turi2 edition #12, 50 Vorbilder: Barbara Hans schreibt über Wilhelmine Werner.
14. Oktober 2020
Eine zähe Frau: Das Leben von Wilhelmine Werner ist kein außergewöhnliches um 1945 – der Mann an der Front, das Geld knapp, sieben Kinder. Für die Journalistin und “Spiegel”-Chefredakteurin Barbara Hans steht ihre Großmutter stellvertretend für die Frauen in ihrer Familie, an die sie in schwierigen Zeiten denkt, schreibt sie in der turi2 edition #12.
Vorbild, das: Eine Person, die als richtungsweisendes und idealisiertes Muster oder Beispiel angesehen wird. Im engeren Sinne ist ein Vorbild eine Person, mit der ein Mensch sich identifiziert und dessen Verhaltensmuster er nachahmt oder nachzuahmen versucht. Mit Vorbildern ist das so eine Sache: Je älter man wird und je näher man ihnen kommt, desto mehr verändern auch sie sich. Gewinnen an Kontur, bekommen Kratzer und Schattierungen.
Figuren, die mir imponiert haben, gibt es einige: Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf, genannt Pippi (furchtlos, unabhängig, rothaarig – und trotzdem nett zu Annika). Mathias Müller von Blumencron, genannt MvB, der eine Reportage von mir las und mich einstellte (sein Mut, mir und auch anderen jungen Journalisten mehr zuzutrauen als wir uns mitunter selbst). Siegfried Weischenberg, der mich an die Uni holte und meine Doktorarbeit über Vertrauen und Journalismus auch dann noch vorantrieb, als ich selbst sie nicht mehr lesen mochte (seine Beharrlichkeit, Journalismus und Wissenschaft nicht als Gegensatz zu betrachten). Alle drei haben mich geprägt, jede*r auf seine bzw. ihre Weise und jede*r zu seiner Zeit.
Ein Vorbild aber ist für mich jemand, auf den ich mich besinne, wenn es schwierig wird. Wenn es nicht reicht, sich etwas abzuschauen und zu übernehmen, wenn etwas auf dem Spiel steht. Meine wahren Vorbilder sind deshalb die Frauen in meiner Familie: Meine Urgroßmutter, Witwe mit 36, damals Mutter von vier kleinen Kindern. Der Urgroßvater arbeitete am Hochofen der Westfälischen Drahtindustrie, die dritte Lungenentzündung überlebte er nicht. Die Urgroßmutter putzte die Straßenbahn, um über die Runden zu kommen, jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe, wenn die Kinder noch schliefen.
Eines der Kinder war meine Oma, Wilhelmine “Mimi” Werner, Jahrgang 1911. Sie bekam selbst sieben Kinder, fünf zwischen 1939 und 1945. Die Großen zogen die Kleinen im Bollerwagen in den Bunker, der Vater war an der Front. Der Hunger war groß, das Schulgeld war hoch, nur der Älteste konnte das Gymnasium besuchen. Für die anderen war Bildung etwas, das sie sich erarbeiteten: zweiter Bildungsweg, die Hoffnung, dass Eigenantrieb und Leistung Chancen eröffneten.
Für meine Mutter führte der Weg dank eines Begabtenstipendiums auch ohne Abitur an die Hochschule, sie wurde Lehrerin. Zu unterrichten, das war mehr als ein Beruf, es war ihre Leidenschaft. Sie starb zwei Wochen vor meinem achten Geburtstag. Die Schwester meiner Mutter und ihr Mann adoptierten mich. Eine neue Familie, mein größtes Glück. Diese Erfahrungen haben mich geprägt, diese Frauen haben mich geprägt. Sie haben gekämpft: für das, was ihnen wichtig war. Für diejenigen, die ihnen wichtig waren. Mutig, zugewandt, humorvoll. Was ich daraus gelernt habe? Bildung ist ein Privileg, Familie auch. Wahre Helden sind selten Maulhelden. Und über Verantwortung muss man nicht nur reden, sondern sie übernehmen. “Kopf hoch, wenn der Hals auch schmutzig ist”, hat meine Oma oft gesagt. Ich finde, sie hatte recht.