“Wir haben eine Watchdog-Funktion” – “Zeit Verbrechen”-Chefredakteur Daniel Müller über True Crime und Verantwortung.
13. November 2024
Verbrechen lohnt sich: Das Genre True Crime ist seit Jahren ein zuverlässiger Klick-, Quoten- und Auflagen-Bringer – und es ist nach der Regenbogen- und Boulevard-Presse wohl die am härtesten kritisierte Journalismus-Spielart. Chefredakteur und Investigativ-Reporter Daniel Müller verantwortet mit “Zeit Verbrechen” eine der ganz großen True-Crime-Marken in Deutschland – der Podcast wird millionenfach gehört, das Magazin hat Zehntausende treue Leser. Er betont im Interview mit Markus Trantow die gesellschaftliche Verantwortung von Kriminal-Journalismus. Für Polizei und Justiz gäbe es “kaum ein anderes Korrektiv”. Gleichzeitig warnt er davor, True Crime zur “Sensation” verkommen zu lassen: “An diesem Punkt verliert der Journalismus seine eigentliche Aufgabe und seinen Anspruch – und das darf nicht passieren.”
Daniel Müller, Sie sind Chefredakteur von “Zeit Verbrechen”. Wie schlecht, wie verdorben ist die Welt da draußen?
Sie ist weit weniger verdorben, als sie oft dargestellt wird – zumindest, wenn wir mal nur Deutschland betrachten. Wer regelmäßig Boulevardmedien konsumiert, könnte ja den Eindruck bekommen, dass wir nur von Messerstechern, Mördern und Vergewaltigern umgeben sind. Doch das stimmt natürlich nicht. Ein Blick in die Kriminalstatistik zeigt, dass die Zahl der Kapitalverbrechen in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken ist. Deutschland ist viel sicherer geworden. Dafür gibt es mehrere Gründe: Wirtschaftliche Stabilität, verbesserte Polizeiarbeit, die viele Verbrechen bereits im Vorfeld verhindern kann, nicht zuletzt eine deutlich besser aufgeklärte Gesamtbevölkerung. Auch die kontinuierliche Stärkung der Präventionsarbeit ist ein Grund dafür. Besonders freut mich zudem, dass der Opferschutz präsenter geworden ist.
Das heißt, früher war die Welt nicht etwa besser, sondern schlechter als heute?
Das ist in dieser von multiplen Krisen geprägten Zeit sicherlich kein Satz, den ich für die Gesamtwetterlage der Welt unterschreiben würde, aber für das Feld, in dem wir arbeiten, lautet die Antwort: Ja. Wenn wir uns auf Kriminalität in Deutschland oder Kontinentaleuropa konzentrieren, ist die Welt besser geworden.
Früher waren Sie investigativ tätig. Jetzt leiten Sie ein True-Crime-Magazin. Wenn ich Ihren Lebenslauf richtig verstehe, wollten Sie als Journalist nicht unbedingt über die schönen Seiten der Welt berichten, sondern über die dunklen. Wie kam es dazu?
Ursprünglich wollte ich Fußballkommentator werden, später dann Theaterkritiker – da hat mich schon eher das Schöne angezogen als das Hässliche. Ich habe aber schnell gemerkt, dass das meine Hobbys ruinieren würde. 2010 war ich als Reporter bei der “Berliner Morgenpost” an der Aufdeckung des Missbrauchsskandals am Canisius-Kolleg beteiligt. Das war mein erster Kontakt mit investigativem Journalismus und ich war sofort fasziniert. Journalisten sind ja alle neugierig, und um Neugierde zu befriedigen, gibt es kein besseres Feld als den Investigativ-Journalismus. Sich beruflich damit befassen zu dürfen, Informationen zu beschaffen, die nicht ans Licht gelangen sollen, und damit im Idealfall gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen, empfinde ich als Privileg.
Was fasziniert Sie gerade am Kriminaljournalismus?
Mich fasziniert die Vielfältigkeit. Wir erhalten Einblicke in menschliche Schicksale und Seelen. Und da interessieren mich die Geschichten von Opfern und Tätern gleichermaßen, vor allem die “Kipppunkte” in ihren Biografien. Es gilt, diese Momente zu identifizieren, in denen etwas so aus dem Ruder läuft, dass jemand zum Verbrecher wird. Man wird ein Verbrechen aber nie nur aus einer einzelnen Tatsituation heraus begreifen können, man muss sich schon die Mühe machen, tiefer zu gehen. Und zwar in alle Richtungen: Es gilt, die Menschen hinter den Taten auszuleuchten, die oft ja selbst Schreckliches erlebt haben. Die Menschen zu befragen, die zurückbleiben. Und den Apparat, der dieses Verbrechen ermittelt, auf den Prüfstand zu stellen. Guter Kriminaljournalismus ist ja immer auch investigativer Journalismus. Als Kriminaljournalistinnen und -journalisten haben wir eine Watchdog-Funktion, die wichtig ist, weil es für Polizei und Justiz ja kaum ein anderes Korrektiv gibt.
Daniel Müller ist seit 2021 Chefredakteur des Magazins “Zeit Verbrechen”, seit 2012 ist er bei der “Zeit”, wo er zunächst zu Rechtsextremismus und Islamismus recherchierte. Zuvor arbeitete er für die “Berliner Morgenpost” und die “Welt” – auch hier hat der studierte Theaterwissenschaftler und Journalist investigativ gearbeitet. Er wurde für seine Reportagen unter anderem mit dem Nannen-Preis, dem Deutschen Reporterpreis und dem Wächterpreis ausgezeichnet.
Wo verläuft für Sie die Grenze zum Voyeurismus?
Die Grenze liegt dort, wo wir in die Intimsphäre von Menschen eindringen, die uns nichts angeht – wenn diese Menschen das nicht explizit zulassen. Gerade bei Kapitalverbrechen lässt sich der Blick in diese Sphäre aber auch nicht immer verhindern, da oft sehr persönliche Motive eine Rolle spielen. Man muss daher immer abwägen, was man der Öffentlichkeit zugänglich macht und was man zum Schutze der Persönlichkeitsrechte verschweigt. Bei der “Zeit” haben wir, denke ich, ein gutes Gespür dafür entwickelt, Geschichten so zu erzählen, dass sie verständlich und interessant sind, ohne Menschen bloßzustellen.
Wie läuft so eine Abwägung ab?
Ich gebe Ihnen mal ein abstraktes Beispiel, das aber auf einem konkreten Fall basiert. Wir haben einmal über einen Menschen recherchiert, der in Deutschland sehr bekannt war und dem vorgeworfen wurde, kinderpornografisches Material besessen und verbreitet zu haben. Ich hatte Zugang zu den Akten und habe darin Details gelesen, die man auch dazu hätte verwenden können, ihn regelrecht zu vernichten. Das ist aber natürlich nicht unser Interesse. In solchen Fällen haben wir im Haus eine Art Kontrollinstanz. Wir sprechen vertraulich im kleinen Kreis und diskutieren genau, was zwingend in die Geschichte gehört und was nicht. In dem vorliegenden Fall wären manche Details einfach zu viel gewesen – sie hätten tief in die Intimsphäre des Betroffenen eingegriffen, ohne Mehrwert für die Berichterstattung zu liefern.
Podcast-Duo: Investigativ-Journalistin Anne Kunze und Chefredakteur Daniel Müller blicken im Podcast “Zeit Verbrechen” in menschliche Abgründe. Sie wechseln sich mit Magazin-Gründerin Sabine Rückert und Wissenschafts-Journalist Andreas Sentker ab, die ebenfalls ein Podcast-Duo bilden. (Foto: Ludmilla Parsyak für die “Zeit”)
Sie schauen beruflich tief in menschliche Abgründe – wo ist Ihre Grenze?
Das Thema Kinderpornografie und generell sexuelle Gewalt an Kindern hat mich viele Jahre lang beschäftigt. Ich habe etliche Recherchen dazu gemacht, aber inzwischen gebe ich sie an Kolleginnen und Kollegen weiter, die besser damit umgehen können. Ich kann es nicht mehr. Der Wendepunkt kam für mich, als ich eine Anklageschrift in einem Fall las, der den Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach betraf. Da musste ich mich beim Lesen übergeben. Das war der Moment, in dem ich realisiert habe, dass ich an meine Grenzen gekommen war. Trotzdem sind solche Recherchen im Kriminaljournalismus von enormer Bedeutung. Es ist wichtig, dass die Menschen erfahren, was Kindern in diesem Land jeden Tag angetan wird. Wenn wir immer nur schreiben, dass sich jemand an seinem Kind “vergangen” hat, dann bagatellisieren wir ein massives Problem. Darunter kann sich niemand etwas vorstellen. Es ist grauenvoll, wenn man die Details kennt, aber diese Konkretion ist wichtig für die Prävention.
Für Ihr Mutterblatt, die Wochenzeitung “Die Zeit”, ist es wichtig, nicht nur über das Schlechte in der Welt zu schreiben, sondern auch über das Gute und Schöne. Braucht auch ein Kriminal-Magazin so ein Gegengewicht?
Ja, unbedingt. Ich finde, ein Magazin mit über 120 Seiten kann nicht ausschließlich aus Horror bestehen – das hält niemand aus. Jede Ausgabe braucht eine ausgewogene Mischung. Auch in unserem Heft soll man mal lachen dürfen. Zum Beispiel, wenn der Feuilletonist Jens Jessen über “Deutschlands dümmste Bankräuber” philosophiert. Gleichzeitig suchen wir auch nach Geschichten, die positiv enden und z.B. gern auch mal hervorragende Arbeit von Ermittlern aufzeigen. Ein gutes Beispiel ist die Geschichte des Mordfalls “Georgine” in Berlin, der durch jahrelange, akribische Arbeit verdeckter Ermittler gelöst wurde. Die haben sich eine Legende aufgebaut, sind ins Umfeld des Täters gezogen, haben ihm beim Renovieren geholfen und schließlich sein Vertrauen gewonnen. Das war fantastische Polizeiarbeit.
Signierstunde:Daniel Müller unterzeichnet ein “Zeit Verbrechen”-Buch. Die Zeitschriften- und Podcast-Marke ist so erfolgreich, dass tausende Fans die Aufzeichnung von Live-Podcasts besuchen. (Foto: Jolly Schwarz für die “Zeit”)
Die Marke “Zeit Verbrechen” ist irre erfolgreich und inzwischen sehr groß: Sie verkaufen alle zwei Monate 55.000 Magazine, den Podcast hören durchschnittlich 5 Mio Menschen, es gibt Bücher, Hörbücher und Events. Bei RTL+ gibt es eine Mini-Serie. Ist es nicht ein bisschen gruselig, dass gerade das Böse so durch die Decke geht?
Rückblickend überrascht mich eher, dass der Erfolg des True-Crime-Journalismus erst so spät kam. Wenn man bedenkt, dass seit Jahrzehnten halb Deutschland am Sonntagabend “Tatort” schaut und sich Krimis millionenfach verkaufen.
Das ist aber alles Fiktion und nach 90 Minuten oder ein paar hundert Seiten gibt es ein mehr oder weniger glückliches Ende.
Aber warum interessiert uns diese Fiktion? Weil uns Verbrechen als Thema grundsätzlich fasziniert. True Crime ist letztlich die Übersetzung dieser Faszination von der Fiktion in die Realität. Ich denke, in den letzten Jahren hat sich ein allgemeiner gesellschaftlicher, aber auch journalistischer Trend hin zu mehr Authentizität entwickelt. Eine der wenigen positiven Entwicklungen durch Social Media ist, dass wir unmittelbarer und realistischer in das Leben anderer Menschen blicken können – und das interessiert uns. Das echte Leben ist oft spannender als das, was für die Bühne oder die Kamera inszeniert wird. Aber dieser Erfolg birgt Gefahren, nämlich dort, wo True Crime nur noch zum Event und zur Sensation verkommt. An diesem Punkt verliert der Journalismus seine eigentliche Aufgabe und seinen Anspruch – und das darf nicht passieren.
Sabine Rückert hat das Magazin, den Podcast und das gesamte Genre maßgeblich geprägt. Sie sind ihr Nachfolger – zusammen mit Anne Kunze. Wie schwer ist es, ich sage es mal mit einem etwas abgedroschenen Bild: Sabine Rückerts Fußstapfen zu füllen?
Zum Glück teile ich mir ja die Last mit Anne Kunze, die für den Podcast verantwortlich ist. Und in erster Linie ist das ja mal eine große Freude und Ehre. Sabine Rückert ist nicht nur die beste Kriminaljournalistin, die dieses Land in den letzten Jahrzehnten gesehen hat, sondern auch eine außerordentlich herzliche Förderin junger Journalistinnen und Journalisten. Sie und Stephan Lebert haben mir bei der “Zeit” alles ermöglicht, und dafür bin ich extrem dankbar. Natürlich ist es aber auch so ein bisschen wie damals bei Bayern München – der nächste Stürmer nach Gerd Müller zu sein. Es ist keine ausschließlich dankbare Aufgabe, wenn man einer Legende folgt.
Ein Generationenwechsel gelingt nicht immer – siehe “Wetten, dass..?”. Wie schaffen Sie es, die Rückert-Fans zu Kunze- und Müller-Fans zu machen?
Das können wir natürlich nur bedingt steuern, aber wir wollen vor allem mit qualitativ hochwertigem Journalismus dazu beitragen. Sabine Rückert ist ein Unikum, aber die meisten Menschen sind ja nicht zuletzt deshalb Fans von Podcast und Magazin geworden, weil sie sich für das Sujet Verbrechen interessieren. Und da müssen und wollen wir sie abholen, denn wir brennen für dieses Thema und können ihm auch noch ein paar neue Facetten abringen. Schon allein, weil Anne Kunze eine der besten Reporterinnen dieses Landes ist und immer wieder Themen aufspürt, von denen noch nie jemand gehört hat. Dieses Unerhörte macht den Podcast, denke ich, auch so besonders.
Krimineller Erfolg: Auch wenn der Podcast heute deutlich bekannter ist, entstand die Zeitschrift “Zeit Verbrechen” 2018 zuerst. “Zeit”-Journalistin Sabine Rückert kuratierte damals ältere Fälle, die in der Wochenzeitung bereits veröffentlicht worden waren. Das Audio-Angebot entstand, um das Print-Produkt bekannter zu machen – und entwickelte schnell ein Eigenleben. Heute veröffentlicht “Zeit Verbrechen” alle zwei Monate ein Magazin mit vor allem aktuellen Recherchen und verkauft 55.000 Exemplare pro Ausgabe. Dazu kommen Bücher, Hörbücher, Live-Events mit Podcast-Aufzeichnung und – ganz neu – eine True-Crime-Serie bei RTL+.
Ein Vorwurf ans Genre True Crime ist, dass es mit dem Leid der Opfer ein Geschäft macht. Ohne die hohe Nachfrage nach dem Podcast und Magazin würde es “Zeit Verbrechen” wohl nicht geben – und der Zeit-Verlag betreibt dies ja nicht als gemeinnütziges Projekt.
Wenn man so argumentiert und Journalismus nur dann betreiben dürfte, wenn niemand Leid erfährt, könnten wir auch keine Kriegs- oder Katastrophenberichterstattung mehr machen. Wir berichten ja auch über Naturkatastrophen oder Überschwemmungen, bei denen Menschen sterben. Da würde ich also entschieden widersprechen.
Aber diese Ereignisse haben meist einen aktuellen Bezug und helfen, das Weltgeschehen zu verstehen. “Zeit Verbrechen” ist ja aus der Idee entstanden, alte Fälle, die Sabine Rückert teils aus ihrer langjährigen Karriere als Kriminaljournalistin mitgebracht hat, neu und weiterzuerzählen. Wo liegt da der gesellschaftliche Mehrwert?
Das Magazin besteht heutzutage fast ausschließlich aus neuen, exklusiven Inhalten. Von rund 48 großen Geschichten pro Jahr stammen vielleicht vier bis sechs aus dem Archiv. Und die bringen wir aus gutem Grund, etwa, weil es sich um Cold Cases handelt. Es ist mir wichtig, dass diese Fälle nicht in Vergessenheit geraten. Im Idealfall führt die Berichterstattung zu neuen Ermittlungsansätzen. Und dann gibt es noch Fälle, die – obwohl historisch – viel über die Zeit erzählen, in der sie geschehen sind. Diese Geschichten sind also auch ein Vehikel für Informationen und Bildung. Eine Kriminalgeschichte bei “Zeit Verbrechen” ist niemals nur die Geschichte eines Verbrechens, sondern immer auch ein Spiegel der Gesellschaft, ihrer Strukturen und Entwicklungen. Die Kritik, dass wir Leid “ausnutzen”, ist einfach und lässt oft außer Acht, dass wir durch diese Berichterstattung die Welt erklären wollen und müssen. In diesem Sinne unterscheiden wir uns nicht von Kriegs- oder Klimaberichterstattung.
Ganz zu Anfang haben Sie gesagt, dass unsere Welt in den vergangenen Jahren sicherer geworden ist. Besteht die Gefahr, dass Ihnen der Stoff für “Zeit Verbrechen” irgendwann mal ausgeht?
Nein, das glaube ich wiederum auch nicht. Es wird leider immer weiter gemordet, betrogen, vergewaltigt werden. Und wir werden es in den kommenden Jahren auch zunehmend mit neuen Spielarten von Verbrechen zu tun haben, die wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können. Gerade im Bereich Cybercrime, da passieren Dinge, auch Richtung KI geschaut, von denen haben wir noch nicht mal den Hauch einer Vorstellung, was das mit unserer Welt machen könnte. Und gerade weil die Möglichkeiten, Verbrechen zu begehen, so viel größer werden, werden wir eher mehr zu tun haben als weniger.
Dieses Interview ist Teil der Themenwoche Zeitschriften bei turi2. alle Beiträge ansehen
(Titel-Foto: Chantal Seitz für die “Zeit”, Montage: turi2)
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