turi2 edition #10: Marieke Reimann über alte weiße Männer und Print-Könige.
16. Januar 2020
Gedanken über jedes Wort und jedes Bild:Marieke Reimann kämpft als Chefredakteurin von ze.tt, der jungen Online-Plattform der “Zeit”, gegen Stereotypen, männliche Sprache und Print-Könige. Für die turi2 edition #10 spricht sie mit Anne-Nikolin Hagemann über ihren Anspruch, dafür zu sorgen, dass “meine Redaktion so vielfältig ist wie unsere Gesellschaft.” (Fotos: Marcel Schwickerath)
Du bist eine junge Frau in Führungsposition, geboren im Osten, in Rostock. Welche Eigenschaft macht dich am ehesten zur Ausnahme im Medienbetrieb?
Ich halte weder meine Herkunft, noch die Tatsache, dass ich eine Frau bin, für eine Eigenschaft. Ich denke aber, dass in Bezug auf die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zumindest eine größere Sensibilität herrscht als in anderen Bereichen. Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall sind Menschen mit ostdeutschem Hintergrund in Wirtschaft, Politik, Medien, Justiz kaum vertreten. Wir haben momentan etwa keine*n ostdeutschen Uni-Rektor*in und keine*n Bundesrichter*in aus Ostdeutschland. Von Menschen mit Migrationshintergrund in Führungspositionen ganz zu schweigen. Die Führungsebenen in unserem Land bilden nicht die Gesellschaft ab, die wir im Jahr 2020 haben. Es dominieren weiße westdeutsche Akademiker.
Wir waren zusammen auf der Journalistenschule, in Parallelklassen. Einer meiner Dozenten hat damals jeden als erstes nach den Berufen der Eltern gefragt. Was hättest du geantwortet?
Meine Mutter ist Lehrerin, mein Vater Programmierer. Was da nicht mitschwingt: Meine Eltern hatten beide einen starken Biografie-Bruch nach der Wende. Mein Vater war U-Boot-Offizier und hat in der DDR in der NVA gedient. Meine Mutter hat im staatlichen Schuldienst gearbeitet. Sie wurden um 1990 herum beide entlassen und mussten umschulen.
Du hättest also kein Problem mit der Frage gehabt.
Eine Freundin von mir fühlte sich damals damit unwohl, weil ihre beiden Eltern keine Akademiker*innen sind. Es gab kaum jemanden in unserem Jahrgang, bei dem nicht zumindest ein Elternteil studiert hatte. Wir haben generell ein strukturelles Problem, nicht nur in Deutschland, weil einige Menschen viel mehr Chancen haben in ihrem Leben als andere und deswegen auch viel schneller in bestimmte Positionen kommen. Das sollte man sichtbar machen und ändern. Ich verstehe nicht, wieso ein Studium Grundvoraussetzung für einen Job im Journalismus ist – Leidenschaft und Expertise zählen für mich viel mehr als ein Abschluss.
Du stellst dein Team bewusst divers zusammen. Warum – nur aus Idealismus?
Mein Anspruch als Chefredakteurin ist es, dafür zu sorgen, dass meine Redaktion so vielfältig ist wie unsere Gesellschaft. Viele Themen brauchen jemanden mit einer bestimmten Biografie. Weiße Menschen etwa haben einfach nie die Rassismus-Erfahrungen gemacht, die rassifizierte Menschen erlebt haben und erleben. Um also eine Geschichte, die zum Beispiel Rassismus thematisiert, glaubhaft und auf Augenhöhe zu vermitteln, ist es wichtig, Menschen mit entsprechenden Biografien in seiner Redaktion zu beschäftigen.
Welche Themen kommen zu kurz in den Medien?
Alle Themen, von denen es heißt, es seien “Randgruppen-Thematiken”. Ich hasse diesen Begriff! Ich habe das Wort “Randgruppe” für ze.tt gestrichen. Meiner Meinung nach entstehen Randgruppen, weil sie an den Rand gedrängt werden, nicht, weil sie per se dort sind. Das betrifft verschiedenste Communities, über die in konventionellen Medien gar nicht oder nur sehr wenig berichtet wird – und das dann meist auf sehr stereotype Weise. Ergo sind sie für mich viel eher “Weniggenannte” – es ist nicht ihre Schuld, dass sie sich am Rand befinden, sondern ein strukturelles Problem, dass sie wenig beachtet werden. Der Anspruch des Journalismus sollte es sein, diese “Weniggenannten” in die generelle Berichterstattung einzugliedern: die queere Community, Inklusionsthemen, die Sichtbarkeit von Arbeiterkindern, People of Colour, Ostdeutsche, um nur ein paar zu nennen.
Du hast bei ze.tt das Gendersternchen eingeführt. Sollen wir unser Interview mit Sternchen drucken?
Das muss jedes Medium für sich entscheiden. Ich bin der Meinung, dass der Journalismus insgesamt gut daran täte, zu gendern. Das generische Maskulinum schließt einfach viele aus, bei Frauen angefangen. Wir haben eine männliche Sprache.
Oft sollen Berufsbezeichnungen und Worte wie “Kollegen” oder “Freunde” ja einfach alle Geschlechter einschließen. Und werden so auch von Frauen benutzt.
Ich bringe an dieser Stelle immer gerne ein Beispiel: “Sitzen zwei Piloten im Flugzeug. Sagt die eine zur anderen: ‘Bestimmt haben sich jetzt alle zwei Männer vorgestellt.'” Ich finde, dieser Witz reicht, um offensichtlich zu machen,
dass unsere Lebenswirklichkeit männlich geprägt ist. Es gibt hierzu mittlerweile genug Studien, die belegen, dass das Gehirn beim Verwenden des generischen Maskulinums eben nicht “alle mitdenkt”.
Was macht dich wütend?
Ungerechtigkeit. Dass manche Menschen stereotypisiert in den Medien dargestellt werden, dass manche Themen unberechtigterweise Vorrang haben vor anderen. Mich macht auch Framing wütend. Denn es ist verdammt nochmal der Job eines jeden Journalisten und einer jeden Journalistin, sich über jedes fucking Wort und Bild Gedanken zu machen. Weil immer alles eine Wirkung hat.
Hast du da ein konkretes Beispiel?
Wir hatten mal einen Artikel über eine Studie darüber, was Erst- und Zweitgeborene studieren. Wir haben zwei schwarze Mädchen als Titelbild genommen, weil ich keinen Bock hatte, wieder den klassischen blonden Jungen und das blonde Mädchen zu zeigen, die man bei dem Thema sonst so sieht.
Es geht also schon bei den kleinen Entscheidungen los.
Bei simplen Sachen wie der Satzkonstruktion, der Überschrift, der Sendungsbeschreibung. Und geht über ein Bild zu einem Text, die Platzierung eines Artikels auf der Startseite, den Aufmacher in einem Wochenmagazin.
Fotostudio, Schnittraum, Textzentrale: In der Berliner Brückenstraße produziert das 20-köpfige Team von ze.tt Artikel, Videos und Bilder zum Tagesgeschehen und den großen Fragen der Generation Y
Du könntest also theoretisch den ganzen Tag wütend sein.
Ich kann eigentlich davon ausgehen: Sobald ich mich als junge Frau öffentlich äußere, gibt es immer Menschen, hauptsächlich Männer, die mich beschimpfen oder auf mein Äußeres reduzieren. Ich habe schon ein paar Mal erlebt, dass darüber diskutiert wird, was ich für eine Bluse, Jacke, Jeans anhabe oder wie meine Haare aussehen. Schwer, das nicht an sich heranzulassen. Dazu kommt: Es gibt wirklich wenig Infrastruktur in den Medienhäusern, die Frauen, die sich in der Öffentlichkeit äußern, schützt.
Glaubst du an das Bild vom alten weißen Mann, der an allem schuld ist?
Nur, wenn er doof ist. Alte weiße Männer sind nicht per se die Feinde, sondern ein Feindbild-Konstrukt, das oft zutrifft, weil Frauen mit alten weißen Männern Probleme hatten oder haben. Wir haben große strukturelle Probleme, an denen aufgrund ihrer bisherigen gesellschaftlichen Vormachtsstellung Männer eben den allergrößten Anteil haben. Wenn aber “der alte weiße Mann” die Fehler in den Strukturen erkennt, wenn er aufgeschlossen ist für Zukunftsvisionen, ist er der erste, der etwas ändern kann. Weil er in der mächtigsten Position ist.
Im Moment scheinen trotzdem viele Junge das Gefühl zu haben, die Alten versauen gerade ihre Zukunft.
Ich glaube, diese Einstellung hatten die Jungen schon immer zu den Alten, in jeder Generation. Der Generationen-Konflikt heute ist zum großen Teil ein digitaler Konflikt.
Wie meinst du das?
In vielen Bereichen kann man immer noch klar zwischen Digital Natives und Digital Immigrants unterscheiden. Durch die Digitalisierung sind zum Beispiel marginalisierte Gruppen und ihre Probleme, aber auch ihre Forderungen viel offensichtlicher. Bewegungen wie #metoo oder #vonhier wachsen viel schneller und globaler. Die Welt ist für junge Menschen, die mit sozialen Netzwerken aufgewachsen sind, viel vernetzter und dadurch diverser. Ich sage nicht, dass alle jungen Menschen das befürworten – aber ich sehe schon, dass sie alle zumindest viel mehr Affinität für Digitalität mitbringen.
Und die Alten?
Bei Älteren überwiegt hier zum Teil die Angst vor Neuem. Das Verständnis, der Mut oder vielleicht der Wille fehlen, sich damit überhaupt auseinanderzusetzen und darin Chancen zu erkennen. Das wirkt sich auch auf unsere Gesellschaft aus. Nehmen wir zum Beispiel die Justiz: Unsere Gesetzgebung kommt nicht hinterher, ordentliche Strafbarkeiten dafür zu entwickeln, dass Menschen täglich im Internet gestalkt, mit dem Tod oder mit Vergewaltigung bedroht werden. Zu oft bleiben solche Taten, die außerhalb des Netzes bestraft würden, unbestraft, weil die Justiz kaum Handhabungen findet, Übergriffe im Netz zu verfolgen.
Mit welchen Ansätzen von ze.tt tun sich ältere, konservative Kollegen und Kolleginnen schwer?
Medienübergreifend stelle ich fest: Artikel, die nicht den klassischen Formen der Reportage, des Porträts, des Berichts entsprechen, so wie man das an Journalistenschulen lernt, gelten nicht als “richtiger Journalismus”. Ich frage mich aber: Warum soll Journalismus, der unterhält, nicht richtig sein? Ein Porträt, in das gleichzeitig noch ein Insta-Pic eingebaut ist oder ein Reddit-Thread, bleibt ein Porträt. Gute Texte müssen weder lang noch ohne Bilder sein. Guter Journalismus findet nicht nur im Text statt. Guter Journalismus kann auch eine knackige Zitatkarte mit einer guten Illustration auf Instagram sein.
Du spürst den Digitalkonflikt also auch im Journalismus?
Da nehme ich nach wie vor eine Vormachtstellung der Printprodukte wahr. Da kann man in jedes Medienhaus gehen: Print ist einfach der König im Verlag. Und das, obwohl offensichtlich ist, wie rasant sich die Digitalisierung entwickelt und welche Möglichkeiten Online-Journalismus bietet.
Welche zum Beispiel?
Kurze Kommunikationswege, Partizipation. Die Chance ist, dass du mit deiner Zielgruppe viel besser interagieren kannst. Direktes Feedback zu bekommen oder bei den Kommentaren auf Instagram oder Facebook zu lesen: Was beschäftigt die Leute und warum? Daraus Geschichten zu generieren, hilft dem Publikum, weil es sich noch besser abgeholt fühlt. Und dir als Marke, weil du deine Zielgruppe noch besser erreichst.
Welche Themen beschäftigen die Jungen?
Momentan alles, was mit der Klimakrise, Klimapolitik und Nachhaltigkeit zu tun hat. Und alles, wo es am Ende darum geht, wer du als Mensch bist: wie du leben, arbeiten und lieben willst.
Marieke Reimann, 32, bezeichnet sich selbst als “Journalistin für Bewegtkultur”. Reimann arbeitete unter anderem für “11 Freunde”, die “Süddeutsche Zeitung” und Sport1, bevor sie 2015 zum neu gegründeten ze.tt wechselte. Seit Januar 2018 ist sie dort Chefredakteurin
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