“Es geht um die Zerstörung der faktischen Welt”: Birand Bingül über das “Monster der Propaganda”.
16. Februar 2023
Masse statt Maß: Propaganda hat es als politisches Geschäftsmodell zu weltweitem Erfolg gebracht, beobachtet Birand Bingül. Der ehemalige ARD-Kommunikationschef, heute Geschäftsführer bei FischerAppelt Advisors, warnt davor, vermeintlich platte Sprüche einschlägiger Politikerinnen zu belächeln. In seinem neuen Buch erklärt Bingül den “kommunikativen Masterplan” von Propaganda-Parteien, auch in Deutschland. Im Interview beschreibt er, was seine Branche anders macht – und sagt: PR lügt nicht.
Birand Bingül, Sie waren Journalist, haben für die Nachrichten-Flaggschiffe “Tagesschau” und “Tagesthemen” gearbeitet. Dann sind Sie in die PR gegangen. Erst beim WDR, dann bei der ARD, jetzt bei FischerAppelt. Haben Sie den Seitenwechsel je bereut?
Nein. Aber es gibt Ereignisse, bei denen ich genau weiß, was gerade in der “Tagesschau”-Redaktion passiert. In solchen Momenten kann ich mir schon vorstellen, wieder dabei zu sein.
Welche Ereignisse sind das?
Gerade beschäftigt mich das Erdbeben in der Türkei – auch aus biografischen Gründen. Und ich denke an die letzte US-Präsidentschaftswahl. Bei der Wahl davor, 2016, war ich in der Nacht, in der Donald Trump gewann, als Redakteur in der Regie, über elf Stunden Live-Sendung. Das sind News-Momente, die man nicht vergisst. Aber ich bereue nichts. Im Gegenteil. Ich bin in meinem jetzigen Job sehr glücklich.
In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie, wie Propaganda-Parteien weltweit daran arbeiten, Demokratien zu zersetzen. Sie müssen es also wissen: Wo hört PR auf, wo fängt Propaganda an?
PR und Propaganda sind für mich grundverschieden! Propaganda will manipulieren und indoktrinieren und ist damit der radikale Missbrauch von strategischer Kommunikation, eine Perversion. Propaganda lügt. Sie inszeniert ein Verwirrspiel um Lüge und Wahrheit. Für PR ist das ein No-Go. PR will überzeugen und sagt: “Hier sind unsere Argumente. Das sind unsere Stärken.” Die Ziele von PR sind klar und offen.
Offen? Aber es geht doch darum, Geld zu verdienen.
PR verschleiert und verheimlicht im Gegensatz zur Propaganda ihre Ziele nicht. Propagandisten tun so, als würde es ihnen um das Wahlvolk gehen. Die Macht wollen sie aber nur um der Macht willen. Anders als bei klassischen Parteien gibt es keine konstanten Kernthemen. Sie verfolgen – so wie Viktor Orbán und Recep Tayyip Erdoğan das im Laufe ihrer politischen Karrieren getan haben – irgendeine Linie, solange sie damit Leute hinter sich scharen können. Das ist Rattenfängerei.
Sie sagen, PR lügt nicht. Die ungeschminkte Wahrheit sagt die PR aber doch in der Regel auch nicht. Sie setzt Frames: Probleme sind immer “Herausforderungen”. Und wenn Führungskräfte Firmen verlassen, geschieht das fast immer einvernehmlich – selbst wenn vorher die Fetzen geflogen sind. Ist die Sprache hier nicht auch verschleiernd?
Sie vergleichen jetzt einen schwer durchschaubaren manipulativen Masterplan der Propaganda, der die liberale Demokratie aushebeln soll und seit einigen Jahren ins Wanken bringt, mit ein paar beschönigenden Sätzen, die als Ritual unschwer erkennbar sind. Da liegen für mich Welten dazwischen. Im Übrigen kann man sich fetzen, dann einigen und am Ende nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen wollen. Das kennt der eine oder andere vielleicht aus persönlichen Beziehungen.
Welche Themen würden Sie als PR-Stratege niemals bearbeiten wollen?
Da habe ich glaube ich einen ganz guten Kompass und über die Jahre einen seriösen Track Record. Generell kann ich mich für Nebelkerzen und Window Dressing nicht erwärmen. Für mich steht strategische Kommunikation im Herzen von Unternehmen und Organisationen. Kommunikation und Management-Handeln hängen eng zusammen. Wenn jemand zur Einsicht gelangt ist, dass er kommunikativ auf dem Holzpfad war, und ernsthaft einen besseren Weg inklusive nötiger Management-Entscheidungen einschlagen will, kann ich dem zumindest erst einmal eine Legitimität abgewinnen.
Welche Werte sollten gelten in der PR?
Einige habe ich ja schon erwähnt. Ich brauche die PR-Branche auch gar nicht zu belehren: Wie es einen Pressekodex für Medienschaffende gibt, gibt es in Deutschland auch einen Kommunikationskodex für professionelle PR. Angesprochen werden unter anderem Wahrhaftigkeit, Transparenz und Integrität.
Zurück zu Ihrem Buch: Nehmen wir das “Monster der Propaganda”, wie Sie es nennen, ausreichend ernst?
Wir unterschätzen es. Den Propaganda-Begriff nutzen wir inflationär, gerade im Zusammenhang mit Russland. Dabei sehen wir oft nicht, dass dasselbe Strickmuster auch bei uns im Westen läuft, in den USA, in Deutschland. Da ist so etwas wie ein Masterplan, eine Blaupause für Propaganda-Parteien entstanden. Und die Wahlergebnisse in vielen Ländern zeigen, dass sie erfolgreich ist. Propaganda will die liberale Demokratie, wie wir sie kennen, zertrümmern.
Wie sieht dieser Masterplan aus Kommunikationssicht aus?
Die Propagandisten siedeln sich abseits des bestehenden Parteien-Systems an, indem sie sagen: “Wir sind anders als die anderen, anders als die da oben. Wir sind wie ihr!” Sie brechen bewusst mit der Norm der sachlichen Diskussion, sind gegen das “System”. Um authentisch und glaubwürdig zu sein, kommunizieren sie komplett anders, als wir es von der Politik gewohnt sind. Gefährlich wird es, wenn Aussagen der Propagandisten andauernd belächelt werden. Wenn ein Alexander Gauland Menschen “in Anatolien entsorgen” will oder dazu aufruft, die Kanzlerin zu “jagen”. Denn diese Wortwahl ist nicht idiotisch, nicht dümmlich. Das sind nicht bloß Entgleisungen. Solche Aussagen zielen darauf ab, Massen emotional zu erreichen. Denn wenn Menschen die Welt der Fakten verlassen, gelangen sie in die Welt des Glaubens und des Fühlens. Das ist das Spezialgebiet der Propaganda.
Propaganda zeichnet sich durch einfache Sprache aus. Ist das schlicht platt – oder steckt mehr dahinter?
Meist ist das nur die Spitze des Eisbergs. Propaganda-Parteien bereiten permanent bestimmte Themen vor. Hier kommen Verschwörungsbehauptungen ins Spiel. Eine davon ist die sogenannte Umvolkung, die besagt, dass die europäische Bevölkerung durch Muslime ersetzt werden soll – eine frei erfundene Behauptung, die zu einem Deutungsrahmen gemacht worden ist. Hier werden zum Teil ganz alltägliche Ereignisse hinein gedeutet. Wenn eine Muslimin im Job befördert wird; wenn die Kanzlerin sagt, dass Deutschland aus humanitären Gründen Flüchtlinge aufnimmt, sagt die Propaganda-Partei: “Ihr wisst genau, warum das passiert!” Die Kommunikation ist hier also nur auf den ersten Blick simpel. Außerdem versuchen Propagandisten, ihre Lügen wahr zu machen.
Das müssen Sie erklären.
Beispiel Ungarn: Orbán hat George Soros, einen in den USA lebenden Investor und Milliardär, mithilfe einer Propaganda-Agentur zum nationalen Feindbild aufgebaut. Die Lüge lautete, Soros wolle das Ungarntum abschaffen, weil er Migration befürwortet. Unter Orbán gab es dann eine groß angelegte Kampagne, landesweit hingen Plakate mit Soros’ Gesicht, die ihn diffamierten. Auf die Lüge folgt also echtes Handeln, dadurch geht die Geschichte immer weiter – solange, bis sie in den Köpfen der Menschen angekommen ist. Irgendwann glauben sie wirklich, dass Soros böse ist. Am perversesten, am hässlichsten haben dieses Spiel die Nazis gespielt – mit der angeblichen jüdisch-bolschewistischen Unterwanderung Deutschlands, dem Fundament der Vernichtungsideologie.
Haben liberale Demokratien Propaganda überhaupt noch etwas entgegenzusetzen, wenn Machthaber alles, was ihre Positionen in Zweifel zieht, zum Fake erklären – etwa Fotos oder Videos –, so wie es Russland seit dem Überfall auf die Ukraine tut?
Was Putin macht, ist reine Kriegspropaganda. Alles wird verdreht, mit dem Ziel, im eigenen Land eine Gefolgschaft hochzuhalten. Das Ergebnis ist ein Satz, den man in letzter Zeit immer wieder hört – auch im privaten Raum: “Man kann mit dem nicht mehr reden.” Wenn jemand diesen Satz sagt, waren die Propagandisten erfolgreich. Denn wenn man nicht mehr miteinander reden kann, wenn gesellschaftlicher Dialog nicht mehr funktioniert, kann es keine Kompromisse geben, weil ja mindestens eine Seite per se unerreichbar ist. Dann kann die liberale Demokratie nicht mehr liefern.
Russland fälscht Magazin-Cover, u.a. von “Titanic” und “Charlie Hebdo”. Von der “Bild”, der “FAZ” und dem “Spiegel” gab es schon Fake-Seiten. Warum machen sie das?
Es geht darum, Verwirrung zu stiften. Die Leute sollen das Gefühl haben, keiner Berichterstattung mehr trauen zu können. Es geht um die Zerstörung der faktischen Welt.
Was sollten Medien tun, um sich nicht unfreiwillig zum Propaganda-Verstärker zu machen – weniger Tweets aufgreifen? Mehr einordnen?
Ganz generelle Ratschläge an “die Medien” sind immer etwas schwierig. Sie sollten das komplexe Propaganda-System durchgehend noch besser verstehen und zu einem Schwerpunkt der politischen Hintergrund-Berichterstattung machen. Zugleich bringen die Propagandisten die Medien permanent in Zwickmühlen – wenn du berichtest, verstärkst du die Message, wenn du nicht berichtest, schweigst du etwas tot. Wir haben definitiv auch ein Thema mit Medien-Mechanismen. Propaganda spielt gezielt permanent Nachrichtenwerte wie Negativität, Sensation oder Prominenz an. Hier braucht es eine größere Auseinandersetzung und neue Zugänge für die Zukunft.
Wie sehr befeuern Facebook, Twitter und Co die Propaganda-Maschine?
Social Media ist ein totaler Treiber der Probleme. Was dort passiert, ist emotionale Ansteckung. Man übernimmt unbewusst die Gefühle, die einem in den Netzwerken präsentiert werden. Im Guten sind das nette Katzen-Bildchen. Im Schlechten ist es das, was politische Propaganda befeuert. Es ist kein Zufall, dass Propaganda-Parteien wie die AfD die meiste Resonanz in den Netzwerken haben. Meiner Meinung nach haben sich die Verantwortlichen bei einigen großen Networks in den vergangenen Jahren furchtbar verhalten. Sie haben extrem viel Geld investiert, um zu vermitteln, dass sie alles richtig machen. Nur unter größtem Druck – wie vor der Account-Sperre von Trump, als die USA am Rande zum Bürgerkrieg standen – gaben sie nach.
Was also tun mit den Anbietern? Müssen wir sie stärker reglementieren?
Ich bin kein Politiker, kein Techie. Aber so wie bisher kann es nicht weitergehen. Es muss sich dringend etwas ändern. Die Netzwerke haben die Mittel und Möglichkeiten, zu beeinflussen, dass den Menschen nicht mehr jeder Dreck in die Feeds gespült wird, sondern dass etwa Qualitätsmedien häufiger angezeigt werden.
Sie schreiben von einer “vollkommenen Militarisierung des kommunikativen Raums”. Wie schaffen wir es, die Waffen niederzulegen und wieder Frieden zu schließen?
Der Ruf nach Aufklärung ist immer leichter gesagt als getan, aber deswegen ist er nicht falsch. Wichtig wäre, nicht an der Oberfläche stehen zu bleiben, sondern die erwähnten Eisberge der Propaganda-Parteien freizulegen. Das andere ist, eine neue Sachlichkeit dagegen zu halten: weg vom Geschrei, weg vom Hass. Wir sollten Hate Speech sehr ernst nehmen, weil sie oft in diesem Kontext entsteht. Hier sollten entsprechende Mittel in die Beobachtung, in die Strafverfolgung gehen. Ganz grundsätzlich müssen die Verantwortlichen – etwa aus der Politik – dranbleiben beim Kampf gegen Propaganda. Es ist zutiefst menschlich, sich über Atempausen zu freuen. So sind viele froh, wenn in Brasilien die Polizei beim Sturm auf das Parlament doch die Oberhand gewinnt. Froh, wenn Trump abgewählt ist. Aber diese Atempausen sind fatal, denn in Wirklichkeit ist es nicht vorbei. Es gibt gar keinen Grund, warum es vorbei sein sollte. Propaganda funktioniert ja. Sie ist ein in weiten Teilen funktionierendes politisches Geschäftsmodell, mit dem man mindestens dauerhaft im Parlament sitzen kann.
Wenn Sie es für so wichtig halten, sich für verlässliche Informationen einzusetzen, warum haben Sie dann Ende 2021 bei der ARD aufgehört?
Man kann sich doch aus verschiedenen Positionen für eine Sache engagieren. Ich bleibe an dem Thema dran. Auf jeden Fall ist es nicht so, als hätte ich den Kampf gegen die Propaganda aufgegeben. Das Buch hätte ich nicht schreiben müssen – aber es war mir ein Anliegen. Und damit bin ich präsent.
Was raten Sie Ihrem alten Arbeitgeber im Schatten des Schlesinger-Skandals aus PR-Sicht?
Bei solchen Fragen gilt grundsätzlich eins: Nichts ist unbeliebter als öffentliche Ratschläge von Ehemaligen.
Anm. d. Red.: Im Januar meldete der “Spiegel”, dass Bingüls Agentur FischerAppelt ARD-Chef Kai Gniffke noch bis einschließlich März in PR-Dingen berät.
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