Warum Oliver Jahn, Chefredakteur der deutschen Ausgabe von “AD Architectural Digest”, zwischen 15.000 Büchern lebt und sich dabei wohl fühlt, schildert er in der turi2 edition 1 (Foto: Claudia von Boch)
“Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.”
(Jorge Luis Borges)
Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage hintereinander ich damals von morgens bis abends auf dieser Bank im Alten Botanischen Garten von Kiel gesessen habe. Vielleicht Wochen sogar. Nicht weit weg vom Wasser der Förde und den Bildern der Kunsthalle saß ich da und merkte doch kaum, ob die Sonne schien oder gerade ein paar Wolken oder Spaziergänger vorüberzogen. Denn meine ganze Aufmerksamkeit galt in diesem Sommer, es muss Mitte der Neunzigerjahre gewesen sein, einem Roman, Hans Henny Jahnns “Fluss ohne Ufer”. Drei Bände, wunderschön eingebunden in graues Leinen – nicht nur ob seiner Länge von über zweitausend Seiten ein ungeheures, riesenhaftes Werk. Das Buch war Genuss und Zumutung zugleich, auf eine kaum zu beschreibende Weise gewaltig, unglaublich komplex im Aufbau, kaum wiederzugeben die Handlung, suggestiv und von hoher Musikalität der Sprache. Ich war rettungslos verloren an dieses Buch, hin und her gerissen zwischen heilloser Begeisterung und schwer genervter Verständnislosigkeit.
Ich habe in letzter Zeit häufiger nachgedacht über die prägenden Lektüren meines bisherigen Lebens. Mir ist dabei aufgefallen, dass jeder dieser Leseeindrücke entgegen meiner Vermutung auch ganz konkret und sehr leicht abrufbar mit dem Ort, der Situation verbunden ist, an dem diese Lektüre vollzogen wurde. Eine seltsame Doppelbelichtung, mit der einerseits das völlige Verschwinden in der Welt eines Buches und andererseits die ziemlich feinkörnige Erinnerung an die Umstände seiner Lektüre eingefangen sind. Uwe Johnsons Jahrestage während sehr warmer Ostertage einmal, vier dicke Bände in einem alten Liegestuhl im Garten, W.G. Sebalds “Austerlitz” einen ganzen Nachmittag in der Küche gekauert in eine Ecke auf einem total wackligen Bistrostuhl, so lange, bis es dunkel wurde und ich kaum noch die Buchstaben entziffern konnte, aber auf die Idee, das Licht einzuschalten kam ich nicht. Heimito von Doderers “Strudlhofstiege” in der germanistischen Seminarbibliothek, am liebsten am ersten Tisch auf dem Platz vorne links, weil da das Licht so schön durchs Fenster fiel. Auch Lektüren können zu Erlebnissen werden, zu Expeditionen in den Urwald, wie Vladimir Nabokov vielleicht, der mit dem Schmetterlingsnetz durchs Unterholz streifte und seltene Falter suchte oder einen Stoff für das nächste Buch.
Ein Leben ohne Bücher könnte ich mir nicht vorstellen. Was irgendwann einmal mit den Geschichten um Räuber Hotzenplotz, den kleinen Wassermann oder Jim Knopf und Lukas den Lokomotivführer begann, hat sich bis heute eigentlich ungebrochen gehalten. Ich liebe Bücher, man könnte eine Biografie leicht an den Büchern entlang erzählen wie andere vielleicht an ihren wichtigsten Schallplatten. Es gibt für mich kaum etwas Elektrisierenderes als den Moment, ein neues Buch, auf das man neugierig ist, aufzuschlagen und erste Witterung aufzunehmen – ganz egal, ob es der neue Roman von Donna Tartt ist, ein Band mit Zeichnungen August Mackes, das Frühwerk des New Yorker Fotografen Saul Leiter oder die reich illustrierte Geschichte des Aquariums. Sie glauben gar nicht, für was man sich alles zu interessieren beginnt, wenn jemand ein wirklich schönes, kluges Buch darüber gemacht hat.
Ich habe schon recht früh angefangen ernsthaft Bücher zu sammeln. Ich bin vermutlich ein hoffnungsloser Fall. Meine Wohnung quillt über, Wände sind Mangelware. Was mich aber nicht stört, im Gegenteil. Meine Mutter hat früher als Buchhändlerin gearbeitet, mein Großvater war Schriftsetzer. Es mag also eine gewisse Vorprägung geben. Ab einem gewissen Punkt dieser gentle madness fängt jeder echte Büchersammler dann an, über den bloßen Autor, das Thema oder Fachgebiet hinaus sich auch für die Verlage zu interessieren, bei denen sie erschienen sind, deren Historie und auch deren entdeckungshungrige Verleger.
Auch wenn mir die weißbehandschuhte Ergriffenheit der traditionellen Bibliophilie etwas fremd ist, reizen mich das visuell ansprechende Handwerk des Typographen und die haptischen Qualitäten eines gut gemachten Buches sehr. Verleger wie Gerhard Steidl, der in Göttingen den vielleicht besten Fotobuch-Verlag der Welt führt, kann Papiermühlen und deren Vorzüge aufzählen wie Meister-Sommeliers die von Weingütern an der Loire. Seine Bücher riechen auch nach zwanzig Jahren noch gut. Was an den besonderen Öldrucklacken liegt, mit denen er die Buchstaben überzieht. Oder nehmen Sie die ersten Jahrgänge von Franz Grenos und Hans Magnus Enzensbergers “Anderer Bibliothek” zur Hand und spüren Sie die leichten Erhebungen der bleigesetzten Seiten. Überhaupt Franz Greno. Einer der verrücktesten und großartigsten Verleger des 20. Jahrhunderts. Jahre habe ich damit zugebracht, all die entlegenen, so liebevoll ausgesuchten Titel seines Programms zusammen zu tragen.
Greno, Haffmans, Hanser, Rowohlt, Suhrkamp – das waren irgendwann die großen Fixsterne an meinem Sammlerhimmel. Mit der “Bibliothek Suhrkamp”, eingeschlagen in den unverwechselbaren Umschlag von Willy Fleckhaus, habe ich eine ganze Wand tapeziert – es müssen allein das bald zweitausend Bände sein, viele Namen, von denen man zuvor noch nie gehört hat, und Sie können blind hineingreifen – eine literarische Entdeckung fast immer, was für findige Lektoren-Köpfe da immer dahintergesteckt haben müssen. Oder Klaus Wagenbachs tomatenrote Salto-Reihe, die Verlängerung der klassischen Italien-Reise mit literarischen Mitteln. Endlos ließe sich die Landkarte solcher Trouvaillen fortführen, erst recht, wenn man zurückgeht meinetwegen in die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts, als natürlich die Ideen des Neuen Sehens aus dem Umfeld von Bauhaus und Co auch vor der Buchgestaltung nicht Halt machten – hier kann jeder Sammler zum Archäologen werden und unüberblickbar viele Schätze heben, ob in den frühen Insel-Drucken eines Anton Kippenberg oder den liebevoll ausgestatteten Werkausgaben, die Ernst Rowohlt damals auflegen ließ.
Literatur, Kunst, Design, Fotografie, Architektur oder auch Comics – glücklicherweise muss man sich ja nicht auf irgendeines dieser Felder festlegen, sondern darf nach Herzenslust seiner Neugier folgen und wird zu jedem noch so entlegenen Möbelgestalter des Art Déco, zu jedem noch so vergessenen Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts oder zu jedem noch so durchgeknallten Architekten und früher oder später auch auf hinreißende Bücher dazu stoßen. Natürlich ersetzen Bücher nicht das Leben, sollen sie auch gar nicht. An einem sonnigen Oktober-Tag auf eine Waldlichtung zu treten ist zum Glück im wahren Leben meist schon noch besser, als nur in einem Roman von Adalbert Stifter davon zu lesen oder den Moment auf einem Gemälde von Camille Corot zu betrachten. Gleichwohl liebe ich es über die Maßen, wie viele solcher Momente und Erfahrungen zu den kleinsten und größten Fragen des menschlichen Lebens sich in meiner Bibliothek versammeln und nur darauf warten, immer einmal wieder entkorkt zu werden wie ein gut abgelagerter Bordeaux, in dem auch weit mehr enthalten ist als nur die Menge seiner Trauben.
Die Fotos sind entnommen aus: Stefanie von Wietersheim, Claudia von Boch (Fotos): Vom Glück, mit Büchern zu leben. Callwey, 2012
Die Geschichte steht zum Nachlesen in der turi2 edition 1