Latino-Kultur aus dem Obstgarten: Der älteste spanischsprachige US-Radiosender im Wahlkampf.
28. Juni 2024
Auf Sendung: Seit über vier Jahrzehnten sendet Radio Bilingüe aus dem Herzen Kaliforniens für die spanischsprachige Gemeinschaft der USA. Peter Widlok besucht für epd Medien Gründer Hugo Morales, der den Sender zusammen mit einer Gruppe von Aktivisten zu einem unverzichtbaren Sprachrohr für die Latinos entwickelt hat. Im Fokus stehen dabei nicht nur Nachrichten und Kultur, sondern auch die politischen Herausforderungen, denen sich viele seiner Hörerinnen und Hörer gegenübersehen. In einer Zeit, in der die US-amerikanische Politik polarisiert und die Existenz von Migranten bedroht, setzt Radio Bilingüe auf Engagement und Bildung, um die Gemeinschaft zu stärken und zu unterstützen. turi2 veröffentlicht die Reportage in der wöchentlichen Reihe Das Beste von epd Medien bei turi2.
Text und Fotos: Peter Widlok
Er denkt nicht ans Aufhören: Mit 75 Jahren verantwortet Hugo Morales das Programm von Radio Bilingüe, dem ältesten spanischsprachigen Sender in den USA. Morales, ein energischer Mann mit langen weißen Haaren, dem man die Herkunft seiner Familie aus Oaxaca in Mexiko ansieht, gründete das Community Radio 1980 mit einer Gruppe von Aktivisten in Fresno, Kalifornien. Zielgruppe sind auch heute noch spanischsprachige Farmarbeiter, sogenannte Hispanics oder auch Latinos, die wenig verdienen und deshalb oft in prekären Verhältnissen leben. “Viele von ihnen können nicht lesen. Dem Radio kommt damit für diese Bevölkerungsgruppe eine besondere Funktion zu”, sagt Morales.
Dass diese Menschen angesprochen werden, war kein Zufall, sondern einer schlichten Rechnung aus demoskopischen Daten und Vorhersagen geschuldet: Latinos sind lange schon diejenige Bevölkerungsgruppe, die den größten Zuwachs hat. Heute stellt sie mit 19 Prozent aller knapp 340 Millionen US-Einwohner die größte Minorität nach den mehrheitlich weißen Einwohnern (75 Prozent).
Ignorierte Hörerschaften im Blick
Auch die Ortswahl des Sendezentrums lag auf der Hand. Fresno liegt im “Obstgarten” der USA, im San Joaquin Valley, wo wegen des günstigen Klimas seit Langem Apfelsinen, Zitronen, Äpfel und Gemüse angebaut werden. Farmarbeiter, in der Regel Menschen aus Mexiko, sind das ganze Jahr über gefragt. Hispanics leben meist außerhalb der Stadt in ärmlichen Siedlungen und sind tagsüber auf den Feldern beschäftigt. Viele dieser billigen Arbeitskräfte sind nicht registriert, halten sich also illegal in den USA auf.
Seit dem Sendestart strahlte Radio Bilingüe zunächst in Spanisch und Englisch ein zweisprachiges Programm aus; mittlerweile sind es sogar vier Sprachen. Spanisch macht neben Englisch, dem indigenen Mixtekisch und dem indigenen Triqui, der Sprache der Ethnie der Triqui in Mexiko, den größten Anteil aus.
Radio Bilingüe will Latinos, indigene Mexikaner und andere Communitys unterstützen und stärken: “Unser Programm stellt Latino-Kunst, die Kultur und die Sprachen als Grundstruktur unserer Gemeinschaften in den Mittelpunkt. Relevante Informationen sollen so zu Hörerschaften gelangen, die von anderen Medien ignoriert werden.”
Das Unternehmen Radio Bilingüe Inc. versorgt heute Siedlungen im gesamten Südwesten der USA mit seinem Programm, auch Teile von Texas, Arizona, Colorado und Neumexiko. Der Sender mit der offiziellen Kennung KSJV-FM hat sich über die Jahre aus einer einzelnen Hörfunkstation zu einem 26-Sender-Netzwerk entwickelt. Dazu kommen 75 Radiostationen, die Programmteile aus Fresno erhalten und über eigene Frequenzen ausstrahlen. Die meisten der angeschlossenen Stationen verfügen kaum über eigene Mitarbeitende und nehmen eine solche Gratis-Offerte gerne an.
Hugo Morales, Gründer von Radio Bilingüe, gemeinsam mit Nachrichtenchef Samuel-Orozco
Größte Minorität
Die spanischsprachigen Einwanderer bilden in den USA die größte Minorität. Spanisch ist nach Englisch die Sprache, die am meisten gesprochen wird. Das 1980 gegründete Radio Bilingüe in Kalifornien ist der älteste spanischsprachige Radiosender in den USA. Unser Autor Peter Widlok war in den 80er Jahren erstmals in den USA und hat die Arbeit von nichtkommerziellen Community Radios dort beschrieben, auch die von Radio Bilingüe. Der Sender, so stellte er bei einem Besuch im April fest, hat sich inzwischen etabliert.
Samuel Orozco, Nachrichtenchef und wie Morales von Anfang an dabei, betont, dass das Medienangebot das Einzige seiner Art in den jeweiligen Sendegebieten sei: “Die Menschen dort hören ja nicht englischsprachige Sender, sondern nur uns. Nur bei uns können sie bei einigen Sendungen auch ins laufende Programm geschaltet werden und so eigene Ansichten ausdrücken”, sagt er. Zum Beispiel in der Sendung “Linea Abierto”, dem beliebtesten Angebot. Oder bei “La Hora Mixteca”, dem spanisch- und mixtekischsprachigen Programm mit traditioneller Musik, Nachrichten und Kommentaren.
In den Wortprogrammen dominieren Nachrichten mit lokalen und überregionalen Themen, die für die Menschen relevant sind. Nur wenige Sendungen werden außerhalb des Studios produziert und gesendet, zum Beispiel “Democracy Now”, eine einstündige Sendung, ausgestrahlt von Sonntag- bis Donnerstagabend und produziert und moderiert von Amy Goodman. Die Journalistin gehörte Mitte der 90er Jahre zu den Mitbegründern der Sendung für “Pacifica Radio WBAI” in New York.
Auch wenn das Budget von Radio Bilingüe mit 3,6 Millionen US-Dollar (3,4 Millionen Euro) im Jahr auf den ersten Blick ausreichend erscheint: Ohne Zuwendungen etwa von der Corporation for Public Broadcasting (CPB) und kulturellen Stiftungen wäre der Sender nicht überlebensfähig. Denn Werbung gilt nach wie vor als Tabu. Lediglich Sponsoring, zum Beispiel von lokalen Unternehmen, ist erlaubt. Hinzu kommt Geld von rund 650 Menschen, die als Contributors registriert sind. Zusätzliche Mittel werden über regelmäßige Spendenmarathons generiert. Die Lage hat sich im Vergleich zu den 80er Jahren deutlich verbessert.
Victor Palomino sitzt ehrenamtlich im Board der nationalen Gemeinschaft der Community Radios (NFCB) und ist selbst beim Community Radio KZYX-FM im Norden von Kalifornien tätig. Er sagt, Radio Bilingüe sei eine Ausnahme mit seiner Geschichte als erstes Public Radio in den USA, das auf Spanisch sendet und finanziell relativ gut aufgestellt sei. “Der Sender ist sehr gut organisiert und funktioniert. Ohne die Energie von Hugo Morales und dem Team wäre das nicht möglich”, sagt er. Kleinere Community Stations suchten ständig nach zusätzlichen Mitteln und befänden sich in einem ewigen Überlebenskampf.
Der Fokus der Programmarbeit liegt eindeutig auf dem klassischen Radioangebot und bislang nicht auf Angeboten für Social-Media-Plattformen. Doch nicht nur im eigenen Hörfunkprogramm, sondern auch über Social Media versucht Radio Bilingüe, auf sich aufmerksam zu machen. Auf Facebook zählt der Sender laut Eigenangaben rund 18.000 Follower, bei X sind es gut 4.000 Follower.
epd-Medien-Autor Peter Widlok und Radio-Macher Hugo Morales
Community Building mit Freiwilligen
Victor Palomino beschreibt die Lage so: “Die meisten Hispanics haben gar kein Radio im Haus, sondern hören Sendungen im Auto, auf der Fahrt zur Arbeit auf den Feldern und abends auf dem Rückweg.” Insgesamt müssten die neuen Technologien und Verbreitungswege stärker in den Blick genommen werden. “Das gilt aber für alle Community Radios und nicht nur für hispanische Sender”, sagt Palomino. Ohne weitere zusätzliche Mittel sei das jedoch schwierig. Und so könne nicht jede Station für sich selbst oder für Positionen zur Wahl angemessen und ausreichend über neue Vermittlungswege werben.
Deshalb hat Radio Bilingüe andere Angebote zum sogenannten Community Building ins Leben gerufen. Ein gutes Beispiel dafür ist Jose Moran. Er kam mit seiner Familie 1991 im Alter von 14 Jahren in die USA. Nach dem Schulabschluss vier Jahre später begann er als Volunteer. Er durchlief ein paar Kurzlehrgänge und moderierte bald selbst ein Musikprogramm. Seit seinem Studienabschluss 2003 hatte Moran verschiedene bezahlte Positionen im Sender inne. Seine Musikshow moderiert er immer noch. Andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind auf ähnlichen Wegen zum Sender gekommen.
Die Wahl für das Präsidentenamt im November stellt den Sender und seine Hörerinnen und Hörer vor große Herausforderungen. Denn viele Latinos, vor allem diejenigen, die unter dem Radar staatlicher Stellen als Nichtregistrierte leben und arbeiten, aber geduldet sind, fürchten sich vor einem Sieg Donald Trumps und den Konsequenzen für sich selbst und ihr Leben.
Radio Bilingüe nimmt mit Blick auf die Präsidentenwahl laut Nachrichtenchef Orozco trotzdem keine offen eindeutige redaktionelle Position ein, etwa gegen Trump und die Republikaner. Stattdessen promotet der Sender ziviles Engagement und ruft legal im Land Lebende dazu auf, sich als Wähler registrieren zu lassen. “Wahlkampfthemen, die für Latinos interessant sind, nehmen wir auf und diskutieren sie mit Hörerinnen und Hörern. Also, wie sich Kandidaten etwa zur Einwanderung und zur Migration stellen. Da kann man sich eigentlich leicht ausmalen, wen wir unterstützt und gewählt sehen wollen”, sagt Orozco.
Einfach mal reinhören: Den Sender Radio Bilingüe gibt es als Livestream auch im Internet. Die Website ist zweisprachig – spanisch und englisch. radiobilingue.org
Räume zum Ausprobieren
Hugo Morales, der lang gediente Chef von Radio Bilingüe mit einer beeindruckenden Liste von Auszeichnungen für seine Arbeit, gilt als Vater des Erfolges. Man sollte ihn besser einen Sozialaktivisten nennen, denn mit einem herkömmlichen Radiomacher hat er nicht viel gemein. Er wird als Leitfigur jener gesehen, die selbst mit Initiativen an anderen Orten spanischsprachige Radiostationen gegründet haben.
Morales hat das nächste Ziel schon vor Augen: Ein Neubau soll her. Die Regierung von Kalifornien, geführt vom demokratischen Gouverneur Gavin Newsom, sagte dafür im November 2023 zwei Millionen US-Dollar zu. Das Gebäude soll in unmittelbarer Nähe zu einem Schulzentrum in Fresno gebaut werden. Ziel ist dabei auch, interessierten Schülerinnen und Schülern “Räume zum Ausprobieren” zu geben, um sie an die Hörfunkarbeit heranzuführen.
Peter Widlok ist freier Autor und war bis Ende 2020 Pressesprecher der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM). 1992 promovierte er über Community Radios in den USA.