhmsüchtige Mensch, der aus seinem banalen Leben Kapital schlägt, ist der Phänotyp unserer Zeit. „Little Miss Overshare“ heißt ein Comicbüchlein von Dan Zevin. Ruhm verspricht Distanz zur Masse der Nichtberühmten. Wer berühmt ist, hebt sich ab vom Mittelmaß, steht auf einem unsichtbaren Sockel aus Bewunderung. Tausende jagen diesem diffusen Traum nach. „Ich muss berühmt sein, sonst bin ich niemand“, sagte der US-Musiker James Hetfield von der Hardrockband Metallica. Dabei erleben Millionen im Kleinen den uralten Konflikt der Großen: Entweder man verweigert ihnen die Anerkennung. Dann stampfen die kleinen Prinzessinnen bebend vor Zorn aus dem „DSDS“-Studio und jammern über Inkompetenz und – Ironie! – Selbstüberschätzung der Jury. Oder sie werden zerrissen zwischen Mensch und Image, zwischen Fremd- und Selbstbild. Denn Ruhm ist ja in Wahrheit eine einzige Überforderung. Irgendwann, wenn der Instagram-Account mit dem Leben nichts mehr zu tun hat, wird’s gefährlich. „Ein Image und ein Mensch sind zweierlei“, sagte Elvis Presley. „Ich bin es leid, Elvis zu sein. Wenn dein Kopf zu groß wird, bricht er dir den Hals.“ Dagegen hilft kurzfristig die Erhöhung der Dosis. turi2 edition #5 · Digital Me

„Der Teil meines Verstandes, in dem die Vernunft beheimatet ist, brüllt immer lauter: Robbie, hör’ endlich auf mit dem Popstar-Mist“, sagte Robbie Williams zu Beginn seiner Karriere. „Aber noch antwortet mein Ego genauso laut: Gib mir mehr von dem Wahnsinn!“ Die Erwartungen des Publikums an die Kaste der Prominenz sind hoch. Und das hat Folgen. Eine US-Studie hat ergeben, dass 26 Prozent aller befragten Prominenten irgendwann in ihrem Leben Alkoholprobleme haben. In der „Normalbevölkerung“ sind es 14 Prozent. Die Selbstmordrate bei Berühmtheiten liegt bei 4,4 Prozent gegenüber etwa einem Prozent bei Nichtberühmten. Marilyn Monroe nahm 1962 eine Überdosis Schlaftabletten, Nirvana-Sänger Kurt Cobain erschoss sich 1994 in Los Angeles. Und Romy Schneider bekämpfte die Düsternis in ihrer Seele immer wieder mit Alkohol und Tabletten, bis sie im Mai 1982 starb. „Wenn Reichtum einen höheren Rang einnimmt als Weisheit, wenn Bekanntheit mehr bewundert wird als Würde, wenn Erfolg wichtiger ist als Selbstachtung, überbewertet die Kultur selbst das ,Image‘ und man muss sie als narzisstisch ansehen“, schrieb der US-Psychotherapeut Alexander Lowen. Willkommen im Troubadix-Paradies.

Die Quelle des Übels: Die Neigung des Menschen, unrealistische Selbstkonzepte zuzulassen Die Quelle des Übels liegt in der Neigung des Menschen, unrealistische Selbstkonzepte zuzulassen. Und – paradoxerweise – im Bemühen verunsicherter Eltern, ihren Kindern Selbstbewusstsein einzuimpfen. Alle Eltern kennen die Beispiele von Familien, in denen Kinder selbst bei falschen Mathelösungen enthusiastisch gelobt werden, „damit sie keine Frustrationserlebnisse haben“. Ein verheerender Erziehungsfehler. Die moderne Forschung zeigt, dass die Selbstidealisierung von Kindern ihren Ursprung im überdrehten Lob ihrer Eltern hat. Diese Kinder kennen im Leben kein höheres Ideal als sich selbst. „Kinder glauben ihren Eltern, wenn die ihnen sagen, sie seien besser als andere“, sagt Brad Bushman von der Ohio State University in Columbus. Gut für eine Karriere im Licht der Öffentlichkeit. Schlecht für das Leben. Für Alice Miller („Das Drama des begabten Kindes“) sind Depression und Größenwahn zwei Seiten derselben Medaille. Beides entstehe, wenn Kinder Ventile suchten für Gefühle und Interessen, die sie nie äußern konnten – auch, weil ihre Eltern ihnen das Gefühl mit auf den Weg gaben, die eigene Großartigkeit ständig beweisen zu müssen. Kinder reagieren fast auf dieselbe Art auf chronisch lobende und emotional kalte Eltern: mit einem beständigen Hungern nach Wertschätzung und Aufmerksamkeit. Das Bemühen der Eltern, ihr Kind zu stärken, erzeugt also genau das Gegenteil. Es ist wie immer im Leben: Die Dosis macht das Gift. „Ist das nicht der Wahnsinn, was mein Donald geschafft hat?“, rühmte Fred Trump seinen Zweitgeborenen 1977. Da hatte er ihn gerade mit einer Million Dollar Startkapital ausgestattet. Donalds älterer Bruder Freddy hörte solche Lobpreisungen nicht. Er starb 1981 mit 43 Jahren an Alkoholmissbrauch.

Imre Grimm ist Autor beim Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) der Madsack Mediengruppe

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App-Test-Dummies Laufen, lernen, liefern lassen – fast jeder Lebensbereich lässt sich online organisieren. Drei turi2-Mitarbeiter haben versucht, ihren Alltag mit digitalen Helferlein zu pimpen. Mit Erfolg


Hoe gaat het met jou? Sarah Risch lernt mit der Sprach-App Babbel fleißig Niederländisch. Und parliert jetzt prima mit einer holländischen Oma

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In der Augmented-RealityApp zur „turi2 edition“ testet Sarah Risch ihre Niederländisch-Skills turi2.de/edition/digitalsprechen

turi2 edition #5 · Digital Me

prich Sprachen, wie du es schon immer wolltest.“ Werbung wirkt. Bei mir waren es vor allem die witzigen Fernseh„ spots, die mich dazu gebracht haben, die Sprach-App Babbel zu testen. Das – und der Ehrgeiz, bei Familienfeiern meines niederländischen Freundes endlich einmal mehr als meinen Namen zu verstehen. Einen ersten Anfängerkurs an der Volkshochschule habe ich bereits hinter mir, aber die Erfolge mit Lehrerin Helga sind überschaubar. Vielleicht liegt es daran, dass Helga lieber auf Deutsch über das Wetter redet. Vielleicht prädestiniert der Name Helga auch nicht unbedingt dazu, einen NiederländischKurs zu geben. Also Babbel. Babbel, 2007 von vier Deutschen gegründet, hat nach eigener Aussage mittlerweile eine Million Kunden, die 14 verschiedene Sprachen lernen. Ich lade mir die App runter und gehöre ab sofort dazu. Auswahl: Wunschsprache, Niederländisch, dann ein Einstiegs-Test, bevor verschiedene Bezahl­ modelle auf mich warten. Ich entscheide mich für das monatlich kündbare Abo für 9,95 Euro – schließlich möchte ich erst einmal ausprobieren, was die App so kann. Die Qual der Wahl: Es gibt einen Anfängerkurs, einen für Redewendungen und sogar Kurse zu speziellen Themenfeldern wie „Digitale Welt“. Und, und, und. Ich verzichte erstmal auf „Nomen und ihre Begleiter“ und beginne mit dem, was mir am Sinnvollsten erscheint: Hallo, Anfängerkurs A1! Los geht‘s. Jede Lektion startet mit neuen Vokabeln und dazu passenden Fotos – das Auge lernt schließlich mit. Danach kommen Lesen, Schreiben und Hörverstehen – dank des Spracherkennungssystems meines Smartphones. In den nächsten Wochen beschäftige ich mich im Durchschnitt jeden zweiten Tag mindestens eine Stunde mit Babbel. Aber ich merke schnell: Obwohl die App übersichtlich und intuitiv ist, bin ich zu ungeduldig, sie auf dem Smartphone zu nutzen. Aus Rücksicht auf meine Mitmenschen habe ich mich gegen automatische Spracherkennung entschieden, aber das Eintippen meiner Antworten

dauert ohne echte Tastatur ewig. Außerdem habe ich unterwegs keine Muße, mich mit Vokabeln zu beschäftigen. Und das, obwohl selbst offline Arbeiten mit Babbel kein Problem wäre. Schon nach einer Woche steige ich deshalb auf stationäre Nutzung um. Die wichtigsten holländischen Wörter und Sätze wie „Hoe gaat het met jou“ (Wie geht es dir?), „Ik ben Sarah“ (Ich bin Sarah), „Prettig met jou kennis te maken“ (Schön, dich kennenzulernen) lerne ich schnell. Ehrlich gesagt: Da kommt mir ein bisschen Helgas Unterricht aus der Volkshochschule zugute. Trotzdem habe ich schon nach zwei Wochen das Gefühl, dass auch mein Wortschatz sich vergrößert hat. Faulheit ist nicht. Wenn ich ein paar Tage lang nicht bei Babbel aktiv bin, erinnert mich der „Wiederhol-Manager“ an meine sprachlichen Ziele: „Liebe Sarah, erinnerst du dich noch an die letzten niederländischen Wörter, die du gelernt hast?“ Äh, nein! Es wird Zeit, mich wieder einzuloggen. Willkommen bei der „Täglichen Herausforderung“, bei der mir Babbel kurze Fragen stellt, um zu prüfen, ob auch etwas hängengeblieben ist. In Holland folgt der Realitäts-Check. Oma Neeltjes Geburtstag steht an, der ultimative Praxistest. Ich bilde mir ein, Unterhaltungen tatsächlich besser folgen zu können – aber selbst für kurze Antworten fehlen mir zu viele Vokabeln. Souverän wie die Menschen aus der Babbel-Werbung? So wirke ich lange nicht. Immerhin bringe ich die Oma zum Lachen, indem ich ein paar frisch gelernte Redewendungen wie „De klant is koning“ (Der Kunde ist König) oder „Het gaat gesmeerd“ (Es läuft wie geschmiert) aus dem Zusammenhang reiße. Und: Im Restaurant schaffe ich es mittlerweile selbst, mir mein „Tosti met ham en kaas“ (Ja: gegrillter Toast mit Schinken und Käse) zu bestellen. Für mehr reicht es nach sechs Wochen Babbel nicht. Höhere Erwartungen wären wahrscheinlich auch übertrieben: Vokabeln pauken – das kann einem Schüler eben keine App der Welt abnehmen. Weitermachen werde ich trotzdem. Weil es mir Spaß macht. Mit Babbel statt Helga.

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Mein Handy ist mein Lebensmittel Jens Twiehaus digitalisiert sein komplettes Leben – und findet das äußerst praktisch. Trotzdem spielt Papier in seinem digitalen Dasein eine tragende Rolle

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In der Augmented-RealityApp zur „turi2 edition“ berichtet Jens Twiehaus von seinem digitalen Leben turi2.de/edition/digital-leben

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or meiner Wohnungstür ist ganz schön was los. Ich habe mein komplettes Leben digitalisiert und plötzlich ganz viel Besuch von echten Menschen. Männer in gelben T-Shirts bringen mir Duschgel, einer im blauen Oberteil holt die Dreckwäsche ab. Erstaunliche Erkenntnis: Möglicherweise bedeutet mehr digitale Interaktion mehr menschliches Miteinander. Ich lebe schon länger bewusst digital. Für mich heißt das vor allem: papierlos. Schon 2010 fange ich an, meine Bahntickets nur noch per Handy zu buchen. Okay – im ersten Jahr, um die Schaffner zu ärgern. Oft bin ich der einzige Reisende mit Handyticket und das Knipsfachpersonal guckt, als sei ich der erste Mensch auf Erden mit so einem Teufelszeug. Diese Freude gönnen sie mir heute nicht mehr. Warum papierlos? Weil das Merkmedium Internet einfach klüger ist als das Abgeheftet-Medium Papier. Für diesen Text kann ich mit einer Suchabfrage im MailPostfach nachverfolgen, dass 2010 meine erste Handyticket-Reise war. Der Albtraum jedes Datenschützers ist mir eine Hilfe: Als Selbstständiger habe ich alle Belege digital und durchsuchbar zur Hand. Bei Taxifahrten ist die MyTaxi-Quittung ein Segen, die direkt ins Online-Postfach fliegt, ein Rechnungslabel bekommt und dann wieder Beachtung findet, wenn ich mich an die Buchhaltung setze. Aber nur papierlos kann ja jeder. Deshalb habe ich auch meinem Supermarkt Adieu gesagt. Lebensmittel bringt jetzt Amazon. Ungefähr einmal in der Woche klingelt der Postmann und drückt mir, keine Ironie, Papiertüten in die Hand. Der Wocheneinkauf ist da! Es funktioniert erstaunlich gut. Ich vermisse nichts, schon gar nicht das Schlangestehen an der Kasse. Nach einem Dutzend digitaler Bestellungen lautet meine Bilanz: Alle sind pünktlich, es ist kein falsches Produkt angekommen. In drei Monaten betrete ich nur zweimal einen Supermarkt, weil ich unterwegs zu Freunden Getränke mitbringen soll. Das Handy ist für mich ein Lebensmittel, jetzt bekomme ich dank App sogar Lebensmittel.

Ich bewundere das Amazon-Modell. So schnell gut funktionierende Dinge auf die Beine zu stellen! Die Testerei macht Spaß, es hat etwas von Pioniergeist. Deshalb habe ich mir jüngst Amazon-Aktien zugelegt, natürlich im Online-Depot. Technisch gesehen klappt der Ausflug an die Börse. Dummerweise verlieren die Aktien etwa so viel an Wert, wie ich für diesen Text in Rechnung stelle. Warum Amazon nicht auch noch meine Wäsche macht, kann ich mir kaum erklären. Ich teste ein anderes Angebot: Die InternetWäscherei nennt sich Jonny Fresh und darf sich um mein Bettzeug kümmern. Um 23.54 Uhr geht mein Auftrag raus. Am nächsten Morgen um 8.23 Uhr steht ein blau gekleideter Herr mit Wäschesack vor meiner Tür. Vier Tage später klingelt es wieder: Kopfkissen- und Bettbezug sind sauber wieder da. Ob sie für 37,45 Euro in Berlin oder drüben in Polen gewaschen wurden, erfahre ich nicht. Bevor Sie mich für bekloppt halten: Es wird wohl mein einziges Mal bei der Internet-Wäscherei bleiben. Gleich um die Ecke betreibt Frau Grigorov ihre Reinigung. Sie hat zwar nur bis 18.30 Uhr geöffnet, aber immer ein freundliches Wort und faire Preise. Meine Hemden 100 Meter um den Block zu tragen, kriege ich gerade noch hin. Vorteil: offline. Digital zu leben sollte kein Dogma sein – auch das lerne ich. Ein paar Sachen klappen analog einfach besser. Einige Einzelhändler haben es halt drauf. Herr Borowsky zum Beispiel, der jeden Tag vor seinem Klamottenladen in Prenzlauer Berg steht und mir an einem Montagmittag den passenden Anzug heraussucht – mit einem einzigen Handgriff. Was ich aus meinem Experiment mitnehme: Digitales ist praktisch, Analoges manchmal unumgänglich. Ein voll digitales Leben ist Unsinn. Wir sollten nicht in zwei „Welten“ unterteilen. Unser analoges Leben ist digital durchdrungen – und das digitale funktioniert meist nicht ohne das analoge. Gäbe es den Postmann mit den Papiertüten nicht, wäre ich schließlich schon verhungert. turi2 edition #5 · Digital Me


Hobbyhoppler als Influencer Andreas Grieß testet als ambitionierter Mittelstreckler die Lauf-App Strava. Sein Fazit: totaler Schwachsinn – mehr davon!

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In der Augmented-RealityApp zur „turi2 edition“ wertet Andreas Grieß seine Laufdaten aus turi2.de/edition/digitallaufen

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aufen ist der geilste Sport der Welt. Warum? Ich brauche keine teuren Sportgeräte. Ich brauche keine Mannschaftskollegen, nicht einmal unbedingt eine Sportstätte. Ich ziehe die Schuhe an und laufe los. Das bedeutet aber auch: An mir können Unternehmen weniger Geld verdienen als vielleicht an einem Surfer oder Golfspieler. Andererseits kaufen besonders Hobbyläufer jede Menge Schrott, den kein Mensch braucht. Überteuerte Energieriegel, Socken mit Mega-UltraMuskel-Dingens-Bummens – und verschiedenste Tracker und deren Apps. Eine GPS-Uhr habe ich mir irgendwann angeschafft. Für die Auswertung und Planung des Trainings ist es schon hilfreich, ein paar genauere Daten an der Hand zu haben. Aber mir lag auch ständig jemand in den Ohren, ich solle genau diese Daten doch mal bei Strava hochladen. Die Plattform aus den USA ist ziemlich bekannt, dort stellen auch Profisportler ihre Trainingsläufe oder Radfahrten rein. Irgendwann lasse ich mich bequatschen. Ein Account auf strava.com ist schnell angelegt, ich könnte dazu auch mein Google- oder Facebook-Profil nutzen. Die Trainingsdaten übernimmt der Dienst per API von der Plattform meines Uhrenherstellers. Zusätzlich lade ich mir noch die App auf mein Handy. Immerhin will ich mögliches Feedback zu meinem Training ja auch unterwegs lesen können. Denn: Natürlich geht es auch bei Strava – wie bei allen sozialen Netzwerken – vor allem um den Austausch. Man folgt sich, man vergleicht sich, man verteilt Kudos – die Strava-Variante des Like. Und dann gibt es da noch die Segmente: Das sind Strecken, die Nutzer angelegt haben und für die es Bestenlisten gibt. Im Hamburger Stadtpark, in dem ich die meisten meiner Dauerläufe mache, gibt es unzählige davon. Als ich beginne, meine ersten Trainingsläufe hochzuladen, erobere ich bei einigen davon schnell die Topplatzierung. Mich packt der Ehrgeiz: Ich wähle meine Laufstrecken gezielt nach Segmenten aus, die ich bei meinem erwarteten Tempo noch einkassieren kann. Plötzlich ist

es mir beim Laufen wichtig, nicht zu langsam zu werden. Auch wenn ich alleine laufe, bin ich plötzlich nicht mehr allein. Meine Follower sehen mein Ergebnis. Für Leute, die sich mit der Motivation schwer tun, ist das sicher eine gute Sache. Für mich selbst empfinde ich Strava schnell als gefährlich. Ich trainiere im Verein und in Vorbereitung auf Wettkämpfe. Da gilt manchmal: Weniger ist mehr. Nach einigen Wochen zügle ich meinen Strava-Rausch deshalb wieder, lade nicht mehr jeden Lauf hoch. Auf einmal sieht mein Profil aus wie die Instagram-Profile der Reichen und Schönen. Nur das Positive wird gepostet. Ich bin immer schnell, alles ist super. Trotzdem: Das mit den Kudos will nicht so richtig klappen. Klar, ich kriege von Freunden hier und dort Respekt gezollt. Aber wenn ich mich auf Strava umschaue, sehe ich Läuferinnen und Läufer, die einmal im Monat für eine halbe Stunde etwas schneller unterwegs sind als ein Spaziergänger – und dafür mit Kudos überschüttet werden. Das ist nicht mein Sport. Einige Hobbyhoppler werden so zu Influencern und bekommen sicher über kurz oder lang Sponsorenverträge. Läufer, die zur WM fahren, erhalten kaum Förderung. Ich beschließe, Strava für mich als netten Zeitvertreib zu sehen, mit dem man Spaß haben kann. Ein Zeitvertreib, der mit dem wirklichen Laufen aber so viel zu tun hat wie ein Instagram-Profil mit dem wirklichen Leben. Ein paar Wochen später muss ich mein Urteil revidieren. Ich bin nämlich nicht nur Läufer, sondern auch Trainer – und habe plötzlich viele meiner Athleten mit Strava infiziert. Jetzt kann ich ihre Trainingseinheiten detailliert einsehen. Das macht meine Arbeit deutlich leichter. Fürs Stalking waren soziale Netzwerke schon immer gut.

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A World of W�ards Digitalisierung schafft Arbeitsplätze und völlig neue Berufsbilder. Tatjana Kerschbaumer hat in den USA, dem Mutterland des Internets, elf abgefahrene Digital-Berufe gefunden

ist eine Person, die Erstbesteigungen in Sachen Digitalentwicklung meistern soll. Ähnlich einem Nepalesen, der Extremkletterern ihren Krempel vorausträgt, soll auch der Innovation Sherpa vor allen anderen ungeahnte Digitalgebiete erschließen

Paranoid in Chief vermutet selbst hinter der Büro-Yuccapalme einen Hacker. Ein Chef-Paranoia-Schieber ist nichts anderes als der Boss der Sicherheitsabteilung. Geprägt hat den Begriff das Unternehmen Yahoo, dessen gesamte Security-Belegschaft „The Paranoids“ heißt

W�ard of Light Bulb Moments müsste dem Namen nach aussehen wie Gandalf oder zumindest mit einer dauerleuchtenden Glühbirne über dem

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Kopf herumlaufen. Die Realität ist wenig magisch: Hinter dem Hexer verbirgt sich der Marketing-Chef

Chief �ecutive Unicorn hält sich und seine Ideen für so einmalig wie das namensstiftende Fabeltier. In Einhorn-Positionen finden sich vor allem Gründer – oder ganz normale Geschäftsführer, die sich mehr Glitzer im Büro wünschen

Genius ist nicht automatisch Albert Einstein. Stattdessen wimmelt es mittlerweile in Apple Stores vor Genialität – Genius nennt sich das fleißige Helferlein, das das iPhone unter die Lupe nimmt, wenn es wieder einmal nicht funktioniert

dazu berufen hat, „neue Möglichkeiten für das Unternehmen auszuloten“. Shing hat sich seinen Titel selbst verliehen – „klang lustig“

überzeugt werden. Wohlgesonnene beschreiben Evangelisten als „Begeisterungsträger“, böse Zungen sprechen von Konferenzmonstern

Intergalactic Federation King Almighty & Commander of the Universe

Director Ethical Hacking

Chief Robot Whisperer

war der offizielle Titel von Tiffany Montague bei Google. Montague betreute die Zusammenarbeit Googles mit der NASA sowie den Google Lunar X Prize – ein Wettbewerb, der private Raumfahrt fördert

kann alles, was ein böser Hacker auch kann, tut dies aber im Sinne des Unternehmens. Er testet Computer- und Netzwerk-Systeme systematisch auf Schwachstellen, um digitale Gefahr von außen zu eliminieren

Technology Evangelist

flüstert nicht mit Pferden, sondern mit intelligent verdrahteten Apparaten. Zu Deutsch kümmert sich der Säusler um Mensch-MaschinenInteraktion und entwickelt Systeme, die serviceorientierte Roboter alltagstauglich machen

hat eine Mission: Mitarbeiter, deren größtes Ziel das kommende Wochenende ist, müssen von neuen Digital-Spielereien

Digital Prophet ist eine rare Spezies. Der bekannteste Moses der Tech-Branche ist David Shing, den Internet-Dino AOL

of Research �cellence Galactic Viceroy Affen 3, Vom Planet der y 3, schräg rechts 444432 Galax

Galactic Viceroy of Research �cellence gab‘s nur einmal, und zwar bei Microsoft. Der galaktische Vizekönig James Mickens forschte simpel daran, Internetanwendungen und Cloud-Dienste zu verbessern. Mittlerweile trägt er einen gutbürgerlichen Professorentitel und lehrt in Harvard

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Foto: shutterstock

Innovation Sherpa



e n ö h c s r De

n i e h Sc

önt und otografie sch F r e d n in g e ch. Seit B op hat die nicht? Oh do keit. Photosh ch li k ir W ie Bilder lügen d g mokratisiert dbearbeitun cht – und de a m verfälscht Bil e g r e ch n einfa Manipulatio baumer tjana Kersch Von Ta

D

ie Geschichte der Fotografie ist die Geschichte der Bildbearbeitung, der Täuschung und der Manipulation. Das abgebildete Ego – ob Ottonormalbelichter oder großer Diktator – ist selten zufrieden mit dem Bild seiner selbst. Deshalb gehört die Retusche schon bei den frühen Fotografen zum Handwerk. Photoshop war noch lange nicht erfunden, als der Amerikaner John B. Schriever sein Buch „Complete Self-Instructing Library of Practical Photography“ veröffentlichte. Bereits 1908 beschäftigt er sich mit dem „Radieren von dicken Hälsen“ und dem „Richten von schielenden Augen“. Schließlich sind Fotos noch etwas Besonderes und Teures – da möchte die Kundschaft ihre Mängel retuschiert wissen. Bald hält die Bildbearbeitung Einzug in die Politik – und damit in die Geschichte. Kein Diktator des 20. Jahrhunderts kommt ohne sie aus. In allen Kriegen dramatisieren und manipulieren Frontfotografen und Presse-Offiziere die Aufnahmen. Fotos dienen allein der Propaganda.

Im Krieg und in der Modefotografie stirbt die Wahrheit zuerst. Die Digitalisierung gibt den Manipulatoren ein neues Werkzeug an die Hand: Mussten Fotografen früher noch mühsam verschiedene Aufnahmen zusammensetzen, montieren und manchmal sogar händisch kolorieren, löst der Computer nun alle Probleme. Der Durchbruch elektronischer Bildbearbeitungsprogramme – bei denen bald Photoshop zum Standard wird – erfolgt Anfang der 80er Jahre und eröffnet Fotografen, Künstlern und Spaßvögeln völlig neue Möglichkeiten. Die sogenannte „Beautyretusche“ wird populärer denn je: Schon bald geht es nicht mehr nur um die von John B. Schriever beschriebenen „dicken Hälse“, sondern um Menschen, die sich auf Fotos selbst kaum noch ähneln. Photoshop ist das neue Maß der Dinge und macht auch Digitalkünstler groß, die mit dem Programm spielend die Mächtigen der Welt auf die Schippe nehmen. Denn Bildbearbeitung kann den schönen Schein wahren. Aber auch zerstören.


Bildbearbeitung vor Photoshop

Fotos: picture-alliance / RIA Nowosti

Eines der bekanntesten Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg wurde gleich doppelt manipuliert: Es zeigt einen Soldaten beim Hissen der sowjetischen Fahne über dem Berliner Reichstag am 2. Mai 1945

> Die Aufnahme des Frontfotografen Jewgeni Chaldei wurde mehrfach retuschiert. Die Armbanduhren an beiden Handgelenken eines Soldaten wurden entfernt – sie identifizierten ihn als Plünderer. Der dunkle Rauch über Berlin ist nachträglich hinzugefügt, er soll die Aktion heroischer wirken lassen

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Wladimir Iljitsch Lenin

Fo tos: picture-alliance / akg-images

hält im Mai 1920 eine Rede in Moskau. Rechts neben ihm stehen Leo Trotzki und Lew Kamenew

Josef Stalin sorgt später dafür, dass die beiden Revolutionäre durch Holzstufen ersetzt werden. Trotzki hatte sich in einem internen Machtkampf gegen Stalin gestellt und verloren. Die Originalaufnahme wird bis zur Ära Gorbatschow nicht mehr gezeigt

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Adolf Hitler und Joseph Goebbels treffen 1937 in Berlin-Dahlem die Filmemacherin Leni Riefenstahl (links neben Hitler) und deren Verwandte

Weil er als „Bock von Babelsberg“ bekannt ist, wird Goebbels auf Hitlers Anweisung aus dem Bild retuschiert. Der Diktator will keine Gerüchte über eine mögliche Affäre zwischen Riefenstahl und seinem Propagandaminister

Lady Di liefert dem „Mirror“ kurz vor ihrem Tod 1997 unfreiwillig das Foto, das alle wollten: Diana küssend mit ihrem Liebhaber Dodi al-Fayed

Dianas Gefährte al-Fayed dreht auf der Originalaufnahme den Kopf weg von Lady Di. Der Fotograf braucht aber ein Turtel-Foto – und spiegelt kurzerhand al-Fayeds Kopf, damit die Kuss-Szene entsteht. Für das manipulierte Bild soll der Paparazzo eine Million britische Pfund kassiert haben

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Photoshop-Satire Donald Trumps Krawatten sind wie sein Träger: laut und auffällig. Ein unbekannter Künstler verlängert sie per Photoshop ins Groteske

@TrumpsTies veralbert bei Twitter Trumps textile Mannesizer

Wladimir Putin inszeniert sich zur Ferienzeit gern als russischen Naturburschen, der mit freiem Oberkörper die Tundra durchstreift

Katzen, Bären und sogar Delfine reitet Putin souverän – zumindest in der Phantasie diverser Photoshop-Künstler

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Nach dem Bestseller „Mein größter Fehler“

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Photoshop-Beautyretusche macht aus normalen Frauen wahre Wunderwesen: Bauch und Beine werden gestrafft, Hüftspeck hat nie existiert

US-Sternchen Zendaya war auf dem retuschierten Bild gerade einmal 19 Jahre alt

Plus-Size-Model Candice Huffine kann nach der Retusche das „Plus Size“ streichen

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Model Meaghan Kausman wehrte sich gegen eine BademodenFirma, die sie dünner machte turi2 edition #5 · Digital Me


Der „Playboy“ gönnt seinem Model nicht einmal einen Bauchnabel; „Stuff“ setzt eine einbeinige Frau auf ein Surfbrett. Dafür haben andere drei Beine

Photoshop-Pannen schaffen es immer wieder in die Presse – und sogar auf Titelseiten

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Photoshop-Kunst Esther Honig schickte ein Bild von sich an 22 Photoshop-Künstler weltweit. Deren Aufgabe: Sie sollten Honig per Retusche in eine landestypische Schönheit verwandeln – mit frappierendem Ergebnis

Im Original sieht Esther Honig so aus. Aber: Andere Länder – andere Schönheitsideale

Israel

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USA

Deutschland

Italien

Ukraine

Venezuela

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Indonesien

Indien

United Kingdom

Pakistan

Griechenland

Argentinien

Marokko

Sri Lanka

Australien

Chile

Bangladesch

Vietnam

Bulgarien

Kenia

Philippinen

Serbien

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Digital Heroes Musik, Mode, Märchen: Das Netz fordert und fördert kreative Köpfe, die sich darin austoben. Wir haben neun digitale Helden um ein Selfie gebeten – und erzählen ihre Geschichten Von Tatjana Kerschbaumer, Anne-Nikolin Hagemann und Jens Twiehaus

Parov Stelar kann keine Noten lesen. Deshalb hat er den Computer zu seinem Instrument gemacht

Die Erfolgsgeschichte von Parov Stelar beginnt mit einer hängenden Schallplatte, irgendwann kurz nach der Jahrtausendwende. Billie Holliday stockt auf dem Plattenteller von Marcus Füreder, wie Stelar mit bürgerlichem Namen heißt, die gleiche Stelle läuft wieder und wieder – Musiker nennen das „Loop“. Füreder unterlegt den Vinyl-Loop in all seiner Kratzigkeit mit den minimalistischen Beats, die er damals produziert. Dieser Reibungspunkt, sagt er, zwischen dem analogen, warmen Klang und dem klinisch-digitalen, hat ihn interessiert. Parov Stelar ist einer der Pioniere des Elektro-Swing, einer Mischung aus dem Jazz der 20er und 30er Jahre mit dem Elektro von heute, zu dem man seit Mitte der 2000er in den Clubs tanzt. Auf seinem aktuellen Album mischt Stelar nicht nur Swing, sondern auch Blues unter die Beats. Was er da

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macht, nennen Musiker Sampling: Teile bestehender Musikstücke werden am Computer zusammengefügt – zu neuen Songs. „Das funktioniert spontan, nach Gehör und Gefühl“, sagt Stelar, „etwas anderes könnte ich auch gar nicht.“ Er spielt kein Instrument, kann keine Noten lesen. „Mein Instrument ist der Computer.“ Vor ein paar Jahren hat er noch hinterhergeschoben: „Der Computer ist kein Live-Instrument.“ Heute glaubt er, mit solchen Aussagen vorsichtig sein zu müssen. „Ständig gibt es neue Programme, die alles verändern können. Die neuen Rockstars sind elektronische Künstler mit Laptop.“ Stelar selbst tritt immer mit Live-Musikern auf, vor bis zu 25.000 Menschen. Er und sein Laptop stehen dann ganz hinten, im Nebel, ein Schattenriss ohne Gesicht, die Soli spielen andere. Manchmal, sagt Parov Stelar, bedauert er seinen Sohn, der gerade in die digitale Welt hineinwächst. Er selbst, Jahrgang 1974, sei Teil der so ziemlich letzten Generation, die ein Leben ohne Computer überhaupt kennt. „Wie 14-Jährige heute am Computer komponieren, das ist unglaublich. Aber gleichzeitig verkaufen wir so viel Vinyl wie nie – und zwar an junge Leute. Das heißt, da ist eine Sehnsucht. Und eine Sehnsucht entsteht nur da, wo etwas fehlt.“ turi2 edition #5 · Digital Me


Stelar komponiert Musik aus Klicks. Videos mit seinem ElektroSwing wurden bis heute 150 Millionen Mal angesehen

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Sie buchen deshalb bereits Firmenkurse – bei einem digitalen Anbieter, der mit äußerst analoger Wolle und Farbe vorbeikommt.

Lina Timm denkt von Berufs wegen digital und quer. Sie fördert mit dem Media Lab Bayern innovative Journalismus-Projekte

Sie fürchtet nichts Neues, sondern eher Langeweile. „Neues zu erschaffen finde ich immer spannend. Ich muss es dann aber nicht zwingend im Detail umsetzen.“ Auch Timm kommt vom Alten nicht ganz weg. Ihre Kolumne in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ schreibt sie weiter. Sie klingt, als wisse sie selbst nicht so genau, warum sie noch immer in einer Zeitung Apps erklärt. Eine PrintGegnerin sei sie nicht, sagt sie. Gedrucktes ergebe für den Journalismus nur eben oft keinen Sinn – wenn man es doch digital machen könne. Das Schöne an ihrem Job: Timm darf jeden Tag sagen, was viele junge, ungeduldige Medienmacher denken. Darf „Technologie umarmen“, wie sie das nennt. Kann Projekte in drei Wochen durchsetzen, ohne sich dreimal beim Vorstand rückversichern zu müssen – auch nicht bei der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien, die ihr Media Lab trägt. Kann jeden Tag für digitale Veränderung leben: „Kluge Sprüche in den Raum werfen und dann nix leisten – solche Leute kann ich nicht ab.“

Anna Alex &Julia Bösch wollen Männern klassisches Online-Shopping nicht zumuten. Ihre Lösung sind maßgeschneiderte Päckchen vom Stil-Berater

Lina Timm ist die erste Autorin, die eine pinke Überschrift in den „Lübecker Nachrichten“ platziert. Es ist 2006, Abiturientin Timm neu in der Lokalredaktion Ostholstein Süd. Hier ist es eine Meldung, wenn das örtliche Hotel ein Barbie-Themenzimmer eröffnet. Timm fährt hin, kommt mit einem FarbFlash zurück in die Redaktion und sagt: „Mein Text braucht eine pinke Überschrift.“ Sie bohrt so lange, bis ihr Redakteur alle Layout-Regeln über Bord wirft. Seit diesem Tag denkt Timm von Berufs wegen quer. Eine pinke Überschrift ist keine Referenz für den Lebenslauf. Doch sie beschreibt gut, was Lina Timm antreibt: Neues anstoßen, alte Gewohnheiten durchbrechen. Damals kommt ein altgedienter Redakteur ins Schwitzen. Heute rücken Chefredakteure und Verlagsbosse unbequem auf ihren Stühlen hin und her, wenn Timm als Leiterin des Media Lab Bayern auf der Bühne steht und ihnen die Leviten liest. Sie ist eine gefragte Referentin – weil sie zwar schmal aussieht, aber ein Schwergewicht in Sachen „Zukunft der Medien“ ist. Sie studiert Germanistik und Soziologie, besucht die Deutsche Journalistenschule, aber erst im Media Lab passt alles perfekt. Timm, die Querdenkerin, Jahrgang 1987, darf Medien-Startups bei ihren ersten Schritten an die Hand nehmen. Im Media Lab berät sie Gründer, fördert diese mit Geld und feilt mit ihnen an Geschäftsmodellen. Ihr praktischer Blick und ihre klaren, optimistischen Worte sind gefragt. Aber wenn sie auf Podien manchmal vor älteren Verlagsmitarbeitern steht, die eine Wand aus „Wollen wir nicht“, „Kennen wir nicht“, „Können wir nicht“ aufbauen, muss sie mit dem Kopf schütteln, bis der braune Pferdeschwanz wippt und der Hals schmerzt. Beim Newspaper Congress in Wien sagt ein Besucher nach ihrer Präsentation: „Ich finde alles, was Sie sagen, falsch.“ Da verliert Timm kurz die Farbe, aber sie fängt sich schnell. Sie kennt das inzwischen: Wenn Neu-Macher und Alt-Verleger aufeinander treffen, geht es oft nicht mehr weiter. Dann ist Angst im Spiel, Unverständnis, häufig pure Verweigerung. An diesem Punkt brodelt es in der norddeutsch-ruhigen Timm. Immer wieder hört sie Argumente, warum es mit digitalen Innovationen so schwierig ist. Doch genau diese Innovationen sind die Rettung für die angeschlagene, aber noch immer erstaunlich arrogante Medienbranche. Daran glaubt Timm fest.

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Holländer mögen‘s bunt, Schweden brauchen besonders lange Hosen, Deutsche sind nicht hilflos, aber eher shoppingfaul. Seit 2012 kleiden Anna Alex und Julia Bösch mit ihrem Unternehmen Outfittery Männer ein. Das Konzept: Nach einer Mail- oder Telefonberatung durch einen Stylisten schickt Outfittery ein Päckchen mit Klamotten, die dem Kunden passen und gefallen könnten. Und die Männer sind dankbar. Im Berliner Büro des Startups hängen ganze Pinnwände voller Lobeshymnen, weil Outfittery etwa den perfekten Hochzeitsanzug herausgesucht hat. „Es ist nicht so, dass sich Männer nicht alleine anziehen können“, sagt Anna Alex, eine der Outfittery-Gründerinnen. „Aber die Auswahl erschlägt sie regelrecht. Deshalb haben viele keine Lust, einkaufen zu gehen.“ Und weil sogar das Internet mittlerweile vor Angeboten überquillt und Mann beim Selber-Klicken eben doch die falsche Größe bestellt, sollen maßgeschneiderte Outfittery-Boxen helfen. Online oder per App kann sich der Kunde durch verschiedene Styles klicken, die er am ehesten tragen würde, Maße und Schuhgröße angeben, anschließend per Mail oder telefonisch mit einem der Berater kommunizieren. „Die führen ein lockeres Gespräch und hören viel heraus. Wenn ein Mann sagt, dass er viel Sport macht, hat er oft kräftige Oberschenkel – dann packen wir die passende Hose ein. Wenn einer turi2 edition #5 · Digital Me


„Manche der anderen Eltern haben aber nicht mal ein Smartphone“, sagt sie. Schlimm findet sie das zwar nicht, trotzdem macht sie sich ab und an Gedanken, „wie das in Zukunft mit der Digitalkompetenz dieser Kinder aussehen wird“. Das Internet geht wirklich nicht mehr weg, Kühne hat das mehr verinnerlicht als andere. Es gibt noch viel zu tun.

Die Marmeladenoma und ihr Enkel Janik nutzen das Netz für ihre Märchenstunden. Janik kümmert sich um die Technik, Oma liest vor

Altes Kulturgut, neu erzählt: Die Marmeladenoma entstaubt Märchen auf einer digitalen Plattform Auch Buchhandlungen haben die Marmeladenoma mittlerweile angefragt, auf ein Vorlesestündchen – kein Wunder, 2017 hat sie gemeinsam mit Enkel Janik den deutschen Webvideopreis in der Kategorie Livestream gewonnen. Auf Events schreibt sie Autogramme, eine Oma zum Anfassen eben. Nur ihren Nachnamen hält sie strikt geheim. Fans, die an der Haustür klingeln – das wäre ihr dann doch ein bisschen zu viel.

Nora Abousteit bringt über eine Plattform handarbeitswütige Amerikaner zusammen. Google und Facebook buchen ihre Angebote

Wenn Oma Helga, genannt „Marmeladenoma“, liest, wird es ruhig in deutschen Kinder- und Jugendzimmern. Samstagabend, 20 Uhr, der PC läuft, die Gaming-Plattform Twitch ist geöffnet – aber Strategie- und Ballerspiele sind gerade zweitrangig. Stattdessen trägt die Marmeladenoma mit sanfter Stimme Märchen im Livestream vor: Hans im Glück, Schneewittchen, Aschenputtel, Der Wolf und die sieben Geißlein. Die Idee zu Omas Märchenstunde auf einem Gamer-Portal hatte Enkel Janik, 15 Jahre alt. Er kümmert sich auch darum, dass Oma wirklich nur lesen muss – anstatt sich mit digitaler Technik herumzuplagen. Sogar der Name „Marmeladenoma“ kommt von ihm. Liegt nahe, schließlich hat Oma Helga immer tolle Konfitüren eingekocht. Und Märchen, ja, Märchen hat sie schon immer vorgelesen, erst ihren Kindern, dann den begeisterten Enkeln. Darunter Janik. Warum sollten das nicht auch andere hören wollen? „Willkommen auf der Märcheninsel bei eurer Marmeladenoma und Enkel Janik“ – so beginnt jedes Video, jeder Stream. Die Marmeladenoma sitzt in einem gemütlichen Zimmer nahe Karlsruhe, auf dem Lesetisch stehen MatroschkaPuppen, im Hintergrund stapeln sich Märchenbücher. Beim „Gestiefelten Kater“ muss sie husten, egal, hier ist nichts gestellt. Wie bei einer richtigen Oma eben. „Für manche bin ich vielleicht auch eine Ersatz-Oma“, sagt die 86-Jährige. Viele Kinder und Jugendliche hätten gar keine Oma mehr, die ihnen vorlesen kann. Und vermissen das. „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Hans Christian Andersen liest die Marmeladenoma besonders gern, es ist ihr Lieblingsmärchen. Auch die Nutzer wünschen es sich oft. Die Zuschauer sagen, das Vorlesen habe etwas Beruhigendes, ein 15-Jähriger schrieb der Marmeladenoma, dass er nach ihrer Märchenstunde viel besser einschlafen könne. Aber auch Ältere lauschen den Geschichten – die Marmeladenoma kriegt sie alle, egal ob zehn- oder achtzigjährig. Manchmal erzählt Oma auch Geschichten aus ihrem Leben oder liest Texte vor, die sie selbst geschrieben hat. Andere Bücher gibt es nie, das Urheberrecht würde Probleme machen. turi2 edition #5 · Digital Me

Bei Facebook wird gestrickt, bei Google gehäkelt und bei Tumblr Kalligraphie geübt. Nein, die Digital-Riesen planen keinen Wechsel ihrer Geschäftsmodelle. Aber sie haben für ihre Mitarbeiter jüngst den Do-it-yourself-Anbieter CraftJam eingeladen, gegründet von der Wahl-New-Yorkerin Nora Abousteit. Die ehemalige „Burda Style“-Frau liebt Handarbeiten und hat 2012 bereits Kollabora aufgebaut, eine Online-Community für Selbermacher. Seit 2016 heißt ihr neues Projekt CraftJam. „Es ist die logische Folge aus Kollabora“, sagt Abousteit. Mit CraftJam bietet Abousteit reale Handarbeitskurse an, verteilt über New York City. Sie sind online buchbar, kosten zwischen 45 und 200 Dollar und befriedigen die Sehnsucht der gestressten Städter nach Haptik. „Do-it-yourself-Liebhaber sind zwar online, wollen sich aber auch offline treffen“, sagt Abousteit. CraftJam stellt den Handarbeitslehrer und das Material, nur „ein Getränk seiner Wahl“ muss der Teilnehmer selbst mitbringen. Zwölf Personen passen in einen Kurs, in dem Makramee geknüpft oder Aquarelle gemalt werden. Jüngst bespaßten Abousteit und ihre Lehrer – genannt „JamMaster“ – zwölf Abende lang Stick-, Strick- und Stempelwütige im Bryant Park in Manhattan. Das fördert die Mundpropaganda, Abousteit ist stolz darauf, dass CraftJam bisher „keinen Dollar für Marketing ausgegeben hat“. Stattdessen schwärmen die „New York Times“ und die Yelp!-Community von den Kursen. Grund sei die „Experience Economy“, glaubt Abousteit, zu Deutsch: Auch überzeugte Digitalistas wollen bei manchen Aktivitäten zurück in die physische Welt. Dass Handarbeit beruhigend wirkt und bildschirm-gestresste Mitarbeiter erden kann, haben durch CraftJam auch Facebook und andere Internet-Riesen aufgeschnappt.

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Frieder Nake schafft Kunst aus Algorithmen. Für das Selfie musste er sich trotzdem erst einmal ein Smartphone leihen

Ohne Computer wäre Nake wohl kein Künstler geworden. Von Hand zeichnen könne er nicht. Er hat mal überlegt, sich das beibringen zu lassen, an der Volkhochschule Bielefeld zum Beispiel, wo ihn niemand erkennt. Sein Stil, glaubt er, wäre wohl impulsiv gewesen, ohne viele gerade Linien. Das Gegenteil einer Zeichnung des Computers. Nake hat es bleiben lassen.

Fränzi Kühne weiß, dass das Internet nicht mehr weggeht. Deshalb berät sie mit ihrer Agentur TLGG digitalisierungswillige Unternehmen

Frieder Nake ist promovierter Mathematiker, Informatiker und Künstler. Das alles ist für ihn untrennbar miteinander verbunden: Seit mehr als 50 Jahren macht er Kunst mit Computern. 1963 beauftragte ihn ein Professor der Technischen Hochschule Stuttgart, ein Programm für einen PC zu schreiben, der eine Zeichenmaschine steuerte. „Ich hatte keine Ahnung, wie das geht“, sagt Nake. Aber er lehrte den Computer Linien zeichnen. Und entdeckte dabei den Künstler in sich. Nakes Werke sind abstrakt, Linien, Quadrate, Geradenscharen. Visualisierte Matrizenmultiplikationen in leuch­ tenden Farben: „Die Ästhetik der Computerkunst kann man nicht erklären. Nur fühlen.“ Was Nake daran fasziniert, ist das Spannungsfeld: Die Kunst verlangt Intuition und Interpretierbarkeit, der Algorithmus Eindeutigkeit. „Jedes Werk aus dem Computer besteht also aus einer Ober- und einer Unterfläche“, sagt Nake, „die Oberfläche ist das, was wir sehen, was wir interpretieren. Die Unterfläche ist der Algorithmus, den wir dem Computer gegeben haben, damit er daraus die Oberfläche produziert.“ Frieder Nake lehrt als Professor an der Kunsthochschule Bremen, davor war er in Wien, Oslo und Basel. Er hat Ausstellungen auf der ganzen Welt. Statt von „Digitalisierung“ spricht er aber lieber von einer „algorithmischen Revolution“, die gerade stattfindet: „Alles muss und soll in Algorithmen übersetzt, also berechenbar gemacht werden.“ Mathematiker wissen, dass das nicht geht. Nake hat sich sogar bewusst gegen ein Smartphone entschieden – und lieh sich eines, um für turi2 das erste Selfie seines Lebens zu machen. Als junger Mann hat er lange geglaubt, dass man auch die Kunst berechnen könne. Er entwickelte ein Programm für „generative Ästhetik“, das nach den Eingaben für Überraschungs- und Ästhetikwert, gewählten Farben und anderen Voreinstellungen eigenständig Werke generierte. „Das war eine Programmierleistung, auf die ich stolz bin – aber zum Scheitern verurteilt.“ Denn es gibt etwas, das nicht berechen­ bar ist: das Empfinden von Künstler und Betrachter, mit denen ein Werk erst zum Kunstwerk wird. Die Informatik, sagt Nake, beschreibt Mengen, nicht einzelne Ereignisse. Algorithmisierte Kunst zielt deshalb nicht auf ein einzelnes Werk zum An-die-Wand-Hängen, sondern auf die Unendlichkeit der Werke. „Es gibt keine Meisterwerke mehr. Das künstlerische Werk besteht aus dem gesamten Prozess der Bildentstehung.“

Nake zeigte seine Werke erstmals 1965 in Stuttgart. Die Schau war die dritte Ausstellung von Computerkunst weltweit 156

Digitalisierung funktioniert am besten diktatorisch, findet Fränzi Kühne. Die Mitgründerin der Kreativagentur „Torben, Lucie und die gelbe Gefahr“, kurz TLGG, ist zwar eine coole Socke mit Converse Chucks und zerrissenen Jeans – aber bei Digitalisierungskonzepten für Unternehmen hört der Spaß auf. „Das muss top-down entschieden werden“, sagt sie. Sprich: Der Vorstand muss allen Mitarbeitern einimpfen, dass die Zukunft digital ist. Dass dieses Internet einfach nicht mehr weggeht. Und um den Vorstand dazu zu bringen – und ihn auf seinem Weg zu unterstützen – gibt es Kühne und ihre Kollegen. Kühne und ihre zwei TLGG-Mitgründer Christoph Bornschein und Boontham Temaismithi starten ihre Mission im Jahr 2008. Zu Beginn nennen sie ihr Unternehmen „Erste Social Media Agentur Deutschlands“ und bringen Kunden bei, wie man einen Facebook-Account anlegt und bespielt. Heute braucht für so etwas niemand mehr einen Dienstleister. „Wir sind jetzt eher eine Mischung aus digitaler Unternehmensberatung und Kreativagentur“, sagt Kühne. Sie selbst balanciert zwischen beiden Feldern. Im TLGGBüro am Berliner Paul-Lincke-Ufer gibt es sowohl ein Bällebad als auch nüchterne Meeting-Räume, in denen ruhig gearbeitet werden kann. Was ihr mehr liegt? „Ich sehe mich da in der Mitte“, Kühne zögert. TLGG braucht kluge Köpfe, die ungewöhnliche, lustige, verrückte Ideen haben. Mittlerweile arbeiten in der Agentur aber auch Consultants, die sich im Bällebad eher weniger wohlfühlen würden. Kühnes Strategie geht auf. Im Juni 2017 wählt die freenet AG die Digitalexpertin in den Aufsichtsrat. Mit ihren 34 Jahren ist sie damit Deutschlands jüngste Aufsichtsrätin in einem börsennotierten Unternehmen. Satte 99,72 Prozent der Aktionäre vertrauen auf die junge Mutter, die nur zwei Wochen nach der Geburt ihrer Tochter wieder bei TLGG am Schreibtisch saß. Die Tochter geht mittlerweile in die Kita, eine Kita mit App, was Kühne besonders praktisch findet: Dass man das Kind sogar per Klick krank melden kann, ist ein bisschen digitaler Luxus. turi2 edition #5 · Digital Me


einen Hund hat, mit dem er viel draußen ist, macht eine wetterfeste Jacke Sinn.“ Ganz billig ist das nicht – ein komplettes Outfittery-Paket changiert im Wert zwischen 500 und 1.200 Euro. Im Schnitt behalten Kunden Artikel für 200 Euro, bestellen dann aber immer wieder. Ist ein Mann zufrieden mit dem Stylisten, der ihn betreut, kann das auch knapp per Mail gehen: „Es wird kalt, schickst du mal was?“ Die Größen und Vorlieben des Kunden sind ja bereits abgespeichert. Acht europäische Länder versorgen Alex, Bösch und ihre rund 300 Mitarbeiter bereits mit Modeboxen. Sie machen kein Geheimnis daraus, dass ihr Startup vor allem durch mehrere internationale Investoren finanziert wird und als Zielgruppe finanziell gut gestellte „Businessmänner ab 30“ anvisiert. Profitabel ist Outfittery trotz 400.000 Kunden aber noch nicht. Trotzdem oder gerade deshalb gäbe es noch zwei Märkte, in die sich die Gründerinnen eine Expansion gut vorstellen könnten: Frankreich und Großbritannien.

in die Buchhandlung gehen und sich da liegen sehen. Zur Sichtbarkeit gehört eben auch die Möglichkeit, ein Selfie mit dem eigenen Buch zu machen.“ Manche Bücher drucken Beck und Carsten mittlerweile auch, ein bisschen um des lieben Friedens willen. An ihrem E-Book-Konzept halten sie aber fest, weil sie es für manche Formate schlicht besser finden. Jetzt müssen nur noch die Buchhändler ihre Angst ablegen.

Enno Park nutzt die Digitalisierung körperlich. Ein Implantat lässt ihn besser hören denn je – und macht ihn so zum Cyborg

Zoë Beck verlegt mit CulturBooks vor allem E-Books. Und erklärt Buchhändlern immer wieder, dass ein E-Reader nicht beißt

Die Sache mit den E-Books ist gar nicht so einfach, sagt Zoë Beck. Seit 2014 arbeiten sie und Mitgründer Jan Karsten mit ihrem Verlag CulturBooks daran, die Deutschen fürs digitale Lesen zu begeistern. Ihr Projekt startet als reiner E-BookPublisher, denn „es gibt tausend Gründe, warum etwas nicht gedruckt wird“, so Beck. Ein E-Book kann dagegen auch kurze Texte, Sammlungen und erweiterbare Formate schnell einem Publikum zugänglich machen. Beck und Karsten trauen sich und bieten anspruchsvolle Literatur als „E-Book only“ an. Ein logischer Schritt: Beck, selbst passionierte Leseratte, liest ohnehin fast nur noch digital. Und sie fände es schade, wenn Bücher versanden, nur weil sie keinen klassischen Druckstandards entsprechen. Ein kleines Problem bleibt, das merken die beiden Literaturwissenschaftler schnell: Ein E-Book hat kein Schaufenster. Besonders die kleinen Buchhandlungen scheuen sich vor Kooperationen, öffnen sich wenig für die neue Art des Publizierens. „Der Buchmarkt in Deutschland ist noch nicht so weit“, sagt Beck. Aufgeben? Keine Option. Stattdessen investiert CulturBooks viel Energie in Social-Media-Kampagnen, arbeitet mit Bloggern zusammen und bietet auch noch dem skeptischsten Buchhändler einen Info-Abend mit Lesung an. „Da erklären wir dann auch, dass ein E-Reader nicht beißt.“ Dabei gibt es Genres, die sich als E-Book wunderbar verkaufen. „Erotik ist so ein Fall, oder auch bestimmte Thriller“, erklärt Beck mit Blick auf die Amazon-Download-Zahlen. Aber: „Sobald es literarisch wird wie bei uns, wird es zäh.“ Überrascht ist sie manchmal auch von jüngeren Autoren, die ihr Werk doch lieber gedruckt sehen wollen. „Das ist vielen wichtig, dass sie turi2 edition #5 · Digital Me

Enno Park ist Deutschlands bekanntester Cyborg. Was das ist? Das würde Park seiner Oma so erklären: „Ein Mensch, der technische Systeme so nutzt, dass er mit ihnen verschmilzt.“ Er selbst hat ein Cochlea-Implantat im Ohr, mit dem er nach 20 Jahren Beinahe-Taubheit heute besser hören kann als je zuvor. Eine medizinische Entscheidung, die gleichzeitig seine Wahrnehmung erweitert. Andere Cyborgs lassen sich Magnete in die Fingerspitzen setzen oder Chips unter die Haut schieben. Entscheidend, sagt Park, sei aber nicht, ob sich im Körper Technik befindet – sondern die Art ihrer Nutzung: „Verwende ich ein Gerät als Werkzeug, also zum Beispiel einen Hammer, um einen Nagel einzuschlagen? Oder verändert die Technik meine Welt, wird sie ein Teil davon?“ Sein Lieblingsbeispiel dafür ist das Smartphone. Und die Panik, wenn man es nicht mehr findet. Logisch, sagt Park. Es fühlt sich an, als würde ein Teil von einem selbst fehlen. Es gibt mehr Cyborgs als wir ahnen. Darum hat Park den Verein Cyborgs e.V. gegründet. Denn die Verschmelzung von Mensch und Technik erfordert eine öffentliche Debatte. „Wir müssen diskutieren, welche Auswirkungen das Thema in medizinischer, ethischer und politischer Sicht hat“, sagt Park, „und wir müssen überlegen, wie wir damit gesamtgesellschaftliche Probleme lösen können.“ Glaubt man Park, ist die Gesellschaft ein einziger großer Cyborg. „Wir sind in allen Lebensbereichen so verstrickt mit der Technik, dass es ein ‚Zurück zur Natur‘ nicht geben kann. Auch, weil die Technik seit Beginn der Zeit Teil der Natur des Menschen ist.“ Ältere akzeptieren das oft leichter als Junge – mit einer künstlichen Hüfte weiß man, dass diese Verschmelzung nichts Schlimmes sein muss. Park selbst hätte gern noch ein Implantat, das seine Körperwerte überwacht. Und ein Namensgedächtnis, das in sein Hirn eingebaut wird.

Enno Park trägt die Digitalisierung im Körper – und hätte gern noch mehr Implantate 159


Kein Ding für den King Früher wussten Erwachsene Bescheid und Kinder lernten von ihnen. Heute läuft es andersrum, weiß Katrin Wilkens, die drei digitale Besserwisser in die Welt gesetzt hat

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ollte ich mich mit meinen Eltern messen, ging das nur mit Trotz. Es gab nichts, was sie nicht besser konnten. Nicht nur ein bisschen besser, sondern eindeutig besser. Mein Vater konnte auf einem Abakus schneller rechnen als ich mit einem Taschenrechner, meiner Mutter konnte ich zu jedem Referatsthema ein Stichwort zuwerfen und sie zauberte ein Manuskript daraus. Selbst Oma übernahm meine Häkelarbeiten – der Satz „Mach` es nicht zu gut, sonst merkt das Frau Teßmer“ ist Teil unseres Familiengedächtnisses geworden. Wenn ich nachdenke, konnten meine Eltern nur zwei Dinge schlechter als ich: Weitsprung und GummiTwist. Heute sitze ich am Computer, schreibe, und mein Sohn zwitschert rüber:

„Denkst du dran, zwischenzuspeichern? Du ärgerst dich doch, wenn die Texte verlorengehen.“ Mein Sohn ist 11! Und ein Digital Native. Es dauerte eine Woche, bis er sein Handy bedienen konnte, während mein Mann und ich noch immer auf den Bildschirm blinzeln, als wären die Apps auf Mandarin. Weitsichtigkeit und Digitaldemenz sind ein fieser Zwei-Phasen-Kleber auf dem Weg ins Abseits der digitalen Zivilisation. Vielleicht ist das ein Grund, warum viele Väter Kapuzenpullis tragen, wenn sie auf Elternabenden erscheinen. Weil sie wissen, dass sie abgehängt sind, aber durch den Berufsjugendlichkeitspulli ausdrücken, dass sie nicht bereit sind, das zu akzeptieren. „Wieso willst du mit deinen Kindern konkurrieren,

Als Kind konnte Katrin Wilkens nur Gummi-Twist besser als ihre Eltern. Heute bekommt sie Computer-Tipps vom eigenen Sohn.

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wer schneller am Handy ist? Das muss scheitern“, beruhigt mich mein Mann. Was mich aufregt. „Weil ich einmal im Leben Klassenerster sein will, bevor der Vorhang sich wieder senkt“, schnaube ich. „Können wir eine Runde auf dem Abakus rechnen? Oder eine Partie Scrabble spielen?“ Ich könnte Chiaroscuro legen. „Die sind schneller mit ihrem Handy als du mit dem Abakus, weil die die Zahlen einsprechen können. Und einen Begriff aus der Renaissance braucht kein Mensch mehr – den kann er googeln.“ „Was ist Chiaroscuro“, fragt meine Jüngste, und bevor ich Luft geholt habe, antwortet Google für mich. „1. Islamischer Stadtkern von Kairo, 2. Pistenkuh, 3. Persischer Atomphysiker“. Bildung ist in Zeiten von Google eine Option, keine Notwendigkeit. Zum ersten Mal in der Geschichte ist der Mensch eher im Nachteil, wenn er mehr weiß als die anderen. Heute treiben Gleichzeitigkeit, Vernetzung und Eigenliebe die Evolution voran. Das lernt man, wenn man jeden Tag eine halbe Stunde „sein Limit darf“, so nennen wir die Zeit, in der die Kinder daddeln dürfen, ohne dass ich sage: „Tut doch mal was Sinnvolles.“ Die Kinder verziehen sich in den Garten, und als ich sie mit Stöcken spielen sehe, erklärt mir die Tochter: „Guck mal, was ich gebastelt habe: einen Selfie-Stick.“ Unsere Eltern haben sich aufgeregt, wenn Waffen im

Katrin Wilkens ist 45 Jahre alt, Journalistin und JobBeraterin (i-do-hamburg.de)

Haus waren. Pershing II war die Inkarnation des Bösen. Heute regen wir uns auf, wenn das Internet höhere Autorität besitzt als jedes menschliche Wesen. „Mama, du hast heute Yoga“, unterbricht mein Sohn. „Steht in unserem Familienplaner.“ Das Schlimme an der Digitalisierung ist, dass sie so oft recht hat. Und während ich meine Übungen grätsche, fragt mein Sohn: „Mama, warum gehst du eigentlich noch zum Yoga, es gibt doch dafür auch Apps?“ „Weil ich alt bin, mein Sohn, verbraucht und nicht mehr up to date“, antworte ich; alt, verbraucht und nicht up to date. Er tröstet mich: „Das ist ja das Schöne an euch Eltern, dass man immer was besser kann als ihr. Wie war das denn früher bei dir und deinen Eltern?“ „Genauso, mein Schatz, ganz genauso.“

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Die Schnüffler Beweisfotos per iPhone, Kameras in Grabgestecken und GPS-Tracking: Privatdetektive schöpfen alle Möglichkeiten der Digitalisierung aus. Auf Spurensuche mit zwei Ermittlern Von Tatjana Kerschbaumer

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n einem verregneten Sommerabend rollt Margarethe S.* mit ihrem feuerwehrroten Kia auf den Parkplatz des Haslinger Hofs in Bad Füssing. Sie rangiert fünf Minuten, bevor sie sich erfolgreich zwischen zwei silberne Kombis gequetscht hat, ein letztes Mal quietscht der Scheibenwischer, Frontscheinwerfer und Rücklicht gehen aus. Margarethe S. öffnet die Fahrertür, dazu fast synchron einen schwarz-weiß karierten Regenschirm. Sie wuchtet sich aus dem Auto – ganz schlank und agil ist die Ü-70-Jährige auch nicht mehr – , hüllt sich in ein kirschfarbenes Regenmäntelchen und tippelt auf Gesundheitssandalen langsam zum Eingang. Zuerst wird sie im Restaurant ein paniertes Schnitzel essen, danach am Rand einer der vielen Tanzflächen auf einen geeigneten Flirt für die Nacht warten. Bad Füssing ist ein Kurort in Niederbayern; der Haslinger Hof so etwas wie das Rentnerparadies, um einen Kurschatten aufzureißen. Dass sie bereits einen Schatten hat, ahnt Margarethe S. nicht. Ihr Schatten trägt ein fein gewebtes, graues Shirt und beiges Leinensakko, ist ihr in einem dunklen Mercedes Automatik gefolgt und hört auf den Namen Peter-Franz Graf von Schwerin. Er ist nicht zur Kur hier, er ist nicht in romantischer Eroberungsstimmung, er hat kein Interesse an der alten Dame als Person. Er interessiert sich ausschließlich für den Schmuck, den Margarethe S. trägt. Dabei ist er noch nicht mal ein Dieb. Bewaffnet mit einem iPhone folgt von Schwerin dem Objekt seiner Begierde durch die Drehtür, die ins Innere der riesigen Eventlocation führt. Es riecht nach Bratenfett und Oma-Parfum, überall stehen schwatzende Kurgäste in Bundfaltenhosen und Anglerwesten herum. Kurzer, suchender Blick, ah – da ist sie! Margarethe S. legt ihr Jäckchen ab. Von Schwerin sieht es funkeln: Perlenohrringe, Kette mit schwarzem Stein, goldener Fingerring. Unbemerkt drückt er das erste Mal ab, zoom auf die Kette, klick; es wirkt, als hätte er im Hintergrund ein Landhausregal mit kitschig bemalten

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Tonhasen fotografiert. „Das fällt überhaupt nicht auf“, erklärt er schmunzelnd. „Heute hat doch jeder ein Handy und spielt ständig damit herum.“ Peter-Franz Graf von Schwerin ist seit 24 Jahren Privatdetektiv und wird Margarethe S. in den kommenden drei Wochen beschatten. Drei Wochen – so lange bleibt sie zur Kur, das hat er von seinem Auftraggeber erfahren: dem ehemaligen Lebensgefährten von Margarethe S. Dem Ex ist es herzlich egal, ob seine Verflossene im Haslinger Hof amouröse Erfolge feiert. Nicht egal ist ihm der Schmuck, den sie ihm angeblich gestohlen hat. Er hat von Schwerin Bilder der signifikanten Stücke geschickt; Perlen, Silber und Gold mit Diamantbesatz sind seit der Trennung spurlos verschwunden. Und wo ließe sich ein schickes Collier besser ausführen als zum Tanztee in Bad Füssing? Von Schwerin hofft, „dass die Dame auch mal wechselt“, das heißt, dass er möglichst viele Fotos von Margarethe S. mit verschiedenen Schmuckstücken machen kann.

Früher gab es keine Internetrecherche, kein Google Maps – die Arbeit war aufwändiger „Die Tatbestände sind eigentlich immer gleich, aber die Aufklärung ist innovativer geworden“, sagt Hans Schiesser. Auch der stämmige Ex-Soldat arbeitet seit 19 Jahren als Privatermittler, seine Detektei hat ihren Sitz in einem unauffälligen Einfamilienhaus in Adelsried nahe Augsburg. Gestohlen, unterschlagen und betrogen wurde schon immer – nur war es früher technisch wesentlich aufwändiger, einem Verdächtigen etwas nachzuweisen. Die Kameras waren größer und damit auffälliger, es gab kein Google Maps oder Google Earth, um sich vorab mit den Lokalitäten vertraut

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Detektive: Zahlen und Fakten

1860 gilt als das Geburtsjahr der ersten deutschen Detektei, dem „Erkundungsbüro zur Wahrung kaufmännischer Interessen für Stettin und die Provinz Pommern“. Gründer war der Makler S. Salomon

1896

organisierte sich in Berlin der erste deutsche Detektiv-Zusammenschluss, der „Reichsverband Deutscher Detektiv-Institute“

1946 verbot die DDR sowie alle weiteren Ostblock-Staaten den Beruf des Detektivs

4.000-5.000

Personen arbeiteten laut Schätzungen des „Bunds internationaler Detektive“ im Jahr 2017 als Privatermittler in Deutschland. Aus der Statistik ausgenommen sind Kaufhaus-Detektive

55

bis 120 Euro beträgt der Stundensatz eines Privatdetektivs durchschnittlich. Dazu kommen Nacht-, Wochenend- und Feiertagszuschläge von bis zu 100 %

2000 wurde Agatha Christie als „beste Kriminalautorin des Jahrhunderts“ ausgezeichnet. Ihre Detektiv-Figuren Hercule Poirot und Miss Marple gelten bis heute als die populärsten der Welt

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zu machen, nicht einmal eine simple Internetrecherche zur Zielperson war möglich. Die Digitalisierung hat die Möglichkeiten von Privatdetektiven deutlich erweitert. „Wenn wir früher irgendwo eine Überwachungskamera installiert haben“, sagt Schiesser, „hing ein Videorekorder dran, der 96 Stunden aufzeichnen konnte. Heute steckt eine Festplatte mit 2 Terabyte dahinter. Das reicht für ein halbes Jahr.“ Schiesser und von Schwerin stehen mittlerweile die gesamten Wunder der Technik zur Verfügung, um Verdächtige zu überführen. Entweder sie können ganz ungeniert mit dem Smartphone fotografieren – was ohnehin jeder macht. Oder sie arbeiten mit Geräten, die so klein sind, dass sie niemandem auffallen. Schiesser hat einmal auf dem Nordfriedhof Augsburg recherchiert, es ging unter anderem um Betrug bei Grabauflösungen. Er war selbst vor Ort, klar, aber er hat auch versteckte Kameras in Grabgestecken installiert. Mit einem kastenförmigen Kodak-Apparat wäre das nur schwer möglich gewesen.

»Männer sind leichter zu überführen, weil sie mehr angeben. Frauen sind diskreter« Und erst GPS! Schiesser kennt sich aus: „GPS gibt es schon relativ lange, die Technik wurde vom US-Militär entwickelt. Mit den alten Geräten konnte man aber niemanden direkt verfolgen. Man musste sie danach auslesen, um zu sehen, wo jemand gewesen war.“ Heute genügt es, ein kleines Kästchen an einem Auto anzubringen, um in Echtzeit zu erkennen, wohin sich der Verdächtige bewegt. Das ist allerdings nur in ganz bestimmten Fällen legal. Private Autos sind tabu, nur manchmal ist zum Beispiel das Tracking von Firmenwagen erlaubt – etwa wenn der Auftraggeber der Arbeitgeber der Zielperson ist. Laien wissen das oft nicht. „Als das aufkam, meinte jede geprellte Ehefrau, sie müsste ihrem Mann einen Sender unterjubeln“, bilanziert Schiesser. In solchen Fällen verneint er und rät zu einer klassischen Observation. Mann gegen Mann, Auto folgt Auto. Mit geprellten Ehefrauen – und -männern – kennt sich auch Peter-Franz Graf von Schwerin aus. Rund die Hälfte seiner Fälle dreht sich darum, untreue Partner zu beschatten. Er glaubt: „Männer sind leichter zu überführen, weil sie mehr damit angeben. Frauen sind da viel diskreter. Bei denen weiß oft nicht einmal die beste Freundin von der Affäre.“ Von Schwerin hat schon vieles erlebt: Ehemänner, die in seine Observation platzten und den nackten Liebhaber der Frau aus dem Auto zerrten. Ein Vater, der die Wohnung seiner Tochter mit Kameras überwachen wollte, weil sie einen neuen Freund hatte, der ihm nicht passte. Zwei seiner Auftraggeber töteten ihre Partner, während von Schwerin gerade erst dabei war, Erkundigungen einzuholen. „Die erreicht man dann plötzlich einfach nicht mehr – und später hört man: Der oder die ist im Gefängnis.“ Schiesser meidet den dramatischen Bereich der Beziehungen weitgehend. Er betreut vor allem Firmenkunden – sein Spektrum reicht von der kleinen Dorfbäckerei bis hin zum Münchner Großkonzern. „Ich sage mal: Wenn eine Angestellte heimlich ein Fleischpflanzerl isst, ist das nicht unsere Klientel. Da rate ich eher: ‚Stellen Sie noch eine Tube Senf dazu.‘“ Spannender sind da schon Fälle, bei denen Personen turi2 edition #5 · Digital Me


über hundert Tage im Jahr krankfeiern. Oder palettenweise Brot und Kuchen aus einer Backstube verschwinden. Dann kommt wieder die Technik zum Zuge, und von der hat Schiesser mehr als genug. Kameras, GPSSender und Speichermedien häufen sich in seinen Büro-Schubladen. Auch Firmenrechner oder -handys wertet Schiesser mittlerweile aus, etwa, wenn es um den Verrat von Betriebsgeheimnissen geht. Der relativ junge Zweig der Detektiv-Arbeit heißt IT-Forensik. „Die Masse an Daten, die man heute oft zur Verfügung hat, kürzt vieles ab.“ Alles geht dann aber doch nicht. Schiesser und von Schwerin bekommen manchmal Anfragen, mit denen sie sich strafbar machen würden, sollten sie ihnen nachkommen. Etliche Kunden sehen „Lenßen und Partner“ oder „Die Trovatos“ im Fernsehen und glauben, ein Privatermittler dürfe genau wie im TV Türen aufbrechen, Telefone anzapfen und Wanzen anbringen. Einfach, weil es technisch möglich ist. „Wenn ich so arbeiten würde wie Lenßen und Partner, wäre ich für jede Folge drei Jahre im Gefängnis“, sagt von Schwerin. Bei Schiesser mahlen die Kiefermuskeln, wenn man ihn auf das deutsche Vorabendprogramm anspricht. „Bei Lenßen und Partner geht mir der Schwimmer hoch.“ Er könnte zig Punkte aufzählen, mit denen sich die TV-Detekteien ins juristische Abseits bewegen: illegales Betreiben einer Funkanlage. Verletzung der Persönlichkeitsrechte. Hausfriedensbruch. Und, und, und. „Bei einer Ermittlung muss man immer das mildeste Mittel suchen“, sagt Schiesser – und spektakuläres Tür-Aufhebeln einer Privatwohnung gehört nie dazu. Es geht ihm bei der Wahl seiner Maßnahmen nicht um Mitleid, „das habe ich null“, sondern darum, dass er ein bestimmtes Ziel verfolgt: Schadensregulierung. „Der Geschädigte soll entschädigt werden.“ Wie das nach seiner Arbeit passiert – ob mit einer gütlichen Einigung oder per Prozess – ist ihm relativ egal. Auch von Schwerin interessiert der Ausgang seiner Fälle nur wenig. Ob sich ein Paar trennt oder zusammenbleibt, sobald er einen Fremdgänger enttarnt hat, ist nicht mehr seine Angelegenheit. „Das müssen die Leute schon selber wissen.“ Margarethe S. wartet mittlerweile in der Stube des Haslinger Hofs auf ihr Schnitzel. Peter-Franz Graf von Schwerin hat sich unauffällig an einen Tisch schräg gegenüber gesetzt und spielt hinter seinem Radler für 3,30 Euro weiter mit dem iPhone herum. Zoom, klick, schon ist der goldene Fingerring von Margarethe S. verewigt, etwas verpixelt vielleicht, aber auch eine versteckte Kamera würde in dieser Situation weder helfen noch bessere Bilder machen. Zufrieden nimmt von Schwerin einen tiefen Schluck aus dem Bierglas. Später, draußen im dunklen Mercedes, wird er feststellen, dass keines der heute fotografierten Schmuckstücke denen entspricht, die sein Auftraggeber vermisst. Das beunruhigt ihn nicht. Er hat noch drei Wochen Zeit. Margarethe S. wird täglich reich geschmückt in den Haslinger Hof kommen, um nach einem Kurschatten Ausschau zu halten. Außer dienstags – dann ist Ladies Night in einer Tanzbar in der Fußgängerzone, der erste Cocktail des Abends ist für Damen umsonst. Die Tanzbar heißt „Juwel“.

Ein halbes Jahr läuft eine Überwachungskameras heute – dank 2 Terabyte Speicher

61 %

vollständige Ermittlung des Sachverhalts

Diese Statistik zeigt die Aufklärungsquote von deutschen Detektiv-Aufträgen im Jahr 2011. Nur drei Prozent der Aufträge brachten keine Ermittlungsergebnisse

36 %

teilweise Ermittlung des Sachverhalts

3%

keine Ermittlungsergebnisse

* Name von der Redaktion geändert turi2 edition #5 · Digital Me

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Josefs

R h Ku e d o C

Online-Datenbanken fürs Stallmanagement, Milchprüfungs-Apps und Roboter-Stiere: Josef Rummel bewirtschaftet einen traditionsreichen Bauernhof im Alpenvorland. Mit seinen Händen – und dem Handy Von Anne-Nikolin Hagemann und Stephan Sahm (Fotos)

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Josef Rummel setzt die Melkpumpe noch von Hand an


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osef Rummel junior, genannt Sepp, beginnt den Tag vor dem Hahn. Als der um 5 Uhr 30 zum ersten Mal kräht, ist Rummel bereits auf dem Weg zum Stall, in blauem Overall und schweren Gummistiefeln, unter denen der Kies knirscht. Am Himmel zeigt sich gerade ein rosa Schimmer. Rummel knipst das Licht im Stall an. Der Hof, den sie hier in der Gegend den „Oswaldhof“ nennen, wird zum warmen Lichtpunkt zwischen dem Grau und Schwarz der Wiesen und Wälder, die ihn umgeben. Wenn es bald richtig hell wird, wird Rummel zeigen, was davon zum Betrieb gehört, „Wald, Wiese, der Hof, Maisfeld, wieder Wiese, wieder Wald“, sattgrün das Gras, blau der Himmel, hinter den Bäumen im Sommerdunst das Mangfallgebirge. Fragt man Sepp Rummel junior nach seinem Beruf, sagt er: „Bauer“. Nicht Landwirt, nicht Milcherzeuger, nicht Agrarunternehmer. „Bauer ist kein Schimpfwort bei uns hier draußen.“ Schlimmer findet er das Wort „Manager“. Das – und „Wellness“. „Muss denn ein jeder gleich ein Manager sein, wenn er was arbeitet? Und jeder gleich Wellness machen, wenn er sich erholt?“ Rummel ist Bauer in der sechsten Generation, der sechste Josef, der den Oswaldhof führt, gemeinsam mit seinem Vater, Josef Senior. Sein Ältester, Josef Vitus, genannt Seppi, sechs Jahre alt, wird wahrscheinlich der siebte sein. Im Moment schläft der aber noch tief und fest, genauso wie Katharina, zehn, und die Zwillinge Barbara und Florian, vier. Schließlich sind Sommerferien. Außer dem Hahn und Josef Rummel sind wach: seine Frau Lena, grüner Overall und Gummistiefel; Lehrling Konrad, T-Shirt, Arbeitshose – und Hofhund Spike, schwarzes Fell, aufgeregtes Schwanzwedeln. Und natürlich die rund 60 Kühe im großen Laufstall. Sie bilden schon eine Schlange vor der Tür zum Auslauf, von dem aus sie in den Melkstand gelangen. Wie jeden Morgen um halb sechs, sieben Tage die Woche. Wenn der Lehrling angelernt ist, kann man ihn auch mal ein paar Tage mit dem Hof alleine lassen, sagt Lena Rummel. Ausschlafen oder Ur-

Den Oswaldhof bewirtschaftet Rummel junior in sechster Generation. Sohn Seppi könnte Bauer Nummer sieben werden turi2 edition #5 · Digital Me

laub sind ansonsten nicht drin. Sie kennt das, auch sie ist in einem landwirtschaftlichen Betrieb aufgewachsen. Im Melkstand reihen sich die Kühe gemächlich ein, meistens jeden Tag in ähnlicher Reihenfolge, sagt Josef Rummel. Zwei Reihen mit jeweils sechs Melkplätzen, parallel nebeneinander. Die Rummels und Konrad stehen dazwischen, etwa einen Meter tiefer, Augen auf Euterhöhe. „Wenn ein Schwanz hochgeht: Deckung!“, warnt Rummel. „Wir haben das Futter umgestellt, da kommt es flüssiger.“ Und tatsächlich platscht es ab und zu aus gut zwei Metern Höhe unter dem Kuhschwanz hervor auf den Fliesenboden. Rummel macht ein paar schnelle Schritte zur Seite und greift nach dem Schlauch.

Jede Kuh hat einen Pass und ist online im Informationssystem für Tiere registriert Bevor sie die mehrarmige Vakuumpumpe ansetzen, reinigen sie das Euter und melken kurz von Hand an. Den Rest erledigt die Maschine. Sie misst Milchfluss und -menge, für jede Kuh angezeigt auf einem rot leuchtenden Display, und löst sich bei einem festgelegten Wert mit einem Schmatzen von selbst. Einen Melkroboter, der die Kuh mit Futter lockt und dann das Melkgeschirr mit Hilfe von Ultraschall, Laser und Sensoren ohne jede menschliche Hilfe anbringt, haben sie hier nicht. Den gibt es zum Beispiel auf dem Hof, wo Lehrling Konrad zu Hause ist. Keine schlechte Sache, sagt Josef Rummel, aber so lang der Melkstand noch gut tut, braucht es das nicht. Er dirigiert die Kühe mit leisem Pfeifen, streicht ab und zu beruhigend mit der Hand über ein Kuhbein. Entspannung ist wichtig, erst wenn das Wohlfühlhormon Oxytocin ausgeschüttet wird, kommt die Milch. Stress und Adrenalin verhindern den Milchfluss. Als sie 2004 in den neugebauten Stall umgezogen sind und sich die Kühe noch an die Melkanlage gewöhnen mussten, erzählt Rummel, floss tagelang nichts. Bei den Kühen mit besonders empfindlichem Euter bleibt er stehen, bis der Melkvorgang beendet ist, behält das Display im Blick, pfeift und streichelt etwas mehr als bei den anderen. Josef Rummel kennt alle seine Kühe – nicht beim Namen, sondern bei der Nummer, die letzten drei Ziffern jeder Ohrmarke. Seine Lieblinge sind 070 und 362, die sind besonders umgänglich. 068 mag er auch gerne, „das ist eine Neugierige“. Leider will die neugierige 068 einfach nicht aufnehmen, wird also bald keine Milchkuh mehr sein und damit früher oder später beim Schlachter enden. „Natürlich ist das schade und auch schwierig für mich“, sagt Rummel, während 068 seine Hand beschnüffelt, „aber das ist halt auch mein Beruf.“ Wenn es soweit ist, wird die Schlachtung von 068 im Bestandsregister von Josef Rummel vermerkt werden, ebenso wie alle anderen Ereignisse in ihrem und dem Leben der anderen Kühe. Wird ein Kalb geboren, bekommt es spätestens

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Nach spätestens sieben Tagen bekommen Kälber eine Ohrmarke. Dann werden sie ins Bestandsregister des Betriebs eingetragen

nach sieben Tagen eine Ohrmarke in jedes Ohr. Mit Länderkennung, Bundesland- und Kennnummer, daneben ein Barcode. Beim jüngsten Kalb im Stall, gerade einmal zwei Tage alt, sind diese Marken etwa so groß wie ein Ohr. Dann erhält es einen Rinderpass und wird mit Nummer, Geburtsdatum, Rasse, Geschlecht und Abstammung in das Bestandsregister des Betriebs eingetragen. Auch online wird es im Herkunftssicherungs- und Informationssystem für Tiere (kurz: HI-Tier) registriert. Wird die Kuh verkauft, muss man nur den Barcode scannen – und kennt ihre Daten. Wird sie geschlachtet, kommen die Ohrmarken zum Tierkörper, um die Herkunft des Fleisches bestimmen zu können. Josef Rummel findet das unpraktisch. Oder, in seinen Worten: „Eigentlich ein Schmarrn.“ Denn die Kuh wird ja in mehr als zwei Teilen verkauft, dem einzelnen Steak sieht niemand mehr an, woher es kommt. Besser findet er die Lösung, die er mal auf der Grünen Woche in Berlin gesehen hat: Würden jedem Rind DNA-Proben entnommen, also zusätzlich ein genetischer Fingerabdruck registriert, könnte man jedes noch so kleine Stückchen Fleisch im Gulasch zurückverfolgen. Bis zur einzelnen Kuh, ihrer Herkunft, Aufzucht und Schlachtung.

Der „Kuhplaner“ behält den Überblick über Tierarzt- und Trächtigkeits-Termine Jede Kuh auf dem Oswaldhof taucht zusätzlich in der Tierliste des Online-Herdenmanagers des LKV Bayern auf. LKV ist die dankbare Abkürzung für „Landeskuratorium der Erzeugerringe für tierische Veredelung in Bayern e.V.“. Zusätzlich zu den Lebensdaten sind hier Besamungen, Trächtigkeiten, Milchprobeergebnisse, Abstammung und andere Daten vermerkt. Außerdem hilft Rummel der „Kuhplaner“, eine Art Excel-Tabelle für Rinderhalter. Ein Kuhkopf als DesktopIcon, so behält er den Überblick über Trächtigkeitsverläufe, Medikamentengaben, Milchleistung, Besamungs- und Tierarzt-Termine. Das alles hat Rummel auch ausgedruckt und abgeheftet in dicken Ordnern neben dem Stall. Mit ein paar Klicks oder einem kurzen Blättern könnte er also alles nachschlagen, was es über ein Tier zu wissen gibt. Ob eine Kuh neugierig ist oder umgänglich, steht aber nirgends. Zeit zum Füttern. Lena Rummel ist schon vorgegangen ins Haus, Frühstück machen. Inzwischen steht die Sonne ganz am Himmel; ihr Licht bricht durch die Stalltore, während Josef Rummel und sein Lehrling das Futter verteilen. In anderen Ställen erledigen auch das Roboter. Die Kühe tragen dann zum Beispiel Transponder um den Hals, die ihre körperliche Aktivität messen. Suchen sie die Futterstelle auf, bekommt jede genau die Menge und Mischung, die perfekt auf Leistung und Bedarf abgestimmt ist. „Bei uns geht das mit Schubkarre und Schaufel“, sagt Rummel und schüttet mit Schwung eine Ladung Kraftfutter vor die Kühe. Als er mit allen Reihen fertig ist, ist es bis auf monotones Mampfen ganz still. Staub tanzt im Gegenlicht. „Ihnen beim Fressen zuzusehen, ist

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Die Milchprüfungs-App sendet Rummel Push-Nachrichten mit Eiweiß- und Fettgehalt der Milch. Früher kamen die Werte gemütlich per Post

in einer Zuchtzeitschrift auf das Bild eines Bullen, „der macht schöne Euter“. Neben Samland steht ein QR-Code, der direkt zu Zuchtprofil und Nachkommenbilanz führt. Statt drinnen am Computer zu sitzen, nimmt Rummel aber lieber während der Arbeit im Stall oder Wald das Smartphone aus der Tasche seiner Arbeitshose. Hüfte leicht vorgeschoben, Kopf gesenkt, Display auf Brusthöhe, Stirnrunzeln. „Meine Frau sagt, das ist die Haltung, in der sie mich am häufigsten sieht“, sagt er. Schnell nebenbei checken, ob eine Push-Meldung der Milchprüfungs-App gekommen ist. Eiweiß-, Fett- und Harnstoff-Gehalt seiner Milch auf einen Blick: Muss das Futter umgestellt werden? Früher kamen die Werte per Post, „heute kann man viel schneller reagieren“, sagt Rummel. Oder schnell eine Nachricht in die Maschinengemeinschaft-WhatsApp-Gruppe schicken, an die Landwirte aus den Nachbardörfern, mit denen er sich besonders teure und moderne Landmaschinen teilt. Manchmal schicken sie sich auch Videos: von dem neuen Düngefahrzeug mit Display im Führerhaus zum Beispiel, das automatisch per GPS erkennt, wo wieviel Gülle ausgebracht werden muss. Durch die Vernetzung sei vieles einfacher geworden in der Landwirtschaft, sagt Rummel, man arbeite mehr zusammen als früher. irgendwie beruhigend, finde ich“, Rummels Blick schweift über die nebeneinander ins Futter versenkten Kuhköpfe. Andere würden vielleicht sagen: Fast wie Wellness. Lehrling Konrad tippt währenddessen auf dem Smartphone. Er selbst, sagt Rummel auf dem Weg ins Haus, habe das ja beinahe verpasst mit diesen Smartphones, „für die Jungen ist das ja schon ganz normal“. Beim Frühstück, Biskuitrolle und Butterbrot mit Wurst und Käse, erzählt seine Frau: „Wir hatten auch schon Lehrlinge, die konnten gar nicht mehr aufschauen von dem Ding. Dabei ist es doch viel schöner, wenn man zusammensitzen kann und ratschen.“ Und natürlich, das Thema Überwachung und Datensicherheit, darüber machen sie sich schon auch Gedanken, „wie alle eben“, sagt Josef Rummel. Über den Oswaldhof und seine Bewohner soll ein anderer wachen, im Stall und in der Wohnküche hängen Holzkreuze und Heiligenbilder.

Kuhzi�en werden heute für Melkroboter optimiert Aber ganz ohne Smartphone und Computer geht es ja heute auch nicht mehr. Etwa eine Stunde am Tag sitzt Josef Rummel im Schnitt am Rechner, „bei schlechtem Wetter länger, bei gutem kürzer“. Brütet über den Datenbanken, den Geburtsmeldungen und dem Kuhplaner, klickt sich durch www.landwirt.com oder die Seiten des Besamungsunternehmens, scrollt durch die Profile der Zuchtbullen. Inzwischen, erzählt Rummel, kann man sich den Bullen auch danach auswählen, ob seine weiblichen Nachkommen Euter haben, an die die Melkroboter gut andocken können: gerade, dünne, gleichmäßig angeordnete Zitzen. „Roboter-Stiere“ nennt Josef Rummel diese Bullen. „Hier, der Samland“, sagt er und zeigt

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»Wenn man mit �eren arbeitet, braucht es immer einen Menschen« An einem normalen Arbeitstag würde er jetzt auf dem Feld oder im Wald weiterarbeiten, Holz machen, das Heu wenden, was eben gerade ansteht. Aber heute ist Maria Himmelfahrt, Feiertag, und der ist heilig in Bayern. Nachher steht ein Auftritt mit der Musikkapelle an. Mittlerweile sind die Kinder wach, gerade sind die Räder interessanter als die Flotte an Spielzeugtreckern, die bereitsteht. Sie üben Vollbremsung auf dem Schotter, jagen den ausgebrochenen Hühnern hinterher, Staub an den nackten Füßen. Josef Vitus, genannt Seppi, sechs Jahre alt, sagt, natürlich will er später mal den Hof übernehmen. Katharina, zehn, hätte lieber ein Smartphone. Vor ihrem zwölften Geburtstag wird das aber nichts, sagt ihre Mutter. Im Stall, glaubt Lena Rummel, bedeutet die Digitalisierung Arbeitserleichterung und mehr Freiheit. Im Leben könnte sie auch drauf verzichten. Und viel mehr Roboter, sagt sie, braucht es auch im Stall nicht. „Sonst ist da vielleicht wirklich die Gefahr, dass man die Nähe zum Tier verliert.“ Dass es dann irgendwann keinen mehr gibt, der weiß, welche Euter empfindlicher sind als andere und welche Kühe umgänglicher. Sondern nur noch Zahlen, Barcodes und Datenbanken. Josef Rummel widerspricht: „Wenn man mit Tieren arbeitet, braucht es immer einen Menschen. Und daran wird sich auch nichts ändern.“ Angst davor, dass sein Beruf irgendwann nicht mehr gebraucht wird, hat er nicht. „Wenn es uns Bauern nicht mehr gibt, gibt es keine Nahrung mehr. Und dann auch keine Menschen.“ turi2 edition #5 · Digital Me


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Auf Tinder suchen 50 Millionen Menschen weltweit nach einem Partner – oder schnellem Sex. In Deutschland hat die App über zwei Millionen aktive Nutzer, etwa 8.000 neue User kommen pro Tag dazu. Die müssen nicht zwingend Single sein: Studien belegen, dass etwa die Hälfte aller Tinder-Nutzer liiert ist und die App für weitere Sexualkontakte und als Ego-Streichler nutzt. Insgesamt verzeichnet die Tinder täglich 1,4 Milliarden „Swipes“ – also Wischbewegungen nach rechts oder links, mit denen Menschen potentielle Partner ablehnen oder als interessant bewerten. Daraus resultieren 26 Millionen Matches pro Tag


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r e d n ng das eine Erfindu k t a h le il p y Tinder. r Antibab Sex: Seit de Kuppel-App d ie n d u h ls c a t is r w e , u gen eg fe erer zu krie n stärker be Wisch und w w e h h c sc ts t u h e ic D n r de sind dort che Liebesleben lionen Deuts -Night-Stand e il n M O i e in w e z r e ls be. ra Ein Date od die große Lie Herbst. Meh r e d im o n x fe e p S u n n icht n schnelle als ein Sch – und was n rt bereits de r o e d d n in e T d i n e b fi t n, was geh suchen und nen erzähle ih n baumer o v n e b tjana Kersch Sie uther und Ta emann, Heike

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Sarah, 25 testet mit ihren Tinder-Bekanntschaften gerade ihre sexuellen Vorlieben aus. Tot stellen will sie sich beim Sex aber nicht

In den letzten sechs Monaten habe ich echt viel über verborgene Fantasien gelernt

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m Internet nach neuen Bekanntschaften zu suchen, ist aus einer Laune heraus entstanden. Ich saß mit Freundinnen zusammen, wir hatten zwei Gläser Wein intus, da haben wir mir ein Profil auf Tinder angelegt – frei nach dem Motto: „Mal gucken, was passiert.“ Das war vor einem halben Jahr. Davor war ich fast zehn Jahre in einer festen Beziehung. Jetzt mit 25 quasi das erste Mal Single zu sein, ist ein völlig neues Gefühl. Einerseits bin ich wie befreit. Andererseits ist da niemand mehr, der mich bestätigt und mir sagt, dass er mich schön findet. Also bin ich zu Tinder. Ich möchte testen, ob und wie ich körperlich und als Mensch gefalle. Was das Körperliche angeht, schätze ich meinen Marktwert mittlerweile recht hoch ein. Auf Tinder bin ich die Jägerin. Ich steuere, wen ich kennen lerne und wie weit es geht. Ich provoziere gern: „Ach, du willst was von mir haben? Aber ich gebe es dir nicht – oder doch?“ Dieses Spiel tut meinem Selbstbewusstsein richtig gut. Durch die App habe ich mich selbst besser kennen gelernt. Ich kenne jetzt mein Beuteschema: Der Mann sollte etwas älter sein als ich, er muss im Berufsleben stehen, sollte nach Erfolg streben und tendenziell mehr verdienen als ich. In meiner Stadt fallen darunter vor allem Investmentbanker, Consultants und Juristen. Ich brauche jemanden, zu dem ich aufsehen und mit dem ich mich messen kann.

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Ich versuche, meine Matches schnell kennen zu lernen. Was nützt das ganze Schreiben oder Fotos Tauschen, wenn der Typ Dialekt spricht? An Tinder gefällt mir gut, dass es quick und, wenn es passt, auch schnell dirty werden kann. Auf Portalen wie Parship hatte ich davor Männer kennen gelernt, die mit mir gleich eine Familie gründen wollten. So weit bin ich aber noch nicht; ich will momentan nichts Festes. Auch das Ansprechen auf Partys hat abgenommen. Die Männer sind da echt zurückhaltender geworden. Ich kann sie verstehen. Bevor ich mir als Mann im realen Leben eine Abfuhr einfange, gehe ich doch lieber auf Tinder. Da weiß ich, dass zumindest gegenseitiges Grundinteresse besteht. Für mich ist Tinder zum Sport geworden. 25 bis 30 Männer habe ich so in den vergangenen sechs Monaten kennen gelernt, mit zehn bin ich im Bett gelandet, acht haben es in die zweite Runde geschafft. Der Vorteil ist, dass ich mit Tinder viel ausprobieren kann, egal ob Sex zu dritt oder Rollenspiele. Ich bin dabei, meine sexuellen Vorlieben zu entdecken. So frei könnte ich das in einer festen Beziehung nicht tun. Wenn ich ansprechen würde, wonach mir ist, und mein Partner würde nicht darauf stehen, wäre ab diesem Zeitpunkt ein Riss in unserer Beziehung. Was mir bei Tinder-Kontakten fehlt, sind tiefgründigere Gespräche. Ich unterhalte mich mit den Männern zwar darüber, was ich zuletzt im Kino gesehen habe, aber kaum über das, was mich wirklich bewegt. Ich selbst versuche, so lang wie möglich meine Anonymität zu wahren, gebe meinen Nachnamen nicht preis und auch nicht, wo ich arbeite. Tinder zeigt ja auch an, wo sich eine Person gerade aufhält. Wenn mir deshalb jemand schreibt: „Ich bin gerade in deiner Nähe“, ist mir das eigentlich schon zu nah.

Ich versuche, im Vorfeld abzustecken, wie weit es gehen könnte. Es gelingt mir aber nicht immer, den Mann richtig einzuschätzen. Einmal hat ein Typ, bei dem ich schon in der Wohnung war, gefragt: „Wir nehmen uns manchmal ein Hotelzimmer und teilen uns mit mehreren Männern eine Frau. Wärst Du bereit, da mitzumachen?“ Da habe ich die Reißleine gezogen. Ein anderes Mal hat mich ein Mann gefragt, ob ich mich beim Sex tot stellen könnte. Ich bin umgehend nach Hause. In den letzten sechs Monaten habe ich echt viel über verborgene Fantasien gelernt. Ob ich auch als Person überzeuge? Da hat Tinder mich eher verunsichert. Ich habe einen Mann kennengelernt, mit dem ich mir mehr vorstellen könnte. Aber unser Kontakt bleibt oberflächlich. Wir treffen uns unter der Woche, schlafen miteinander, aber viel weiß ich nicht von ihm. Wie kann ich erfahren, ob ich ihm auch als Mensch gefalle? Ich wirke tough und cool, da blickt er vielleicht nicht, dass ich mehr möchte. Die Frage, die mich jetzt beschäftigt, ist: Wie schaffe ich es, dass aus einem Tinder-Date mehr wird – vielleicht sogar eine neue Beziehung? ♥

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Felix, 35 trifft jede seiner Tinder-Bekanntschaften nur ein einziges Mal. Die Frau fürs Leben würde er lieber offline kennen lernen

Zum Sex kommt es oft auf Initiative der Frau. Vielleicht ist es der Reiz, dass wir uns nur einmal treffen

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ch habe über Tinder in den letzten zwei Jahren etwa 40 bis 50 Frauen in elf verschiedenen Städten getroffen. Mit etwa jeder zweiten habe ich geschlafen. Klar klingt das super, nach tollem Hecht und so. Aber eben auch oberflächlich, nach Aufreißer und Arschloch. Dabei bin ich der Meinung: Das bin ich nicht. Klar geht es mir um Sex, aber auch um Begegnungen, Nähe. Ich bin die Hälfte meiner Arbeitszeit unterwegs, auf Konferenzen, Fortbildungen und Meetings. Für eine Beziehung gäbe es da keinen Platz. Da fühlt man sich abends im Hotelzimmer oft einsam, wenn es niemanden gibt, der einen vermisst und den man anrufen könnte. Früher haben Geschäftsleute die Bezahlkanäle im Hotel-TV durchgezappt, eine von diesen Nummern angerufen. Ich tindere eben. Eine meiner Regeln ist, dass ich jede Frau über Tinder nur einmal treffe. Das mache ich vorher klar, ich schreibe, dass ich an genau diesem Abend in der Stadt bin, gern Gesellschaft hätte und dass es mehr als ein Treffen nicht geben wird. Ich bin absolut ehrlich. Das erste Mal getindert habe ich auf einer Geschäftsreise. Da war ich gerade ein paar Wochen von meiner Ex getrennt, mit der ich davor fünf Jahre zusammen war. Es war ein unglaublich schönes Date, wir hatten aber keinen Sex. Uns war beiden klar, dass wir uns nicht wiedersehen würden. Aber mich hat fasziniert, wie viel Nähe man in ein paar Stunden aufbauen kann. Also habe ich es bei der nächsten Reise wieder probiert. So ist das eine Art Routine geworden.

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Meistens suche ich schon tagsüber nach Matches in der Stadt und schreibe mit den Frauen während langweiliger Konferenzen. Das ist für mich irgendwie Teil des Vorspiels, wenn man das so nennen kann. Dass ich erst am Abend jemanden kennenlerne und mich verabrede, passiert selten. Das wäre dann so ein reines Sexdate, irgendwie niveaulos. Ich bin auf keinen Fall einer von den Typen, die gleich nach dem „Hi“ ein Bild von ihrem Penis schicken. Was die Frauen an mir gut finden? Ich habe schon Komplimente dafür bekommen, dass ich gut zuhören kann, dass ich Interesse zeige und einfühlsam bin. Besonders gutaussehend finde ich mich eigentlich nicht, eher okay: braune Haare, Bart, 1,85 m, kein Muckibuden-Typ, aber auch nicht besonders dünn oder dick. Man hat mir mal gesagt, ich sei ein Anzug-Typ – keine Ahnung, ob das gut oder schlecht ist. Ich suche aber auch keine Frauen, die aussehen wie aus der Vogue. Klar, ungepflegt sollte sie nicht sein; auch nicht viel älter oder jünger als ich, aber ich habe kein spezielles Beuteschema. Natürlichkeit und eine gewisse Unbeschwertheit finde ich anziehend. Und irgendwie stehe ich drauf, wenn die Frauen sich mir öffnen, wenn sie sich fallen lassen und sich bei mir wohl fühlen, obwohl sie mich nur flüchtig kennen. Vielleicht könnte man sagen, ich finde Vertrauen sexy.

Dass das Ganze negative Folgen hat, befürchte ich nicht. Beim Sex verhüten wir immer mit Kondom. Und emotional verletzt habe ich, soweit ich weiß, auch noch niemanden. Ich lüge keiner was vor. Ich weiß aber auch, dass das nicht ewig so weitergehen kann. Irgendwann wünsche ich mir wieder eine feste Beziehung, vielleicht sogar mal Kinder, ein Haus. Die Frau dafür würde ich aber lieber im echten Leben kennen lernen. Ein einziges Tinder-Erlebnis beschäftigt mich noch immer. Das war eine verpasste Chance. Bei einem Seminar war ich den ganzen Tag müde und hatte deshalb nichts geplant. Abends im Hotelzimmer habe ich das bereut und in die App geschaut – und wer wurde mir angezeigt? Die hübsche Kollegin, die neben mir gesessen und mit der ich geflirtet hatte. Jetzt saß sie im Hotelzimmer nebenan. Vor lauter Schreck habe ich nach links gewischt, also abgelehnt. Ich habe keine Ahnung, ob ich ihr auch angezeigt wurde und wohin sie gewischt hat. Am nächsten Tag saß sie woanders. Bis heute frage ich mich: „Was, wenn ich rübergegangen wäre?“ ♥

Zum Sex muss es für mich nicht unbedingt kommen, ein nettes Abendessen, ein schönes Gespräch, das kann auch toll sein. Mit einer Frau habe ich DVDs geschaut und Pizza bestellt, wie alte Kumpels. Dass es doch zum Sex kommt, passiert oft auf Initiative der Frau: Vielleicht ist es der Reiz, dass wir uns nur dieses eine Mal treffen. Jetzt oder nie.

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Eines ihrer ersten gemeinsamen Selfies machten Nora und Till im Skiurlaub

Nora, 29 und Till, 31 haben sich auf Tinder kennen gelernt – und ihr erstes Date mit Gummistiefeln und Gewehr auf einem Hochstand verbracht

Meine Mutter ist ausgeflippt, weil ich mit einem fremden Mann im Wald war. Till war aber kein Mörder Nora

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einen Freund Till habe ich vor etwa einem Jahr über Tinder kennen gelernt. Ich komme gebürtig aus Bremen, war frisch nach München gezogen und hatte nur wenige Bekannte in der Stadt. Da stellt sich die Frage: Wo trifft man neue Leute? Meine früheren Partner hatte ich alle über Freunde oder auf Partys gefunden. Aber in München hatte ich meistens nicht die Energie, mich nach der Arbeit noch in eine Bar zu setzen. Geld ausgeben für Parship oder so wollte ich auch nicht. Also Tinder. Klar, als erstes schaue ich aufs Bild. Das scheint mir bei Till offensichtlich gefallen zu haben – aber noch besser fand ich seine Beschreibung. Da stand: „Ich mag Satzzeichen und Lakritze.“ Außerdem hatte er ein paar Städte

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angegeben, in denen er gelebt hat – Lüneburg, Hamburg, Göttingen, London. Daraus habe ich recht schnell kombiniert, dass Till wie ich ein Nordlicht ist, das fand ich sympathisch. Till hat mich dann kurz nach unserem Match angeschrieben – zum Glück, denn ich schreibe Männern nie zuerst. „Tinder sagt, wir stehen aufeinander“: Das fand ich schon ziemlich lustig. Wir haben dann zwei Wochen gechattet, bevor wir uns das erste Mal getroffen haben. Das ging auch gar nicht anders, weil Till eine Woche in Barcelona und danach noch in Berchtesgaden war. Bei unserem ersten Date habe ich Till gleich mal in Gummistiefeln gesehen. Wir sind nämlich auf die Jagd gegangen. Das war überhaupt nicht geplant, eigentlich waren wir auf ein Eis verabredet. Aber Till schrieb: „Das Wetter ist so schön, wollen wir nicht mal jagen gehen?“ Ich habe zugesagt, aber bevor er mich abgeholt hat, hat er

noch geschrieben, dass ich kein Parfum auflegen dürfe: „Das riechen die Tiere.“ Da habe ich auch kurz gedacht: „Harter Freak“. Naja, die Jagd war dann trotzdem nicht erfolgreich, weil wir stundenlang auf dem Hochsitz gequatscht haben. Als ich das später meiner Mama erzählt habe, ist sie ausgeflippt: „Du kannst doch nicht mit einem fremden Mann mit Waffe in den Wald gehen!“ Ganz unrecht hat sie da nicht. Aber Till war ja doch kein Mörder. Ich habe nach dem Date nicht gleich gedacht: „Das isses jetzt!“ Am Anfang fand ich Till vor allem sehr nett. Logisch, man denkt lange Zeit, dass im Leben und in der Liebe doch irgendwas Walt-Disney-mäßiges kommen muss. Das ist, glaube ich, auch der Grund, warum manche von Tinder überhaupt nicht mehr loskommen: Sie hoffen, irgendwann denjenigen zu matchen, der alle Ansprüche zu 100 Prozent erfüllt. Dabei gibt es so etwas einfach nicht. turi2 edition #5 · Digital Me


Till und ich haben uns nach unserem Jagdausflug noch mehrmals getroffen, wobei ich ihm auch mal einen Termin in zwei Wochen vorgeschlagen habe – ich habe zu der Zeit viel Sport gemacht und wollte meine Trainingseinheiten nicht für ihn sausen lassen. Das fand er nicht so cool. Kurz vor unserem fünften Date hat er mir dann ein Foto geschickt: von sich im Anzug, mit seiner kleinen Nichte auf dem Arm. Als wir abends beim Afghanen essen waren, hat er von ihr geschwärmt und gemeint, wie toll es ist, wenn so ein kleiner Mensch plötzlich zur Familie gehört und man ihn einfach nur beschützen will. Das fand ich total süß! Meine Mama meinte später zu mir: „Junge, Junge, da hat er ja alle Register gezogen.“

Nach dem Essen sind wir noch in eine Bar, danach haben wir uns zum ersten Mal geküsst. Dann musste ich wirklich dringend nach Hause, weil ich am nächsten Morgen superfrüh zum Wiesn-Anstich verabredet war. Trotzdem habe ich meiner besten Freundin noch mitten in der Nacht eine Sprachnachricht geschickt: „Kennst du das, wenn man einfach nur noch grinsen muss?“ Sie hat erst gedacht, ich weine, weil ich mich so komisch angehört habe. Dann hat sie verstanden, dass ich wirklich von einem Ohr zum anderen gelacht habe.

ich mir schon vorstellen, mit ihm zusammen zu wohnen. Anfang 2017 habe ich es dann angesprochen. Demnächst ziehen wir deshalb gemeinsam in eine 3-Zimmer-Wohnung in München. Nur vor Tills guter Laune am Morgen fürchte ich mich: Ich bin da noch nicht ansprechbar. Till bringt es schon um sechs Uhr morgens fertig, fröhlich unter der Dusche zu summen. Boah! ♥

Till hat später einmal gesagt, er fände es schön, wenn wir „Tinder jetzt löschen“. Ich war da schon weiter: Nach etwa zwei Monaten Beziehung konnte

Es gibt Frauen, die haben von Satzzeichen noch nie etwas gehört. Nora benutzt wenigstens Punkt und Komma Till

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inder hatte ich schon ziemlich lange installiert, bevor ich Nora gematcht habe. Ich habe null daran geglaubt, dass es funktioniert, darüber eine Partnerin zu finden, und habe es deshalb sporadisch genutzt. Aber ich habe auch nur noch selten Lust, feiern zu gehen, um jemanden kennen zu lernen. Entweder ich habe keine Zeit oder der Kater klaut mir den Tag danach. Und in meiner Freizeit bin ich lieber draußen in der Natur als in der Münchner Innenstadt. Aber im Wald und auf den Bergen ist das Dating-Potential nun mal nicht besonders groß. Außerdem: Es macht Spaß, bei Tinder ein bisschen durchzuwischen, den Radius sehr klein einzustellen. Es ist schon ziemlich spannend, wer im Konferenzraum oder in der Kantine auch aktuell auf der Suche ist. Ich hatte vor Nora auch sechs, sieben andere Tinder-Dates, mal besser, mal schlechter. Ist ja kein Problem, man trifft sich, trinkt etwas und nach einer Stunde geht man eben wieder, wenn es nicht passt.

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Ich erinnere mich: Bei Nora habe ich nach rechts gewischt, weil mir ihr Foto gefallen hat. Vermutlich war auch ein bisschen Zufall dabei, weil ich den Radius noch sehr eng eingestellt hatte – Noras alte Wohnung liegt nur fünf Minuten von meiner entfernt. Generell habe ich nur in München gesucht, eine Frau, die irgendwo außerhalb wohnt, hätte mich vermutlich nicht besonders interessiert. Ich habe Nora also mit dem „Tinder sagt, wir stehen aufeinander“Spruch angeschrieben – total individuell, ich weiß. Positiv von ihrer Seite war schon mal: Nora benutzt Satzzeichen in ihren Nachrichten. Dass ich Satzzeichen und Lakritze mag, stand ja nicht umsonst in meinem Profil. Es gibt Frauen, die schreiben, als hätten sie von Punkt und Komma noch nie etwas gehört – echt schlimm. Und Lakritz kann ich als Nordlicht tonnenweise essen. Nora mag auch Lakritz, besonders die Salz-undPfeffer-Bonbons. Da hatten wir wieder etwas gemeinsam. Nach zwei Wochen waren wir für unser erstes Date verabredet, aber ich hatte gar keine Lust auf Eisessen im Café – obwohl das eigentlich abgemacht war. Ich habe schon mit 16 meinen Jagdschein in meiner Heimat Lüneburg gemacht und betreue heute eine kleine Jagd am Rand von München. An dem Tag war ich schon früh morgens im Wald, das Wetter war traumhaft. Deshalb habe ich Nora gefragt, ob sie nicht

mit auf die Jagd kommen will. Ehrlich gesagt dachte ich, dass sie ablehnt. Stattdessen konnte ich sie kurz darauf abholen, und Nora hat mich gleich mit einem herzlichen „Moin“ begrüßt. Das war ein guter Einstieg! Dass sie kein Parfum auflegen soll, habe ich Nora übrigens nur gesagt, weil ich schon mal um vier Uhr früh eine Bekannte mit auf die Jagd genommen habe. Die kam direkt vom Feiern und war von oben bis unten eingenebelt. Da lässt sich kein Reh mehr blicken. Auch mit Nora war ich nicht besonders erfolgreich – vor allem, weil sie drei Stunden auf dem Hochsitz durchgequasselt hat. Aber mir war klar, dass bei einem Date die Jagd nicht im Mittelpunkt steht. Dass wir ein Paar sind, war mir relativ schnell klar – spätestens nach unserem fünften Date beim Afghanen und dem ersten Kuss. Als Nora schon nach ein paar Monaten Beziehung gefragt hat, ob wir zusammenziehen, war das für mich kein Thema. Ich war sowieso oft bei ihr, und wenn man in München mal pragmatisch denkt: Die Miete wird auch billiger, wenn man zusammenlebt. Unsere neue Wohnung haben wir über Immoscout gefunden, ich habe den meisten Anbietern geschrieben, dass „ich und meine langjährige Freundin“ auf der Suche sind. Stimmt zwar nicht ganz – aber kann ja noch werden. ♥

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Lisa, 28 hat eher schlechte Erfahrungen mit Stalkern und Schotten gemacht. Zu Dates nimmt sie seitdem immer ihre Schäferhündin Chica mit – zur Sicherheit

Mir wurde der Ehemann einer Bekannten vorgeschlagen. Dabei posten die beiden ständig, wie glücklich sie sind

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ach acht Jahren Beziehung und zwei Jahren Ehe haben sich mein Mann und ich scheiden lassen. Die Scheidung lief ohne Drama ab: Wir haben uns sogar einen Anwalt geteilt. Kurz bevor die Sache durch war, habe ich zum ersten Mal Tinder installiert. Ich finde, das muss man mal ausprobiert haben. Als ich mit 20 meinen Ex-Mann kennen gelernt habe, gab es Dating-Apps ja noch gar nicht. Hätte ich über Tinder jemand Passenden getroffen, wäre ich offen für eine neue Beziehung gewesen. Ich habe schon etwas Ernstes gesucht. Bei den meisten Männern ist das anders. Es hat mich überrascht, wie viele auf Tinder nach einer Affäre Ausschau halten. Die, die das ganz klar kommuniziert haben, waren mir noch lieber. Mit einem hat es gut gepasst, den habe ich öfter getroffen. Das wurde eine „Freundschaft plus“. Ich hatte aber auch einmal ein klassisches Date, bei dem der Mann ins Café kam und wissen wollte, ob es reicht, wenn er ein kleines Getränk bestellt. Der wollte sofort in die Kiste. Ziemlich geschaut habe ich, als mir der Ehemann einer flüchtigen Bekannten vorgeschlagen wurde. Die beiden posten ständig bei Facebook, wie glücklich sie sind – und dann findet man ihn bei Tinder. Ich habe mich mit Freundinnen beraten, ob ich es seiner Frau sagen soll, habe es aber bleiben lassen.

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Beim Tindern habe ich immer zuerst auf die Bilder geachtet: Jemand, der auf allen Fotos mit Käppi und Sonnenbrille drauf ist, fällt durch. Da wische ich gleich nach links. Ich möchte schon die Augen sehen können. Dafür gehen Männer mit langen Haaren immer, oder Männer, die ein Bild mit Hund hochgeladen haben. Ich habe selbst einen Belgischen Schäferhund, Chica, und dann weiß man gleich, dass der andere zum Beispiel keine Tierhaarallergie hat. Wenn ich ein Match hatte und schreiben wollte, habe ich oft meine Handynummer rausgegeben. Ich chatte lieber über WhatsApp als über Tinder, wobei Chatten zäh sein kann: zum Beispiel, wenn man dem Mann alles aus der Nase ziehen muss. Das mit der Handynummer hat aber auch Nachteile. Man bekommt viele Penisbilder geschickt. Ich hatte in meinem Profil mal den Satz stehen: „Penisbilder sind wie tote Mäuse, die Katzen bringen: nett gemeint, aber niemand will sie.“ Geholfen hat das wenig. Trotzdem hatte ich einmal das perfekte erste Date mit einem Match. Wir waren essen und danach im Biergarten, haben uns toll unterhalten. Zwei-, dreimal haben wir uns noch getroffen; einmal haben wir bei mir gekocht. Allerdings hat er schon nach dem zweiten Treffen „Ich liebe dich“ gesagt – ich meinte, dass man das so schnell nicht wissen kann. Ich bin dann in den Urlaub gefahren und habe nachgedacht. Als ich wieder da war, habe ich ihn angerufen und sagte ihm, dass es bei mir leider nicht so ist. Der hat sich dann echt zu einem Stalker entwickelt: Er hat zig WhatsApps geschrieben und geschworen, dass er um mich kämpfen würde. Ein paar Wochen später hat er die ganze Windschutzscheibe meines Autos und sogar mein Fahrrad mit Rosen dekoriert. Zum Glück hatte ich zu der Zeit über Tinder einen Polizisten kennen

gelernt. Der meinte nur: „Wenn er nicht aufhört, rufst du mich an.“ Mittlerweile ist Ruhe. Mein letztes Tinder-Date war ein Schotte. Als ich das morgens im Büro erzählt habe, meinten die Kollegen: „Da wirst du selbst zahlen müssen.“ So war es dann auch. Ich will nicht, dass mich die Männer einladen, aber dann zahlt eben jeder seinen Anteil. Das war das einzige Date, bei dem ich die komplette Rechnung beglichen habe. An den seltsamsten Spruch, mit dem mich ein Mann angeschrieben hat, erinnere ich mich auch: „Ich bin ein Diadem der Leidenschaft und ein Diamant der Begierde.“ Mich hat es zerrissen vor Lachen. Was soll man da auch sagen: „Hey, da kommt der Diamant?“ Ich finde, es lohnt sich, Tinder auszuprobieren – das muss man erlebt haben. Es macht Spaß, durchzuwischen und schnell neue Leute kennen zu lernen. Den Männern würde ich aber raten, ihre Penisbild-Strategie zu überdenken. ♥

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Caro, 50 hat über Tinder neue Bekannte und einmal die große Liebe gefunden. Trotzdem tindert sie heute wieder

Mit einem Mann hatte ich Sex auf der Parkbank. Weil ich ihn nicht riechen konnte, gab es nur dieses eine Treffen

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ch bin kurz nach der Trennung von meinem Mann auf Tinder gegangen, das war Anfang 2014. Davor hatte ich andere Portale getestet. Sie alle haben versprochen, mich mit jemanden zu matchen, der top zu mir passt. Und dann wurden mir Kandidaten vorgeschlagen, deren Aussehen unterste Kanone war. Ich dachte: Mit dem Nerd würde ich mich doch keine Sekunde an einen Tisch setzen. Auf Tinder ist die Ausbeute einfach besser. Und es kostet weniger Zeit; da kann ich nebenbei reinklicken und muss nicht Abende lang Profile studieren. Es gibt eine knappe Info zur Person, mehr brauche ich nicht. Viel wichtiger sind für mich die Fotos, die jemand von sich einstellt. Wenn schon auf dem ersten Bild ein Motorrad oder ein Hund zu sehen ist, weiß ich: den Typ muss ich gar nicht erst treffen. Früher hat man noch persönlich akquiriert, aber das ist selten geworden. Vielleicht liegt es an meinem Alter. Wenn ich früher zu einem Geburtstag eingeladen wurde, traf ich dort andere Singles. Heute sind da lauter Pärchen und ich stehe als einsames Herz allein da. Tinder schlägt mir dagegen Leute vor, die auch jemanden suchen. In den letzten dreieinhalb Jahren hatte ich so rund 150 Dates. Manchmal nur für einen Abend, manchmal mit Sex, manchmal ohne. Aus einigen Dates sind gute Bekannte geworden. Auch die Liebe habe ich über Tinder schon gefunden.

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Jedes neue Kennenlernen hat seinen eigenen Reiz. Mit einem Mann bin ich auf die Idee gekommen, dass wir bei unserem ersten Date ja so tun könnten, als ob wir bereits ein Liebespaar seien. Das haben wir durchgezogen: Im Restaurant haben wir Händchen gehalten und darüber gesprochen, ob wir Weihnachten bei seiner oder meiner Familie verbringen werden. Später sind wir im Park gelandet, haben wild geknutscht und hatten Sex auf der Parkbank. Leider konnte ich ihn nicht so gut riechen, also beließ ich es bei dem einen Treffen. Sehr gern erinnere ich mich auch an George Clooney. Ich dachte: „Wow, solche Männer sind hier auf Tinder, das ist ja der Kracher.“ Er hieß Peter. Dass er kein Deutscher ist, habe ich erst begriffen, als er mich auf Englisch anschrieb: Er sei Pilot und nur heute Abend in Frankfurt. Er würde mich wahnsinnig gern kennen lernen – auch wenn wir uns vermutlich nie wiedersehen würden. Ich habe nicht lang überlegt. Er sah so toll aus, ich musste ihn einfach treffen. Wir hatten einen unterhaltsamen Abend im Flughafen-Restaurant. Als es später wurde, fragte er, ob wir unsere Unterhaltung in seinem Hotelzimmer fortsetzen wollen. Ich sagte: „Ja, aber ich werde nicht mit Dir schlafen. Das würde ich bereuen – und zwar spätestens, wenn ich morgen Nacht allein im meinem Bett liege.“ Er war einverstanden und wir gingen aufs Zimmer. Seine Lust war dann doch so groß, dass er fragte, ob ich mich vielleicht ausziehen könne, während er sich selbst befriedige. Für mich war das okay, fast poetisch. So konnten wir uns körperlich nah kommen, wenn auch nur auf gewisse Weise.

Mein schönstes und zugleich traurigstes Tinder-Erlebnis: die Beziehung, die ich hatte. Ich erkenne schnell, ob ein Mann zu mir passt oder nicht. Und plötzlich saß er da. Ich dachte: „Na endlich, da ist er doch. So viele Männer hast du dir angeguckt, und nun sitzt er da.“ Bei ihm war alles richtig: Wir hatten ähnliche Jobs, gemeinsame Interessen, seine Familie nahm mich freundlich auf und meine Jungs waren von ihm begeistert. Wir hatten eine wunderbare Zeit miteinander. Aber er litt unter Depressionen, und die Medikamente, die er nehmen musste, ließen jedes Gefühl in ihm abstumpfen. Deshalb wollte er mich nicht an sich binden und hat unsere Beziehung nach einem halben Jahr beendet. Wieder auf Tinder zurückzugehen, empfand ich als Erniedrigung. Ich dachte, jetzt geht wieder alles von vorne los. Auch die anderen sehen ja, dass du wieder auf Tinder bist. Mittlerweile habe ich aber über meinen PremiumAccount eine Funktion entdeckt, mit der ich selektieren kann, wem ich angezeigt werde und wem nicht. Und ich nehme hin und wieder eine Tinder-Auszeit. Es kostet Kraft, immer wieder von vorn anzufangen. Jeder Neukontakt ist mit Hoffnung verbunden. ♥

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Die meisten Bilder, die Anika von sich auf Tinder eingestellt hat, zeigen sie nicht direkt. So wahrt sie ein Stück Anonymität

Anika, 30 organisiert ihre Dates mit einer Smartphone-Liste, um den Überblick zu behalten. Über ihre Tinder-Erlebnisse führt sie einen Blog

Das Wissen um die große Auswahl macht etwas mit uns allen. Alles wird austauschbarer, beliebiger

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ie viele Matches ich hatte, kann ich nicht mehr genau sagen, sicher hunderte. Wie viele davon ich in echt kennen gelernt habe, weiß ich dafür ganz genau, weil ich sie für meinen Blog durchnummeriere: Heute Abend treffe ich Nummer 49. Im Jahr 2017 gehört Onlinedating dazu. „Versuch‘s doch lieber im echten Leben“, höre ich trotzdem oft. Dabei ist eine Begegnung im echten Leben Schuld daran, dass ich vor anderthalb Jahren mit dem Tindern angefangen habe: Ich war frisch von meinem Freund getrennt, mit dem ich viereinhalb Jahre zusammen war. Da hat mich beim Einkaufen aus heiterem Himmel ein Fremder angesprochen und gefragt,

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ob ich mit ihm essen gehen würde. Ich war so perplex, dass ich direkt Nein gesagt habe – ohne nachzudenken. Da habe ich gemerkt: Das klappt nicht mit mir und dem „echten Leben“. Am selben Abend habe ich mir die App geholt. Bevor ich bei Tinder war, hatte ich eigentlich nie ein klassisches Date. Da hat man jemanden im Freundeskreis oder im Studium kennen gelernt – und irgendwann war man dann einfach zusammen. Aber ab einem bestimmten Punkt lernt man im Alltag kaum noch neue Leute kennen. Meine Freunde und Kollegen wissen, dass ich tindere. Die meisten sind aber in einer ganz anderen Lebenssituation,

sind schon lange in einer Beziehung, haben vielleicht schon Kinder. Deshalb ist es schwierig, mit ihnen darüber zu reden. Anfangs habe ich meinen Blog also nur für mich selbst geführt. Die ganzen Erfahrungen und Empfindungen mussten einfach raus. Ich habe noch niemandem im echten Leben vom Blog erzählt und habe es auch nicht vor. Dort gebe ich so viel von meinen intimsten Gefühlen und Gedanken preis, wie ich es nie im echten Gespräch könnte. Dass jemand, den ich gedatet habe, darüber stolpern könnte, ist beängstigend. Aber durch die Anonymität kann ich mir alles von der Seele schreiben. Meinen meistgeklickten Beitrag haben 800 Leute gelesen, oft turi2 edition #5 · Digital Me


kriege ich 50, 60 Kommentare. Wie da völlig Fremde mitfiebern und sich mit meinem Liebesleben beschäftigen, ist faszinierend. Ich habe eine Liste im Handy, um den Überblick zu behalten, da stehen die Nummer, der Name, das Datum und der Ort des ersten Dates drin. Wenn mich jemand beim ersten Date nach meinen Erfahrungen bei Tinder fragt, zucke ich immer ein bisschen zusammen. „Du bist Nummer 50“ kommt ja nicht so gut an. Ziemlich am Anfang habe ich mal jemanden getroffen, der ähnlich viele Dates hatte wie ich jetzt – das war Nummer 2. Der hat bei mir im Blog auch die Überschrift „Der TinderProfi“ bekommen. Mittlerweile versuche ich, einen Mann so schnell es geht zu treffen. Beim Chatten kannst du einen Menschen nicht kennen lernen, da geht zu viel verloren, was du im Gespräch schon nach fünf Minuten merken würdest. Einen großen Anforderungskatalog habe ich nicht. Klar geht es erstmal nach Sympathie. Wenn jemand nett aussieht, nett lacht, habe ich Lust, ihn zu treffen. Ein Date ist nie Zeitverschwendung. Du lernst einen neuen Menschen kennen – selbst, wenn es nicht passt, erweitert er deinen Horizont, spricht über Themen, auf die du nie gekommen wärst oder hat einfach nur einen guten Tipp für eine neue Kneipe. Man könnte sagen: Ich nutze Tinder als Möglichkeit, Menschen im echten Leben kennen zu lernen. Ohne bestimmte Erwartungen, was daraus werden soll. Deshalb bin ich auch mit über zehn Männern noch in Kontakt. Darunter sind mittlerweile ein sehr guter Freund, drei gute Kumpels und ein paar lose Kontakte. Ich habe durch meine Dates viel über Männer gelernt. Möchte man pauschalisieren, gibt es zwei Typen: die Selbstbewussten, Selbstsicheren. Und die Zurückhaltenden, Schüchternen, die mit allem, was sie sagen und tun, eine gewisse Bedürftigkeit ausstrahlen. Meist kann ich schon nach wenigen Sekunden einschätzen, welcher Typ vor mir sitzt. Die Schüchternen mag ich oft total gerne – aber die landen irgendwie immer in der Friendzone. Viele Mänturi2 edition #5 · Digital Me

ner können ganz toll über sich selbst reden, vergessen aber, dem Gegenüber Fragen zu stellen und zuzuhören – und dann haben sie irgendwann keinen Gesprächsstoff mehr. Dabei ist es oft einfacher, die richtigen Fragen zu stellen, als selbst reden zu müssen. Oft sind es aber speziellere Sachen, die mich stören. Neulich hat mir jemand beim ersten Date ausführlich erzählt, wie ernsthaft er sucht und wie sehr er sich eine Beziehung wünscht. Das ist zwar löblich, aber das falsche Thema: Das erzeugt ja schon eine gewisse Erwartungshaltung. Vor längerer Zeit hat mir auch mal jemand beschrieben, wie er sich seine Hochzeit vorstellt und wie er danach im Eigenheim wohnen will. Da war klar: nicht mit mir. Was ein Date toll macht, ist nicht das Drumherum, sondern die Verbindung, die du zu dem Menschen spürst. Nach Nummer 11 habe ich einer Freundin geschrieben: „Bestes Date aller Zeiten“. Wir haben uns auf Anhieb verstanden, die Optik hat gepasst, wir konnten uns für die gleichen Dinge begeistern, da war einfach so eine Chemie da. Hinterher ist es trotzdem grandios gescheitert, klar, sonst gäbe es keine Nummer 49. Er hat mir zwar beim Treffen das Gefühl vermittelt, dass er ernsthaft sucht, aber kurz danach geschrieben, dass er eigentlich gar keine Zeit für eine Beziehung hat. Er wusste wohl einfach aus Erfahrung, was Frauen gut finden und beim ersten Date hören wollen. Auch für mich wird es langsam zur Herausforderung, authentisch zu bleiben und nicht das Standardprogramm abzuspulen. Mich wollen fast alle wiedersehen – sogar nach Dates, die ich persönlich richtig, richtig schlecht fand. Jemandem einen Korb zu geben, wird mir immer schwerfallen. Ich versuche zwar, so ehrlich wie möglich zu sein, will aber auch niemanden verletzen. Einen Korb zu bekommen, wird wohl auch nie leichter. Am meisten ent -täuscht hat mich Nummer 27. Wir hatten uns fünf Mal getroffen, ich war schon ziemlich verknallt. Dann bin ich bei Google auf seine Hochzeitsanzeige gestoßen, die gerade mal acht Monate alt war. Das war ein Schlag ins Gesicht.

Klar, wenn es 48 Mal nicht geklappt hat, denkt man sich bei Date Nummer 49 schon: Was bringt das überhaupt? Ich glaube trotzdem daran, dass es einen Menschen gibt, mit dem man lange Zeit glücklich sein kann. Jeder kennt ja Paare, die gern ihr Leben miteinander verbringen. Tinder hat nicht meine Sicht auf die Liebe, aber auf mich selbst verändert: Ich bin offener geworden, auch beim Small Talk im Alltag. Wenn du 49 Mal fremde Menschen zum ersten Mal triffst, weißt du irgendwann, worüber man reden kann. Aber es gibt auch negative Aspekte, die mir nicht nur an mir selbst, sondern auch an der Gesellschaft auffallen: Das Wissen um die große Auswahl, die man hat, macht was mit uns allen. Alles wird austauschbarer, beliebiger, du nimmst dir weniger Zeit, lässt dich weniger auf den Menschen ein, der dir gegenübersitzt. Gibst ihn schneller auf wegen Kleinigkeiten. In zehn Jahren würde ich mich optimalerweise schon mit einem Partner sehen, den ich in nicht allzu ferner Zukunft kennen lerne. Und ich würde mir wünschen, dass man nicht mehr hinter vorgehaltener Hand von Tinder erzählen muss. Vielleicht ist es dann ganz normal, den Partner online kennen zu lernen. Mit meinen Eltern könnte ich nicht darüber reden, die wären wohl ziemlich schockiert. Ich frage mich aber oft: Wie haben die das früher gemacht? Wie hat man sich da überhaupt verabredet, ohne Handy? Hat man da auf dem Festnetzapparat angerufen und hatte vielleicht sogar die Mutti am Apparat? Andererseits hat es die begrenzte Auswahl wohl auch einfacher gemacht. ♥

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Die Betten im Kreissaal des Klinikums Neuperlach MĂźnchen sind videoĂźberwacht

Von der Wiege


Im Keller des Bestattungsinstituts Rauffer lagern auĂ&#x;er einer rollbaren Bahre auch verschiedene Sargmodelle

Unser Leben wird immer digitaler. Nur Geburt und Tod sind noch analog. Dachten wir Von Tatjana Kerschbaumer und Stephan Sahm (Fotos)

bis zur Bahre


Wehen und WhatsApp Sarah Calliebe-Winter hört Herztöne per Holzrohr ab, ertastet Kinder im Mutterleib – und muss Eltern immer öfter erklären, dass Babys keinen Aus-Schalter haben

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er in Googles Suchmaske „Mein Kind“ eingibt, bekommt jede Menge Vorschläge: „Schläft nicht“, „isst nicht“, „hat O-Beine“ und – Überraschung – „schreit“. Und das ist das Problem. Das Schreien? Nein. „Das Problem ist, dass Eltern heute ständig alles nachlesen können“, sagt Hebamme Sarah Calliebe-Winter. Die zierliche Frau mit blauen Augen, 32 Jahre alt, begleitet seit zehn Jahren Schwangere und frischgebackene Mütter. Dabei machen ihr Google und Co zunehmend das Leben schwer. Eigentlich ist der Beruf der Hebamme sehr analog. Calliebe-Winter betreut Frauen auf Wunsch während der gesamten Schwangerschaft – so wie etwa Linn Oehlschlägel, frisch verheiratet und im 9. Monat. Hausbesuch mit Fahrrad, fünfter Stock, Kontrolltermin auf der grauen Couch im Wohnzimmer. „Wie war‘s beim Frauenarzt, alles okay?“ Alles super, erfährt Calliebe-Winter, bevor sie den Blutdruck misst und mit Schneidermaßband bewaffnet den Bauch in Augenschein nimmt. Ihr einziges digitales Werkzeug kommt nur bei Frauen zum Einsatz, die bereits geboren haben: eine Hängewaage, mit der sie das Gewicht des Babys kontrolliert. „Die gibt‘s aber auch mit Feder“, sagt sie. Sogar hier wäre digitale Technik nicht nötig. Eine Hebamme sieht mit den Händen. Sie braucht keinen Ultraschall, um zu merken, wie das Kind liegt, sondern die so genannten Leopold-Handgriffe – benannt nach dem 1846 geborenen Gynäkologen Christian Leopold. „Der Rücken eines Kindes fühlt sich ein bisschen an wie ein Schinken, fest, der Po ist weich, der Kopf hart“, erklärt Calliebe-Winter, während sie tastet und schiebt. Linn Oehlschlägel zuckt, ihr kleines Mädchen hat gerade gestrampelt. Calliebe-Winter holt ein hölzernes Hörrohr aus der Tasche, Herztöne prüfen. „Das funktioniert wie ein Baumtelefon.“ Sie setzt es an, berührt es nur mit ihrem Ohr und lauscht. Regelmäßiges Pochen. Auch jetzt: Alles okay. Die werdende Mutter auf der Couch lächelt. So entspannt wie Linn Oehlschlägel sind längst nicht alle Frauen. Und an diesem Punkt wird der Beruf der Hebamme doch digital. „Heute muss es für alles eine Erklärung geben“, sagt Calliebe-Winter. Es gibt zwei Varianten: Entweder die werdenden oder frischgebackenen Eltern googeln – und Calliebe-Winter muss bei ihrem nächsten Besuch manchen Internet-Irrtum ausräumen. Oder sie melden sich direkt bei ihr, bevorzugt via WhatsApp. Das kann schnell in Stress ausarten. „Demnächst bin ich nur noch auf dem Festnetz oder per Mail erreichbar. WhatsApp wird mir echt zu viel.“ Denn Chat-Nachrichten sind so schnell verschickt, dass bei Calliebe-Winter oft Fotos mit Fragen aufploppen: „Der Kopf von meinem Baby sieht irgendwie komisch aus. Ist das normal?“ „Ich sage meinen Frauen immer: Überlegt euch – muss das heute beantwortet werden? Oder reicht es nicht auch, wenn ich morgen sowieso vorbeikomme?“ Doch wen die Sorge um sein Kind umtreibt, der denkt eher selten daran, dass auch eine Hebamme mal Feierabend hat. Und die Generation

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Horchen, tasten, fühlen: Eine Hebamme sieht mit den Händen – digitale Geräte kommen kaum zum Einsatz

Smartphone ist auch ansonsten kompliziert: „Mir fällt auf, dass sich die Intuition in den letzten Jahren verschlechtert hat. Die Leute bekommen Kinder und sind total überfordert, weil ein Baby nicht funktioniert wie eine App. Da kann man sich nicht ausloggen oder den Aus-Schalter drücken.“ Dabei ist Calliebe-Winter alles andere als ein TechnikVerweigerer. Wenn sie schwangeren Frauen eine Liste gibt, was sie in den Kreissaal mitnehmen sollen, steht darauf auch: Fotoapparat. „Den hat heute zwar kaum noch jemand, es wird eher mit dem Handy fotografiert.“ Diesen Job übernimmt meist der Mann, der mittlerweile fast immer bei der Geburt dabei ist. Calliebe-Winter achtet lediglich darauf, dass er nur oberhalb des Bauchnabels knipst. Weiter unten haben während einer Geburt weder der Mann noch sein Samsung etwas verloren. Ihr Smartphone haben die meisten Frauen im Kreissaal natürlich auch dabei. Wenn sie ihre Familie informieren wollen, „dass es jetzt losgeht“ – dafür hat Calliebe-Winter Verständnis. Kopfschütteln bereitete ihr nur einmal ein Pärchen, das nebeneinander in zwei Krankenhausbetten campierte und um ein Uhr nachts miteinander Quizduell spielte. Die Frau lag in den Wehen, der Mann sollte sich ausruhen. Das Baby von Linn Oehlschlägel ist gesund und munter – jetzt wird es Zeit, sich um die werdende Mutter zu kümmern. Der Hausbesuch einer Hebamme dauert meist eine dreiviertel Stunde, und bei diesen Visiten schlägt das „FriseurPhänomen“ durch: „Wir sind auch Seelenklempner für die Frau. Wenn man sich mal erkundigt: ‚Und, wie geht‘s dir so?‘ antworten viele: ‚Endlich fragt mal wer!‘“ Während einer Schwangerschaft und nach der Geburt dreht sich alles so sehr um das Kind, dass die Mutter schon einmal hinten runterfällt. turi2 edition #5 · Digital Me


Es piekt, „aua“, schon sitzt eine Akupunkturnadel in Oehlschlägels Hand. Calliebe-Winter macht gerade eine entsprechende Zusatzausbildung, weil sie gemerkt hat, dass viele Schwangere gut auf Akupunktur ansprechen. „Man kann die Frauen damit gut beruhigen. Wir nennen das ‚psychisch ausgleichend akupunktieren‘.“ Oehlschlägel nickt. Sie hatte bereits früh in der Schwangerschaft leichte Wehen, „und seit der Akupunktur ist das wesentlich besser geworden“. Zwanzig Minuten bleiben die Nadeln stecken, danach wird Calliebe-Winter Oehlschlägels Kreuzbein mit blauem Kinesiologie-Tape bekleben. Gegen die Rückenschmerzen. „Das hält eine Woche, damit kannst du auch duschen.“ Wenn sie keine Hausbesuche macht, verbringt CalliebeWinter ihre Arbeitszeit im Klinikum Neuperlach in München. Dort gibt es weniger Akupunktur, stattdessen mehr Technik. „Die Ärzte sind sehr ultraschallaktiv“, sagt sie, „dabei kann man das, was man sieht, alles ertasten. Aber ich muss sagen: Gerade die Jüngeren lassen sich viel von uns zeigen.“ Der Kreissaal ist über Monitore einsehbar, nicht schlecht, manchmal kontraproduktiv: „Wenn man eine Frau über den Bildschirm beobachtet und sagt: ‚Hm, die müsste mehr trinken‘, macht das wenig Sinn. Dann geht man rein und bringt ihr ein Glas Wasser.“ Grundsätzlich gelten Geburten im Krankenhaus als sehr sicher, weil man die Frau perfekt überwachen kann. Trotzdem kann es vorkommen, dass ein Kind die Geburt nicht

überlebt – oder sogar die Mutter. Das sind tragische Fälle, die auch eine Hebamme sehr mitnehmen, die ihr Bestes getan hat. „Ich habe manchmal den Eindruck, dass solche Schicksale nicht mehr hingenommen werden, gerade weil die Technik so weit ist. Weil wir alles so gut überwachen können.“ Da ist sie wieder: die Frage nach dem Warum, der Wunsch, auf alles eine Erklärung zu bekommen. Und die Erkenntnis, dass es diese Erklärung auch im Digitalzeitalter manchmal einfach nicht gibt. „Man kann uns nicht ersetzen“, ist sich Calliebe-Winter sicher. Keine App und kein Computer der Welt führt das persönliche Gespräch mit einer Frau, die sieben Fehlgeburten hatte und jetzt in der achten Schwangerschaft völlig von der Rolle ist. Mit einer Mutter, die wissen will, wie das mit dem ersten Sex nach der Geburt läuft. „Unser Beruf ist ein Handwerk. Und das alte Wissen funktioniert immer noch.“ Der Hausbesuch bei Linn Oehlschlägel ist vorbei, die Akupunkturnadeln gezogen, das blaue Tape wieder in die Tasche gewandert. Calliebe-Winters Smartphone brummt, eine ihrer Wöchnerinnen schickt ein Babyfoto, einfach so. „Ich will solche Kinderfotos von meinen Freundinnen bekommen, nicht von den Frauen, die ich betreue.“ Sie seufzt. Sie wird „ihre Frauen“ bitten, ihre Handynummer zu löschen; neuen Wöchnerinnen wird sie sie nicht mehr geben. „Dann bin ich nur noch über Festnetz und Mail erreichbar. Wann ich meine Mails abrufe, ist meine Sache.“

Das letzte Foto Früher war der Beruf des Bestatters klar geregelt: abholen, anziehen, zum Friedhof bringen. Doch auch der Tod ist mittlerweile digital

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ann ich ein Foto von Opa machen?“ Eigentlich würde der Enkel seinen Großvater persönlich fragen. Opa sieht gut aus heute, er trägt schöne Kleider, ist ordent„ lich rasiert. Aber Opa antwortet nicht mehr. Deshalb geht die Bitte oft an Matthias Rauffer und seine Schwester Petra Six. Dann, wenn Opa aufgebahrt im Verabschiedungsraum ihres Bestattungsinstituts liegt. Ein Verabschiedungsraum ist ein Ort, an dem die Familie zusammenkommen kann, bevor ihr Verstorbener bestattet wird. Um ihn ein letztes Mal zu sehen. Oder: um ein letztes Foto zu machen. „Wir haben da nichts dagegen“, sind sich die Geschwister einig. Die Älteren würden verschämt fragen, einige Jüngere ebenfalls. Für die ganz Jungen ist fotografieren so normal, dass automatisch das Smartphone gezückt wird. Zugegeben: Es war schon im späten 19. Jahrhundert üblich, Tote zu fotografieren. Nach der Erfindung der Daguerreotypie hielten viele reiche Familien ihre Verstorbenen kurz nach deren Tod auf Bildern fest. Auch die Prominenz wurde noch einmal verewigt, es gibt ein Post-mortem-Foto von Abraham Lincoln, eines von Otto von Bismarck. Nach 1940 verschwand der Brauch der Totenfotografie in Nordeuropa. Jetzt ist er wieder da, im Kellergeschoss des Bestattungsinstituts Rauffer, Miesbach, Oberbayern. Grund dafür sind die allgegenwärtigen Handys mit Kamerafunktion. Oder, größer gefasst: die Digitalisierung. Sie macht auch vor dem Beruf des Bestatters nicht halt, der über Jahrhunderte strikten Konventionen folgte. Doch seitdem es Smartphones und Internet gibt, hat sich vieles verändert. turi2 edition #5 · Digital Me

Das Leichenhaus dekorieren Matthias Rauffer und Petra Six nach den Wünschen der Angehörigen

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Matthias Rauffer, 47, gut gebräunt, und Petra Six, 49, blondes Haar und Goldkettchen, sind sich manchmal nicht sicher: Sollen sie das gut oder schlecht finden? „Wir sind mit dem Handy heute rund um die Uhr erreichbar.“ Die Website bewirbt die 24-Stunden-Hotline des Familienbetriebs, und ja, grundsätzlich konnten Angehörige auch vor 25 Jahren mitten in der Nacht anrufen. Damals ging noch die Oma ans Telefon, die sowieso fast immer zu Hause war. Heute muss zwar niemand mehr ständig neben dem Festnetzapparat sitzen, dafür klingelt es jetzt in der Hosentasche – egal ob Weihnachten ist oder Ostersonntag Vormittag. Meistens antworten Rauffer oder Six persönlich, am Wochenende haben sie die Telefondienste auf vier Mitarbeiterinnen verteilt. Jede hat einmal im Monat Bereitschaft und muss das Smartphone mit ins Bett nehmen. Wenn es dann läutet, wird der Chef wach geklingelt: „Ein geplanter Tagesablauf ist in diesem Beruf nicht möglich.“ Die meisten Nachtfahrten macht ein Bestatter für die Polizei. Wenn bei einem Verstorbenen die Todesursache unklar ist, scheuen sich Ärzte oft davor, einen „natürlichen Tod“ zu bescheinigen. Stattdessen wählen sie die Option „unklar“ – dann wird die Polizei hinzugezogen, die den Leichnam beschlagnahmt. Die wiederum tätigt den nächtlichen Anruf bei Familie Rauffer, die auch um halb drei Uhr morgens ausrückt und den Verstorbenen abholt. Dann entscheidet die Justiz: Obduktion? Oder doch natürlicher Tod? Oft ist es später ein „natürlicher Tod“. „Es gibt aber auch Angehörige, die spät nachts noch anrufen“, erklärt Six. Dabei ist es keine Pflicht, bei einem Todesfall innerhalb der nächsten zehn Minuten den Bestatter zu informieren. Zunächst sollte ohnehin ein Arzt den Tod feststellen, danach gilt: „Der Tote kann sofort abgeholt werden. Er muss aber nicht.“ Er könnte durchaus noch eine Nacht im Haus bleiben. Manche Verwandte wünschen sich sogar eine Aufbahrung zu Hause, etwa, wenn jemand im Krankenhaus gestorben ist. Andere kommen damit nicht so gut zurecht. „Das klingt dann manchmal ein wenig nach: ‚Der muss jetzt raus‘“, sagt Six. „Ich habe den Eindruck, früher waren die Menschen den Tod eher gewohnt. Heute sind sie viel aufgeregter.“

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Das „Ständig-im-Dienst-Gefühl“ ist oft stressig. Aber das Internet und die mobile Kommunikation haben viele Dinge auch vereinfacht. Beispiel Sterbebilder: Es ist üblich, für einen Verstorbenen ein Andachtskärtchen zu entwerfen, das bei der Beisetzung an die Anwesenden verteilt wird. Früher listeten die Kärtchen auf, wie viele „Gegrüßet seist du, Maria“ man für den Toten beten sollte. Heute sind Sterbebilder eher Erinnerungsstücke – und das darauf abgedruckte Foto des Verstorbenen erreicht das Bestattungsinstitut meist per Mail. Auch die Sterbebild-Produktion macht der Familienbetrieb seit 1996 selbst. In der kleinen „Druckerei“ im Erdgeschoss, die auch als Kaffeeküche dient, stehen PC, Drucker, Laminiergerät. Über dem Computer hängt ein Schild: „Die Welt ist ein Irrenhaus – und hier ist die Zentrale.“ Der Spruch wirkt verständlich, wenn Six erzählt, dass die Lokalzeitung seit kurzem wünscht, sie möge die Todesanzeigen fertig gelayoutet in die Redaktion schicken. „Das haben wir aber nicht gelernt!“ Deshalb landen die Wünsche der Angehörigen weiterhin per Fax beim „Miesbacher Merkur“. Ums Zeitungslayout sollen sich bitte Profis kümmern, die dafür bezahlt werden. „Wir sind mittlerweile fast so etwas wie Event-Manager“, Six lacht. Früher setzte sich der Beruf des Bestatters vor allem aus drei Komponenten zusammen: abholen, anziehen, den Verstorbenen zum Friedhof bringen. Heute fällt erst einmal eine Menge Bürokratie an, Geburts-, Heirats- und sogar Scheidungsurkunden des Toten wollen organisiert sein, obwohl sie manchmal unauffindbar sind. Je nachdem, wie gut sortiert die digitalen Archive der Gemeinden bereits sind, bedeutet das: persönlich auf dem Standesamt vorbeischauen. Den Akten hinterhertelefonieren. Nicht alles liegt im Dateiformat vor, trotzdem geht der mediale Wandel weiter. Sogar das Krematorium in Traunstein, mit dem das Bestattungsinstitut zusammenarbeitet, hätte die Anmeldung einer Einäscherung am liebsten online. Nur schlecht, dass „da unten ständig das Internet ausfällt“. Auch die Angehörigen sind anspruchsvoller geworden. Sie machen nicht nur Fotos im Verabschiedungsraum, sondern wünschen sich eine Bestattung, die individuell auf den Verstorbenen zugeschnitten ist. Das beginnt bei den Sterbebildern und endet dann, wenn Rauffers Team am Grab eine Musikanlage aufbaut, damit Lieder gespielt werden können, die der Tote zu Lebzeiten gern gehört hat. CD, iTunes, Spotify – alles ist möglich. Einmal, bei der Trauerfeier eines jungen Mannes, lief ACDC. Auch die Gäste waren unkonventionell, tätowiert, mit wilden Frisuren. Eine ältere Dame, ein Sträußchen Rosen in der Hand, stellte sich dazu und ließ sich geduldig mit Hardrock beschallen. Erst als sie vortrat, um die Blumen abzulegen, merkte sie, dass sie auf der falschen Beerdigung war. Und packte die Rosen wieder ein. Matthias Rauffer schaut manchmal interessiert nach Tirol in Österreich, nicht weit von Miesbach entfernt. Dort gibt es Bestatter, die ihre Website mit einem Trauerportal verknüpft haben. Menschen können so eine digitale Kerze für Verstorbene anzünden. Dann denkt er: „So eine Seite hätte ich auch gern.“ Andererseits fände er das nur sinnvoll, wenn dort alle Verstorbenen des Landkreises zu finden wären – aber was, wenn jemand von einem Kollegen mit anderer Website bestattet wird? Schon wäre die Liste unvollständig. Auch der Aufwand scheint ihm zu groß. „Das muss man wirklich ständig aktuell halten.“ Außerdem gibt es in den Regionen, in denen der „Münchner Merkur“ erscheint, die Website trauer.de. Todesanzeigen, die in der Zeitung erscheinen, finden sich auch dort wieder. Durchgesetzt hat sich trauer.de zwar nicht, aber der Bestatter glaubt, „dass es online in Zukunft viel mehr Möglichkeiten geben wird“. Er könnte Recht behalten. In Tirol, sagt er, gibt es seit einiger Zeit Newsletter. Ihr Inhalt: die kürzlich Verstorbenen. turi2 edition #5 · Digital Me



Gefällt mir ... nicht wirklich Wenn mich mal eine Mücke piekt oder mich Felix nicht mehr liebt dann weiß das gleich die ganze Welt und drückt entsprechend auf Gefällt mir! – oder eher nicht ... Ich teil´ mein Leben und Gesicht mit hundertvierundfünfzig Mann dem Psychopath von nebenan Vereinskollegen, Saufkumpanen – und sechsundreißig sexy Damen.

Tatjana Kerschbaumer Redaktionsleiterin der „turi2 edition“

In der AugmentedReality-App zur „turi2 edition“ liest die Autorin und Slammerin ihr Gedicht turi2.de/edition/gedicht

Das Schöne: Ich bin kein Solist! Ein jeder postet jeden Mist. Ich stelle fest: Ein Seelen-Strip ist online momentan sehr hip. Ich seh‘, wer grad mit wem was hat und wer noch immer Single ist dass Susi Rolf ganz doll vermisst – weil er der Allerbeste ist – wer lieber feiern geht, anstatt zu seiner Arbeit zu erscheinen. Bei so viel Dummheit muss ich weinen. Ben liest ein Buch von Bertolt Brecht, Tamara geht‘s ganz furchtbar schlecht, Christine strickt an einem Schal. Ich stelle fest: Ist mir egal. Doch mag man sich auch noch so zieren: Man kann nicht alles ignorieren. Es tauchen neue Fragen auf. Ist Chef ein Freund? Was sagt man drauf? Und will man einen Kommunisten wirklich in seinen Freundeslisten? Wie steht‘s erst mit den Atheisten? Oder den CDU-Getreuen? Soll man sich über sowas freuen – oder die „Freundschaft“ annullieren? Was soll ich tun? Kapitulieren? Die Technik treibt den Mensch voran. Wer schlau ist, stellt sich hinten an.

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Die Macher Peter Turi ist Verleger, Gründer des Fachverlags turi2 und Herausgeber der „turi2 edition“. Uwe C. Beyer ist Zeitschriftengestalter und bestimmt als Co-Herausgeber die optische Linie. Tatjana Kerschbaumer ist Autorin und verantwortet als Redaktionsleiterin alle Texte. Lea-Maria Kut ist Art Directorin und leitet die Gestaltung und die Produktion der „turi2 edition“. Johannes Arlt ist Fotograf und definiert als Fotochef die Bildsprache der Buchreihe.

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Personenregister Abousteit, Nora 157 Alex, Anna 156 al-Fayed, Dodi 147 Allen, Woody 25 Arlt, Johannes 9, 39, 69 Augstein, Rudolf 82 Aust, Stefan 112 Beck, Zoë 159 Bee, Dagi 126 Bessau, Hubertus 80 Betz, Sebastian 72 Beyer, Horst 38, 54 Bezos, Jeff 24 Bibi 130, 133 Bittner, Anja 119 Bittner, Johannes 119 Bohlen, Dieter 126 Bono 128 Borgmeyer, Alessio 85 Bornschein, Christoph 158 Bostrom, Nick 36 Böhme, Hildegard Wally 39, 50 Bösch, Julia 156 Braun, Axel 95 Brecht, Bertolt 135, 190 Breul, David 91 Brinkbäumer, Klaus 83 Broer, Angela 13, 98 Busch, Michael 86 Bushman, Brad 137 Büchner, Wolfgang 82 Calliebe-Winter, Sarah 186 Caspar, Stephanie 13, 111 Chaldei, Jewgeni 145 Christie, Agatha 164 Claßen, Julian 130, 132 Clinton, Hillary 17, 126 Cobain, Kurt 137 Cooper, Alice 133 Czieslik, Björn 114 Daur, Caro 129, 136 Dean, James 137 Di, Lady 147 Diefenbach, Sarah 18 Doub, Jesper 12, 13, 82 Döpfner, Mathias 29, 34 Dulias, Uwe 102 Effenberg, Stefan 102 Einstein, Albert 142 Eno, Brian 20 Esser, Rainer 99 Farooq, Nilam 129 Favre, Lucien 102 Feldvoss, Hauke 89 Fenske, Marco 13, 102 Fischer, Anne 39, 119 Fischer, Thorsten 12, 13, 96 Flury, Doris 90 Frantzen, Jonathan 127 Friege, Christian 13, 106 Fuchs, Christa 39, 58 Fuchs, Daniel 127 Fuss, Wolff 102 G, Harry 105 Gates, Bill 128 Genz, Andreas 92 Gerster, Petra 60 Goebbels, Joseph 147 Gordon, Shep 133 Grieß, Andreas 13, 141 Grimm, Imre 125 Gröhe, Hermann 119 Hagemann, Anne-Nikolin 154, 166, 175 Han, Byung-Chul 137 Hans, Barbara 83 Harig, Stefanie 113 Hass, Thomas 82 Hazlitt, William 136 Heitkamp, Carsten 13, 106 Hensen, Joris 13, 101 Hepburn, Audrey 89

Hesse, Gero 120 Hesse, Hermann 126 Hetfield, James 137 Hitler, Adolf 147 Holiday, Billie 154 Hollander, Rolf 108 Honig, Esther 152 Horstmannshoff, Steffen 90 Hörbiger, Paul 60 Hubert, Peter 105 Huffine, Candice 150

Reif, Pamela 125 Reuter, Hans 39, 62 Reuther, Heike 95, 112, 175 Riefenstahl, Leni 147 Risch, Sarah 13, 139 Rose, Axl 137 Rose, Ruby 129 Rousseau, Jean-Jacques 127 Rummel, Josef junior 166 Rummel, Josef senior 169 Rummel, Lena 169

Itsines, Kayla 134

Sahm, Stephan 166, 185 Sarinana, Julie 130 Sartre, Jean-Paul 135 Schiesser, Hans 163 Schleunung, Christoph 96 Schmidt, Eric 25 Schneider, Romy 137 Schoderböck, Sven 117 Schriever, John B. 144 Schuler, Ralf 104 Schulte-Hillen, Gerd 29 Seither, Valerian 89 Shing, David 142 Shugart, Alan 20 Sieburg, Friedrich 136 Six, Petra 187 Slimani, Sami 128, 132 Sloterdijk, Peter 30 Stadthoewer, Frank 12, 13, 111 Stalin, Josef 146 Stascheit, Dirk 18 Städel, Johann Friedrich 95 Stelar, Parov 154

Jackson, Michael 137 Jobs, Steve 20 Jonietz, Ansgar 119 Kamenew, Lew 146 Kant, Immanuel 30 Kardashian, Kim 126, 133 Karsten, Jan 159 Kausman, Meaghan 150 Kebekus, Carolin 137 Keese, Christoph 12, 13, 28 Kerschbaumer, Tatjana 13, 78, 85, 142, 144, 154, 163, 175, 185, 190 Kierkegaard, Sören 25 Klausner, Harriet 18 Koch, Michael 101 Korimorth, Alexandra 89, 105 Kraiss, Philipp 80 Kühne, Fränzi 158 Landau, Lothar 86 Lea 39, 66 Lehar, Franz 59 Lenin, Iljitsch Wladimir 146 Leopold, Christian 186 Lincoln, Abraham 187 Lingen, Theo 60 Lochmann, Heiko 130 Lochmann, Roman 130 Lowen, Alexander 137 Madonna 137 Marmeladenoma 157 Marple, Miss 164 Marx, Karl 25 May, Theresa 126 Meeks, Jeremy 25 Meiritz, Alexander 89 Merkel, Reiner 92 Meyer, Carl-Eduard 110 Michalsky, Oliver 111 Mickens, James 142 Miller, Alice 137 Mommert, Uwe 13, 86 Monroe, Marylin 133, 137 Montague, Tiffany 142 Moser, Hans 60 Müller, Tarek 12, 13, 68 Nake, Frieder 158 Nettesheim, Katja 24 Neumüller, Heinz 107 Nida-Rümelin, Julian 99 Nieswandt, Alexander 113 Obama, Barack 128 Oehlschlägel, Linn 186 Oertel, Helmut, 38, 40 Otto, Benjamin 72 Ovid 136 Panda, Simeon 135 Park, Enno 159 Peck, Gregory 89 Peters, Jan-Eric 111 Pohl, Rüdiger 99 Pohlgeers, Frank 101 Poirot, Hercule 164 Poschardt, Ulf 112 Presley, Elvis 137 Prince 137 Putin, Wladimir 128, 148 Raab, Daniel 112 Range, Erik 130 Rangnick, Ralf 102 Rauffer, Matthias 187

Talinski, Holger 29 Tarrega, Francisco 20 Temaismithi, Boontham 158 Teuchtler, Annika 38 Thomann, Hans junior 114 Thomann, Hans senior 114 Timm, Lina 156 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 95 Trantow, Markus 90, 96, 102, 107 Trotzki, Leo 146 Trump, Donald 126, 137, 148 Trump, Fred 137 Trump, Freddy 137 Turi, Peter 9, 24, 29, 69, 121 Twiehaus, Jens 13, 82, 86, 92, 99, 101, 104, 110, 111, 140, 154

Medien und Marken Abendzeitung 103 About You 69, 70, 72, 75 Accor 86 Adobe 92 Allianz 120 Alphabet 24 Amazon 18, 24, 25, 35, 36, 72, 75, 98, 101, 114, 117, 140 AOL 142 Apple 20, 25, 108, 142 ARD 42 Argus 86 Babbel 139 Berliner Zeitung 29 Bertelsmann 97, 119, 120 Bestattungsinstitut Rauffer 185, 187 Bild 34, 77, 87, 104 Bravo 130 Bräustüberl 77, 105 Burda Style 157 Cartier 129 Cewe 77, 106 Club of Cooks 77, 90 CraftJam 157 CulturBooks 159 Deutsche Bank 12, 77, 101 Deutsche Bahn 18 Deutschlandfunk 42 Dior 129 Disney 130 dpa 92, 110 Ebay 72 Edeka 22, 70, 80 Emmy 77, 89 Facebook 25, 42, 46, 56, 90, 91, 97, 101, 105, 108, 112, 125, 134, 157, 180 FAZ 56 Financial Times 29, 95 Flipboard 34 Flyeralarm 77, 96 Ford 59 Fox 130

Uehlecke, Jens 91 Ullrich, Marc 113

Gerry Weber 52 glassdoor 122 Google 24, 25, 34, 64, 66, 86, 87, 101, 102, 110, 118, 119, 142, 157, 160, 163, 183, 186 Gruner + Jahr 29, 90, 91, 98, 120

von Bismarck, Otto 187 von der Kall, Nils 13, 100 von Hirschhausen, Eckart 119 von Schwerin, Peter-Franz Graf 163

Handelsblatt, 85 Haslinger Hof 163 Heidelberger Druck 9, 96, 194 Houseparty 46 Hy 29, 34

Wais, Jakob 13, 104 Walser, Martin 7 Warhol, Andy 137 Wedel, Moritz 104 Weise, Hannes 72 Weise, Kai 104 Wilkens, Katrin 160 Williams, Robbie 137 Wittrock, Max 80 Wolf, Bruno 38, 48 Wolf, Max 38, 48

IBM 30, 64 Iglo 91 Immoscout 179 Instagram 18, 24, 25, 46, 75, 87, 90, 91, 95, 113, 121, 125, 128, 134, 141

Yogeshwar, Ranga 105 Zendaya 150 Zevin, Dan 137 Zischg, Harry 105 Zuckerberg, Mark 25, 34, 91

Jodel 77, 84 Jonny Fresh 140 Karstadt 52 Keypoint Intelligence 18 Klinikum Neuperlach 184, 187 Kodak 164 Kollabora 157 kununu 122 Landau Media 77, 86 Lego 48 Leica 54 Liebighaus 95 Lumas 113 Madsack 102 Manager Magazin 129 Marc O‘Polo 129 McKinsey 111 MediaKraft 90 MediaLab Bayern 156

Metro 92 Microsoft 20, 142 Miesbacher Merkur 188 Mirapodo 111 Mirror 147 MTV 130 Multi Packaging Solutions 9, 194 Münchner Merkur 188 mymuesli 77, 78 MyTaxi 140 Neon 121 Netflix 18, 98, 104 Netimpact 70 Netzmanufaktur 119 News Aktuell 77, 110 New York Times 157 Nokia 20 Osram 120 Ostsee-Zeitung 64 Otto 69, 70, 72, 75 Outfittery 156 Parship 25, 176, 178 Photoshop 22, 143 Picture Alliance 77, 92 Pinterest 113 Playboy 151 Politico 34 Presse Monitor Deutschland 87 Qwant 34 Rewe 80 RTL 51 Samsung 20, 95, 186 Schleunung 9 Shutterstock 92 Skype 46, 64 Snapchat 22, 46, 82, 91, 121 Sony 130 Spiegel 77, 82 Sportbuzzer 77, 102 Spotify 100, 188 Springer 29, 33, 34, 104, 111, 119 Städel 77, 95 stern 87, 121 Strava 141 Stuff 151 Süddeutsche Zeitung 56 Telekom 52, 120 Territory Embrace 120 Thomann 77, 114 Time Magazine 128 Tinder 25, 174 TLGG 158 Tommy Hilfiger 129 Tumblr 157 Twitch 157 Twitter 25, 56, 97, 134 Universal Deutschland 91 Upday 34 VIVA 130 Was hab‘ ich? 77, 119 Welt 34, 112 Welt am Sonntag 29 WeltN24 12, 77, 111 Wempe 129 Westermann 54 WhatsApp 25, 46, 83, 101, 121, 172, 180, 186 WhiteWall 77, 112 Xing 99 Yahoo 142 YikYak 85 YouTube 24, 25, 46, 75, 90, 99, 100, 105, 118, 125, 128, 134 Zalando 75 ZDF 117 Zeit 100 Zeit Akademie 77, 98 Zimpel 110


Ich bin, was ich bin — in den Augen der anderen. Denn erst Likes und Shares machen uns zum Gewinner in der Ökonomie der digitalen Aufmerksamkeit. Tatjana Kerschbaumer, Peter Turi und das Team von turi2 beschreiben eine Welt, die das Ego ins Zentrum rückt.

turi2 edition 5 – Digital Me

Deutschland EUR 20,– Österreich EUR 20,– Frankreich EUR 20,– Schweiz SFR 20,– England £ 20,–

9 783981 915501 ISBN 978-3-9819155-0-1 ISSN 2366-2131


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