Ist es gut, dass Corona unser Leben so stark digitalisiert, Hannes Ametsreiter?
27. April 2021
Moll-Töne im Home-Office: Vodafone-Deutschland-Boss Hannes Ametsreiter verzweifelt manchmal daran, dass in Behörden noch immer gefaxt wird. Trotzdem warnt er davor, allzu viel Zeit mit smarteren Geräten zu verbringen. In seinem Gastbeitrag für die turi2 edition #14 fordert er eine “Digitalisierung mit Verantwortung”. Das Buch mit allen Beiträgen und Interviews erscheint am 6. Mai. Hier das kostenlose E-Paper vorbestellen.
Corona war in vielerlei Hinsicht der größte Digitalisierungsschub, den dieses Land je gesehen hat. Von einem auf den anderen Tag sind Millionen Erwachsene ins Home-Office gewandert, Millionen Kinder ins Home-Schooling. Sie haben die Netze im Land zum Glühen gebracht. Erst dann wurde vielen klar, wie wichtig Infrastruktur für uns alle ist – und was sie alles möglich macht. Wir wurden gezwungen, mutig zu sein, die Dinge neu und Digitalisierung weiter zu denken, als wir es je getan hatten. Schlicht, weil wir bislang nicht mussten.
Doch zugleich war Corona ein fürchterlicher Offenbarungseid für dieses Land. Einer, der jeder einzelnen von uns vor Augen führt, wie sträflich wir die Digitalisierung all die Jahre vernachlässigt hatten. Und wie lange es braucht, sie allein an den wichtigsten Stellen unserer Gesellschaft zu verankern. Ein Jahr nach Beginn der Pandemie haben wir eine Corona-App, die nicht ohne Warteschleifen in Hotlines auskommt. Wir haben Gesundheitsämter, die Faxe senden. Wir haben Impfärztinnen, die mehr Zettel ausfüllen als Spritzen setzen. Wir haben Firmen, die ihre Mitarbeiterinnen ohne Not in Büros zwingen. Wir haben vernetzte Schulen mit wenigen Videokonferenzen – weil den Lehrerinnen Mittel oder Möglichkeiten fehlen. Das zu erkennen, tut weh. Es beschämt ungemein. Zuweilen lässt es einen verzweifeln.
Aber manchmal hilft eben nur die Hand an der Herdplatte, der Finger in der digitalen Wunde. Aufgeben ist keine Option – im Gegenteil: Wir sollten jetzt erst recht einen Gang höher schalten, das digitale Gaspedal bis zum Anschlag durchtreten. Weniger Bürokratie und mehr Digitalisierung wagen. Nur so kommen wir dauerhaft aus dieser Krise – und bauen zugleich eine erfolgreiche Zukunft.
Ist Digitalisierung der alleinige Seligmacher? Mitnichten. Corona offenbart uns gerade mit voller Wucht auch ihre Schattenseiten. Die sind überall dort, wo Digitalisierung im Überfluss auf den Menschen einprasselt – wie ein DDOS-Angriff aufs Hirn. Wo sie meint, Mensch und Menschlichkeit ersetzen zu können – oder gar echte Nähe. Hier müssen wir mitten in der Pandemie unsere Augen aufhalten. Erst recht in einer Zeit post Corona die Weichen der Verantwortung neu stellen.
So hilfreich das Home-Office gerade ist: Aus Zoom wird nie ein Lagerfeuer. Ein Winken am Bildschirm kann keine Umarmung ersetzen. Der soziale Kontakt fehlt vielen Menschen in Deutschland. Sie klagen über Angst, Stress, Einsamkeit und Depressionen. Das Hohelied aufs Home-Office kennt auch Moll-Töne. Wer die als Unternehmerin überhört oder aus Gewinnsucht vom dauerhaften Home-Office für alle träumt, der verkehrt Digitalisierung ins Unmenschliche.
So viele Freiheiten und Möglichkeiten uns die sozialen Medien auch bieten: Zuviel des Guten ist der Freund des Schlechten. Wir merken gerade, wie übermäßiger Konsum unsere Kinder in der Pandemie von der Wirklichkeit entkoppelt. Wie Parallelwelten entstehen, die in Sucht, Apathie und Depressionen führen. Wie echte Freundschaften durch Lockdowns verfallen – und falsche auf TikTok und Co entstehen. Bei denen die Sucht nach jedem Like nur ein digitaler Schrei nach Liebe ist. Soziale Medien sind auch ein Treiber dafür, dass sich Teile der Gesellschaft immer weiter abspalten. Sie befeuern Wut und Angst. Sie geben Menschen einfache Antworten – nur kommen die leider meist von den Falschen.
Brauchen wir wegen all dem weniger Digitalisierung? Ganz und gar nicht. Aber eine mit Verantwortung. Die kommt über wache Augen in Kinderzimmern daher. Über Führungskräfte, die statt Zahlen vor allem Menschen sehen. Genau wie über Medien, die ihre Kernkompetenz tagtäglich leben. Und sich das Heft des Handelns nicht von digitalen Verschwörungstheoretikerinnen aus der Hand nehmen lassen.