“2023 müssen alle Kommunikationsprofis zeigen, was sie drauf haben”: Lutz Meyer über PR-Blasen und Polarisierung.
17. Oktober 2022
Never waste a good crisis:Lutz Meyer hat die Autobranche durch ihre tiefste Krise begleitet, nun bietet er sich mit seinen Mitgesellschaftern in der Berlin Advisory Group der Wirtschaft als Krisenhelfer an. “Wir erleben gerade, wie verwundbar unsere geordnete Wohlstandswelt ist”, sagt er im Interview mit Peter Turi und weiß, dass sich Produktion, Handel und Marketing verändern werden. Künftig stehen “Profil und Haltung” vor “Lyrik und Wolken”.
Never waste a good crisis, sagt Winston Churchill. Hand aufs Herz: Willst du nach deinem Abgang als Kommunikationschef des Automobil-Lobbyverbandes VDA jetzt Krisengewinner sein?
In einer Krise anpacken und die Lage drehen, das ist für mich das Hochamt der Kommunikation. Als ich zur Autoindustrie geholt wurde, steckte sie in einer tiefen Krise: Diesel-Betupper, Tesla-Verlierer, Klima-Bremser stand in den Headlines. Heute, nach 24 Monaten sind die deutschen Unternehmen wieder ganz vorne, mit E-Autos und E-LKW, Wasserstoff, Ladeinfrastruktur und vielen neuen Modellen. Wir haben mit strategischer Industriekommunikation eine neue Wahrnehmung bereitet, das ist gelungen.
An Selbstbewusstsein fehlt es dir jedenfalls nicht. Und jetzt?
Jetzt trifft uns alle die Zeitenwende. Russlands Aggression, Rezession, Energiepreise, Personalmangel, Inflation, China und galoppierende Staatsschulden. Die Unternehmen müssen sich jetzt aufstellen für diese neue Zeit, die jetzt beginnt, und sie müssen fast alles neu bedenken. Technologien, Kosten, Kunden, Kapitalmarkt. Aber: Jedes Unternehmen kann auch ein Krisengewinner werden. Dabei will ich helfen.
Wer sind aktuell die Gewinner der Multi-Krisen?
Im Moment sehe ich keine echten Gewinner, denn wir erleben gerade, wie verwundbar unsere geordnete Wohlstandswelt ist. Vieles kann sich sehr schnell ändern, die Angreifbarkeit unserer Marktmechanismen und Infrastruktur ist erschreckend. Diese neue Zeit zwingt zu neuem Denken, denn die Realität frisst viele Illusionen. Produktion, Handel, Markenführung und Marketing werden sich verändern müssen. Für die Kommunikation bedeutet das: weniger Lyrik und Wolken, mehr Profil und Haltung.
Wer sind die Verlierer?
Drei Gruppen werden verlieren: Energiefresser, weil sie nicht mehr bezahlbar sind. Produkte mit erheblichen moralischen Defiziten, denn Europa hat sich vorgenommen, der Kontinent der praktischen Vernunft zu sein und die Unternehmen werden sich dem fügen müssen. Und die schlecht Informierten. Wann könnte China Taiwan angreifen und damit viele Handelsbeziehungen zerreißen? Welche Infrastrukturen kann Russland angreifen und wie sind wir geschützt? Wie passen die hohen Energiekosten mit den Green-Deal-Vorgaben der EU zusammen? Was bedeutet die CO2-Steuer für Importe für die Produktion? Und wie ändert all das die DNA eines Unternehmens? Die CEO-Agenda war immer schon komplex, aber jetzt erleben wir eine neue Qualität. Alles ist mit allem verbunden und es braucht schnelle Entscheidungen, die weitreichende Folgen haben für die Marke, die Beschäftigten, die Profitabilität und vieles mehr. Wer zu wenig dieser Komplexität verarbeitet, wird am Ende falsch liegen.
Zusammen mit Ana-Cristina Grohnert, Jan F. Kallmorgen und Joachim Lang hast du die Berlin Advisory Group GmbH gegründet – wem wollt Ihr helfen?
Das Angebot unserer vier Beratungen umfasst fast alles, was Mittelstand und große Unternehmen brauchen. Z.B. eine konsistente Story für die Kunden, Mitarbeiter, Medien und den Kapitalmarkt und den öffentlichen Auftritt des CEOs, Hilfe bei neuen Energiepartnerschaften, Aufklärung über Risiken in Auslandsmärkten, Verbesserung des Recruiting, Themenführerschaft, Interessenvertretung in Deutschland, Europa und aller Welt. Wir können uns bei fast allen Aufgaben künftig intern Wissen und Ideen dazu holen, die uns und damit die Kunden besser machen.
Was heißt das konkret?
Alle Unternehmen entwickeln oder erneuern ihre Nachhaltigkeitsagenda. Die Klimaziele der EU für 2050 und von Deutschland für 2045 müssen verarbeitet werden. Und damit wird bei den meisten das ganze Geschäftsmodell erneuert. Der Purpose muss erneuert werden, das Narrativ und damit der Stil des Marketings und der Kommunikation. Wenn restrukturiert wird, ist das oft mit viel Ärger verbunden. Wenn aber der Wandel gut erklärt wird, entsteht viel Unterstützung.
Lutz, gib bitte unbezahlte Risiko-Beratung für die turi2-Community. Worauf müssen sich Kommunikationsprofis für 2023 vorbereiten?
Der Winter wird eine unschöne Kombination aus zu hohen Energiepreisen für die Haushalte und viele Unternehmen werden, Kriegshandlungen gleich nebenan, weitere Angriffe auf unsere Infrastruktur erleben, Inflation und das zum Jahresbeginn mit Dunkelheit und kälteren Wohnungen. Das wird allen auf die Psyche schlagen. Den Belegschaften, den Kunden, den Medienmachern und auch uns selbst. Heißt: Der öffentliche Streit wächst, gleichzeitig schrumpft Toleranz für PR-Blasen von Unternehmen. Die Lösung ist eine ehrliche und empathische Kommunikation der Unternehmen, alles andere wirkt aus der Zeit gefallen. 2023 müssen alle Kommunikationsprofis zeigen, was sie drauf haben.