“Wir brauchen in Deutschland definitiv mehr Faktenchecks” – Wie Stefan Voß Desinformation entlarvt.
1. November 2022
Nimmt’s genau: “Desinformation hat es natürlich immer gegeben”, sagt Stefan Voß, Verifikations-Chef der dpa, der seine ersten Faktenchecks bereits vor fast zehn Jahren geschrieben hat. In den vergangenen Jahren habe er jedoch “besonders große Desinformations-Themen” gesehen. Im Interview mit Pauline Stahl spricht Voß über das German-Austrian Digital Media Observatory, das die dpa mit AFP, APA und Correctiv startet, um Faktenchecks an einem zentralen Ort zu sammeln. Die EU-Kommission fördert das Projekt mit 1,5 Mio Euro für zweieinhalb Jahre. Bedarf sieht Voß besonders bei regionale Fakten-Überprüfungen und gibt im Gespräch Tipps, wie auch Laien Falschmeldungen entlarven.
Stefan Voß, ihr habt mit der AFP, APA und Correctiv gerade die Faktencheck-Allianz GADMO gegründet. Aber welchen Sinn haben Faktenchecks, wenn sich diejenigen, die Fake-News teilen, von den “Mainstream-Medien” verabschiedet haben?
Stefan Voß: Wir sehen unsere Aufgabe darin, Desinformation zu widerlegen. Es mag sein, dass es Leute gibt, die du damit nicht mehr überzeugen kannst. Um die geht es aber gar nicht, sondern um die breite Öffentlichkeit. Jeder, der wütende Leserbriefe voller Verschwörungsmythen schreibt, hat wahrscheinlich ein halbes Dutzend Angehörige um ihn herum, die verunsichert sind und vielleicht auch keine Antwort auf eine Behauptung finden, aber längst nicht so abgedriftet sind. Wir möchten, dass die Tatsachen-Überprüfungen überhaupt erstmal existent sind. Das heißt, dass man bei Google für einen Verschwörungsmythos statt der großen Verschwörungs-Seiten ganz oben einen Faktencheck von uns oder unseren Partnern findet.
Wie sieht eure Zusammenarbeit bei der Faktencheck-Allianz aus?
Im Projekt arbeiten Forschung und Faktencheck-Teams Hand in Hand. Dazu werten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Beispiel unsere Faktenchecks aus und untersuchen sie nach Mustern der Verbreitung von Desinformation. Es wird geprüft, inwieweit die Plattformen ihren Versprechungen und Verpflichtungen im Kampf gegen Desinformation nachkommen. Dazu wird im Projekt unter Führung der TU Dortmund analysiert, welche Maßnahmen Plattformen ergreifen und welche Wirkung sie damit erzielen. Dabei fließen auch Beobachtungen der Faktenchecker ein.
Bis Anfang 2023 ist das Ziel, dass Nutzer und Nutzerinnen dort nach bestimmten Behauptungen suchen können.
Außerdem wollen wir vorbeugend aktiv werden, etwa mit Medienkompetenz-Schulungen. Wir wollen Menschen helfen, sich zu orientieren, nach Infos zu suchen, Verifikations-Tools anzuwenden.
Wie stellt ihr sicher, dass ihr nach gleichen oder wenigstens ähnlichen Standards arbeitet?
Das ist sichergestellt durch das IFCN. Das ist eine Organisation, die an das Poynter Institute in den USA angegliedert ist und dort kann man sich sehr aufwändig zertifizieren lassen. In Deutschland sind derzeit nur die dpa, Correctiv und der BR zertifiziert, bei der AFP läuft das über Frankreich. In Österreich ist die APA zertifiziert. Wir müssen viele Kriterien erfüllen und werden jährlich geprüft, damit die Qualität sichergestellt ist. Außerdem gründen wir gerade das EFCSN – ein europäisches Netzwerk der Faktenchecker-Organisationen.
Wenn ihr eine mögliche Falschmeldung entdeckt, wie geht ihr vor? Wo bekommt ihr die Fakten her?
Das ist journalistische Arbeit. Wenn wir zum Beispiel eine Behauptung über eine Corona-Studie sehen, prüfen wir, wie die belegt ist, gucken, ob die Studie wissenschaftlich legitimiert ist, ob sie ausreichend gegengeprüft ist. Dann gibt es verschiedene Verifikations-Tools, wie die Foto-Rückwärtssuche, Geo-Location oder Videoverifikation. Wir nutzen Internet-Archive, um zu schauen, ob Sachen gelöscht oder geändert wurden. Zuerst extrahieren wir aber immer die Behauptung und prüfen, ob sie belegt ist.
Du hast schon vor fast einem Jahrzehnt die ersten Faktenchecks für die dpa geschrieben. Um was ging es damals?
Das war 2013, da war eine Bundestagswahl und wir haben das im Wahlkampf ausprobiert. Wir haben geguckt, ob Behauptungen von Politikern und Politikerinnen stimmen. Ehrlich gesagt, haben wir das dann aber nicht mehr intensiv weiterverfolgt. So richtig groß läuft der dpa-Faktencheck seit etwa drei Jahren, als wir eine Kooperation mit Facebook eingegangen sind.
Wie hat sich die Arbeit seitdem verändert?
Desinformation hat es natürlich immer gegeben. Wir haben aber in den vergangenen Jahren besonders große Desinformations-Themen gesehen. Angefangen beim Thema Migration 2015 sind das im Grunde sämtliche Themen, die zu gesellschaftlicher Verunsicherung führen, also hoch-emotionale Themen. Migration, Klimawandel, Corona und der Krieg in der Ukraine – das sind sehr große, starke Desinformations-Themen. Jetzt kommt bei uns die Energiekrise dazu. Welche Themen wir überprüfen, wählen wir übrigens komplett unabhängig aus. Niemand gibt uns von außen vor, was wir konkret zu machen haben. Wir suchen die Themen immer nach gesellschaftlicher Relevanz, Verbreitung und möglichen Schäden aus.
Corona, Krieg, Wirtschaftskrise – in welchem Bereich gibt es die meisten Falschmeldungen?
Wir sehen im Moment sehr viel Desinformation über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Daraus entwickeln sich wiederum Falschmeldungen über die Energieversorgung und generell über die Belastungen in der westlichen Welt oder Deutschland durch den Krieg.
Kommt ihr überhaupt noch hinterher oder fühlt sich eure Arbeit manchmal wie ein Tropfen auf dem heißen Stein an?
Desinformationen werden vor allem in sozialen Netzwerken verbreitet. Das ist mitunter schon frustrierend. Wir brauchen in Deutschland mehr Faktenchecks, definitiv. Wir brauchen vor allem regionale Medienhäuser, die Faktenchecks anbieten, denn das macht die dpa in der Regel nicht. Auch auf lokaler Ebene gibt es viel Desinformation, die einfach ungeprüft dasteht.
Eine Lüge ist schnell verbreitet, ein Faktencheck dauert sehr lange. Ist das nicht manchmal frustrierend?
Eine Lüge ist in der Regel grell, laut, knallig, rassistisch, häufig sexistisch, vereinfachend, bunt – am liebsten ein Meme mit einem oder zwei Sätzen. Der Faktencheck hingegen ist manchmal sehr trocken. In den seltensten Fällen gelingt es, die Aufklärung genauso knallig zu kontern. Das liegt aber in der Natur der Dinge. Die ganze Welt ist kompliziert. Wir müssen unsere Formate verbessern und eine bessere Visualisierung von Faktenchecks erreichen. Da stehen wir noch am Anfang.
Wie erkenne ich als Laie Falschmeldungen und Desinformation? Was sind die wichtigsten Warnsignale?
Ich kann erstmal gucken: Wie ist denn das belegt? Dann kann ich versuchen, mir andere, anerkannte Quellen zu besorgen. Was sagt zum Beispiel ein Bundesgesundheitsministerium zu dem Thema? Vorsicht geboten ist immer bei den Themen, die stark auf Emotionalität drängen, also Wut erzeugen sollen, Verzweiflung, Angst, Hass, Empörung. Wenn ich als Nutzer vermeiden will, dass man mich manipuliert, dann sollte ich darauf stark achten. Auch hilft das Bewusstsein: Die Zusammenhänge sind häufig kompliziert. In den seltensten Fällen kann man Dinge in einem Satz erklären.
Was sind Fallen, selbst für Profis?
Man muss sich beim Faktencheck immer fragen, ob ich das Gesagte komplett erfasst habe. Es besteht etwa das Risiko, Meinungsäußerung und Tatsachenbehauptung zu verwechseln. Das ist ein schmaler Grad. Oftmals stellen wir nach etwas Recherche fest, dass der zu prüfende Inhalt näher an einer persönlichen Meinung als an einer Tatsachenbehauptung ist. In solchen Fällen machen wir keinen Faktencheck. Jeder hat das gute Recht, seine Meinung zu sagen. Auch Satire ist mitunter gar nicht so einfach zu erkennen.
Sollte nicht jeder Journalist auch ein Faktenchecker sein?
Der Faktencheck ist natürlich ein aufwändiges Format. Allerdings sehen wir durch die Desinformations-Lage, dass selbst völlig absurde Themen an Breite gewonnen haben. Wir sind der Meinung, dass sich mehr Journalisten und Journalistinnen in ihrem Umfeld umschauen sollten. Das ist nicht wichtiger als die normale Berichterstattung, aber es sollte gleichzeitig geschehen. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, wie weit Desinformation in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist und wie fatal das für die Demokratie und eine offene Gesellschaft letztendlich ist.