“Vielfalt ist kein ‘nice to have'” – Mirijam Trunk über Diversität und Gleichberechtigung bei RTL.
7. Dezember 2022
Vielfaltsverfechterin: “Tief verankerte Rollenbilder und strukturelle Diskriminierungsmuster” sieht Mirijam Trunk als Grund dafür, dass es “uns Deutschen so schwerfällt, Vielfalt bis in die Chefetage umzusetzen”. Seit Mai ist sie Chief Sustainability und Diversity Officer bei RTL Deutschland. Im Interview für die turi2 Agenda-Wochen erzählt Trunk, dass RTL Vielfalt und Toleranz auch deshalb ins Programm bringt, weil es seitens der Werbekunden eine Nachfrage nach diesem Umfeld gibt. Und sie erklärt, wie ihr Psychologie-Studium ihr hilft, menschliche Hürden beim Thema Diversität besser zu verstehen.
Mirijam Trunk, du bist bei RTL seit Mai die oberste Kämpferin für Vielfalt und Diversität. Warum sind diese Themen denn in vielen Unternehmen überhaupt ein Kampf?
Zunächst einmal verantworte ich das Thema nicht ganz allein, sondern habe ein Team toller und erfahrener Kolleg:innen, die an meiner Seite sind. Außerdem würde ich eher von einem Prozess als von einem Kampf sprechen – und zwar von einem, den die gesamte deutsche Wirtschaft durchlaufen muss: Mit gerade einmal 14 % Frauen in Vorstandsposten ist Deutschland weiterhin deutlich hinten im internationalen Vergleich.
Warum ist das so?
Der Hauptgrund, warum es uns Deutschen so schwerfällt, Vielfalt wirklich bis in die Chefetage umzusetzen, sind tief verankerte Rollenbilder und strukturelle Diskriminierungsmuster. Strukturen zu schaffen, die nicht nur erlauben, dass unterschiedliche Menschen in Führung kommen, sondern vor allem auch, dass sie dort bleiben wollen, ist ein Prozess, der sich gewiss manchmal wie ein Kampf anfühlen kann. Doch es geht voran: Was die Verteilung von Führungspositionen unter Frauen und Männern angeht, sind wir bei RTL Deutschland mit 30 % Frauen in der Geschäftsführung schon auf einem guten Weg. Wir haben, wie viele andere Unternehmen auch, verstanden, dass Vielfalt ein entscheidender Faktor ist, wenn es um die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens geht.
Was brauchen Unternehmen, um erfolgreich vielfältig zu sein? Welche konkreten Tipps hast Du für die Umsetzung?
“Culture eats strategy for breakfast” – dieser Satz stimmt, wenn es um Diversität, Teilhabe und Inklusivität geht, besonders.
Erster Tipp: Aufklärung. Wer sich einmal mit der Sinnhaftigkeit von Vielfalt auseinandersetzt und merkt, dass es im Idealfall kein “gegen” eine Gruppe, zum Beispiel Männer ist, sondern ein “für” Chancengleichheit, wird zum Unterstützer. Diskriminierung heißt ja nicht nur, dass die Frau nicht in den Vorstand kommt, sondern auch, dass der Vater keine Elternzeit nehmen darf oder will und in der Versorgerrolle feststeckt.
Zweiter Tipp: Diverse Führungsteams. Wandel kommt nur, wenn die Machtzentren vielfältig besetzt sind. Dasselbe gilt für Bereiche, die den Wandel unterstützen sollen: Unsere Abteilung ist ein eigenständiger Bereich, der direkt an den CEO berichtet – und das ist wichtig.
Dritter Tipp: ESG-Ziele als Teil der Unternehmensziele verankern. Und daraus ergibt sich direkt der vierte Tipp: Messbarkeit schaffen! Vielfalt ist kein gefühliges Thema, kein “nice to have”, sondern ein messbarer Unternehmenskennwert.
Was sind die größten Fehler und Fettnäpfchen?
Unwissen. Viele Menschen reden unglaublich gerne über Diversity, informieren sich aber nicht genug. Wie viele Leute kenne ich, die stundenlang mit mir über die Quote streiten wollen, aber nicht bereit sind, ein Buch oder ein paar Studien zu dem Thema zu lesen. Dasselbe gilt für Sprache. Es ist wichtig, dass wir uns mit der Art, wie wir sprechen, beschäftigen, denn Sprache schafft Realität. Solange eine Gruppe angesprochen und der Rest implizit mitgemeint ist, kann es ja schonmal keine Chancengleichheit geben. Was mich zum letzten Fehler führt: Wenn Diskussionen so aufgeladen sind, dass sich Fronten bilden, wie zum Beispiel beim Thema Gendern. Es geht nur miteinander, wenn wir im gegeneinander sind, ist das der größte Fehler von allen.
Was hältst Du von Quoten-Regelungen, z.B. der Frauenquote?
Wir haben in Politik und Wirtschaft alle möglichen Quoten und Regelungen, die uns helfen, übergreifende Ziele zu erreichen: Klimaziele zum Beispiel oder Verteilungsschlüssel. Wir setzen uns gewisse Leitplanken, die uns helfen, den Rahmen, in dem wir handeln, zu definieren und damit schneller entscheiden zu können.
Konkret zur Frauenquote: Die letzten Jahre und auch der internationale Vergleich belegen die Sinnhaftigkeit. Und sie entlastet Einzelpersonen und Unternehmen, weil sie, ähnlich wie zum Beispiel Klimaziele, einen Handlungsrahmen setzt. Die Befürchtungen, gute Männer würden sich durch die Quote nicht mehr in Führungspositionen durchsetzen, teile ich nicht. Gute Leute werden sich immer durchsetzen und 40 % Frauen heißt immer noch 60 % Männer. Das Leistungsprinzip gilt weiter.
Welche Hürden und Probleme habt Ihr auf dem Weg zu mehr Vielfalt festgestellt? Und welche Lösungen habt ihr dann gefunden?
Zu den Hürden zählen Netzwerke, die unterstützen, dass soziale Herkunft zur größten Hürde überhaupt wird, wenn es um den Zugang zu Macht geht: Wer mit Akademikereltern und dem entsprechenden informellen Netzwerk aufwächst, hat es deutlich leichter, Hürden zu überwinden als jemand, der sich immer über den offiziellen Weg bewerben und ohne akademischen Background und finanziellen Backup durchs Bildungssystem muss. Unbezahlte Praktika sind auch bei manchen Medienunternehmen noch Usus, was einer ganz großen Gruppe den Zugang in die Branche erschwert.
“Unconscious Bias“ sind dann der Endgegner – wir alle tragen unbewusste Annahmen darüber in uns, wer wo hingehört, was “normal” ist. Der Affinity Bias, beispielsweise, der beschreibt, dass wir gerne mit Leuten Zeit verbringen, die uns ähnlich sind und dazu führt, dass wir auch als Führungskräfte Menschen fördern, die sind wie wir; oder Gender Bias, die dazu führen, dass wir Frauen anders bewerten als Männer. Sie sind in unseren Köpfen verankert, ohne dass wir etwas dafürkönnen: und das ist ganz wichtig anzuerkennen, denn niemand sucht sich seine Bias aus.
Du hast ja Psychologie studiert. Inwieweit hilft Dir das, menschliche Hürden beim Thema Diversität zu verstehen?
Das hilft mir sehr. Auch, weil ich durch mein Studium verstehe, wie Menschen lernen – und dass Wahrnehmung immer eine subjektive Konstruktion ist. Bei vielen Debatten im Diversity-Kontext ist das Problem, dass die privilegierten Gruppen die Erfahrungen der diskriminierten Gruppen nicht nur noch nie gemacht haben, sondern gar nicht machen können. Und wenn wir durch eigene Erfahrungen unsere Wahrnehmung prägen und unsere Welt konstruieren, leben wir buchstäblich in unterschiedlichen Welten. Daher müssen wir anders kommunizieren, um Brücken zu bauen. Auch hilft es mir zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert und warum zum Beispiel semantische Netzwerke, also die Art, wie wir assoziieren, Vielfalt verhindern. So wie wir auf “dunkel” schneller “Nacht” sagen und auf “Sterne” schneller “Mond” sagen als “Sonne”, sehen wir beim Wort “Chef” eher den Mann vor uns und bei “Elternabend” eine Gruppe Frauen.
Bei Vielfalt und Diversität denken viele zuerst ans Geschlecht, an Herkunft oder vielleicht sexuelle Orientierung. Welche anderen Aspekte der Vielfalt gibt es noch so, die in der Betrachtung manchmal zu kurz kommen?
Hier verweise ich gerne auf die Charta der Vielfalt, die als Kerndimensionen Alter, ethnische Herkunft & Nationalität, Geschlecht & geschlechtliche Identität, körperliche und geistige Fähigkeiten, Religion und Weltanschauung, sexuelle Orientierung und soziale Herkunft misst. Im Unternehmenskontext ist es so, dass die Dimensionen, die einfach messbar sind – zum Beispiel, weil wir sie im Personalbogen abfragen dürfen – einfacher anzupacken sind als andere. Wir können schnell herausfinden, wie viele Frauen, Männer und diverse Menschen bei uns arbeiten und auch, wie alt sie sind. Religion ist schon schwerer, soziale Herkunft, zumindest aus Unternehmenssicht, noch schwieriger zu messen.
Ich glaube aber fest daran, dass es keinen Kampf der Diskriminierungsformen gibt. Nur, weil wir uns um die eine Dimension kümmern, heißt das nicht, dass uns die anderen nicht wichtig sind. Wandel kommt Schritt für Schritt und alle Studien und Erfahrungen aus dem Ausland belegen: Werden die Machtzirkel diverser, bilden sich immer mehr Dimensionen ab.
Was macht RTL konkret, um mehr Vielfalt ins Unternehmen und ins Programm zu bringen?
Als Unternehmen haben wir zum einen starke Mitarbeitenden-Netzwerke, die mit teils mehreren hundert Engagierten selbst gesteuert Themen besetzen: von Female Empowerment über die Repräsentanz unserer LGBTIQ+ Kolleg:innen. Darüber hinaus betreiben wir mit dem “Diversity Circle” ein vom Unternehmen gesteuertes Gremium, das verschiedene Teile des Hauses zusammenbringt und als zentrale Stelle für Fragen, Diskussionen und Initiativen dient. Mit unserer neuen HR-Chefin Xenia Meuser haben wir eine starke Unterstützerin im Bereich DEI gewonnen, die auch über großes Know-how zum Thema verfügt.
Was die Inhalte angeht, setzen wir mit gezielten Programm-Aktionen wie der Woche der Vielfalt im Sommer oder vereinzelten Thementagen Zeichen: Im Juni haben wir in zahlreichen Beiträgen, Artikeln und Sendungen die Geschichten von Menschen aus der LGBTIQ+ Community erzählt, was fast die Hälfte der im Anschluss befragten Personen dazu motiviert hat, toleranter gegenüber queeren Menschen zu sein. Wir erheben aber nie den Zeigefinger, sondern versuchen auch unterhaltsam Pride zu feiern, wie mit der Prime Time Show Viva La Diva.
Welche Rolle spielt dabei die Nachfrage der Werbewirtschaft nach diversen Programmumfeldern?
Eine große! Jeder Markt wird durch Angebot und Nachfrage gesteuert, das gilt für die Werbewirtschaft wie für das Publikum. Daher kommt sowohl der Werbewirtschaft als auch unseren Zuschauenden eine große Rolle zu. Die Nachfrage einiger Kunden nach Umfeldern rund um das Thema Vielfalt und Toleranz, aber auch nach ökologischer Nachhaltigkeit fördert die Entwicklung neuer Formate, Themenwochen wie Packen wir’s an im Herbst oder Aktivitäten rund um den „Earth Day“ im Frühjahr, bei denen wir unsere crossmediale Power nutzen können, um Aufmerksamkeit für diese wichtigen Themen über alle Kanäle zu schaffen.
Wann würdest Du sagen “Meine Aufgabe ist erfüllt. Wir können diesen Posten wieder streichen”?
Ich glaube wie gesagt, Diversity, Equity und Inclusion sind Themen, die uns noch viele Jahre begleiten werden, im Programm, im Unternehmen, in unserer Branche, in der deutschen Wirtschaft und der Gesellschaft. Ich bin auch realistisch genug, um zu ahnen, dass ich wirkliche Gleichberechtigung nicht mehr erleben werde. Und das ist das Zentrale: Wir können uns bei RTL Deutschland einsetzen und als Unternehmen so gut werden, wie es nur geht – aber wir sind Teil eines Marktes und einer Gesellschaft und erst wenn alle Teilnehmenden Schritte machen, wird es auch Veränderung geben. Ich hoffe aber, dass ich, wenn ich dann irgendwann im Jahr 2065 mal in Rente gehe, zwar nicht sagen kann “meine Aufgabe ist erfüllt”, aber zumindest “ich habe mein Bestes gegeben und wirklich was vorangebracht”.
(Foto: RTL Deutschland)
Mirijam Trunk ist bei RTL Deutschland seit Mai 2022 Chief Sustainability und Diversity Officer. Zusätzlich ist sie Chief Crossmedia Officer. Davor war sie Geschäftsführerin der Bertelsmann Audio Alliance.
Das Interview ist Teil der Agenda-Wochen von turi2: Bis zum 18.12. blicken wir jeden Tag auf die Themen, die die Kommunikationsbranche zum Jahreswechsel bewegen. Am 11. Januar erscheint die turi2 edition #20 – Agenda 2023 als Jahrbuch der Kommunikation mit den Schwerpunkten Vielfalt, Nachhaltigkeit und Resilienz.