turi2 edition #15: Brauchen wir überhaupt noch Banken, Waltraud Niemann?
18. September 2021
Im Herzen orange:Waltraud Niemann ist die Frau hinter dem Aufstieg der ING zur drittgrößten Bank in Deutschland. Die Leiterin Kommunikation und Marketing ist seit 20 Jahren an Bord – und drängt auf Veränderung. Wie auf den Abschied vom “Diba”-Zusatz.
“Money makes the world go round“ singt Liza Minnelli. Hat sie recht?
Ich sehe Geld als Mittel zum Zweck, als Absicherung, als Ermöglicher – es sind viel mehr unsere Kreativität, unsere Visionen und unsere Haltung, die etwas bewegen in der Welt. Geld an sich hat keinen Wert – außer vielleicht für Dagobert Duck, der darin badet.
Welche Bedeutung hat Geld in einer immer mobiler werdenden Welt?
Sie und ich sind noch die Generation, die sehr auf Vorsorge geschaut hat. Junge Menschen sind anders sozialisiert und gehen mit Geld anders um. Besitz ist unwichtiger, im Vordergrund steht das Erleben. Zugleich beschäftigen sich junge Menschen früher mit Geld: Mein Sohn ist 19, hat gerade Abi gemacht. Er führt schon ein kleines Depot und verfolgt die Aktienkurse.
Da tippe ich mal auf eine frühe Prägung durchs Elternhaus.
Mag sein. Auch scheint mir der Umgang mit Geld nach wie vor ein Gender-Thema zu sein: Frauen tun sich mit dem Zugang zu Wertpapieren manchmal ein bisschen schwerer, Männer trauen sich da oft mehr. Das hat vielleicht mit ihrer Wettbewerbs-Mentalität zu tun: Männer wollen schnell was erreichen, sie wollen gewinnen.
Wie virtuell wird unser Geld?
Corona hat zu einem riesigen Zeitsprung geführt. Wir als Direktbank waren natürlich vorher schon voll auf der digitalen Welle: von einer ausgereiften App bis hin zu Mobile Payment. Und dann steht mit Corona plötzlich ein Schild an der Supermarkt-Kasse: “Bitte bezahlen Sie kontaktlos.” Das gab einen enormen Push, das haben wir in unseren Zahlen praktisch von heute auf morgen gesehen. Und das geht nicht mehr weg. Wer einmal gemerkt hat, wie einfach Mobile Payment funktioniert, der möchte diese Bequemlichkeit nicht mehr missen.
Wandert unser Vermögen in die Blockchain?
Die Blockchain hat durchaus ihre Berechtigung und bietet viele Optionen, wie das Identitäts-Management und sichere Transaktionen. Entscheidend wird sein, wie wir uns der Technologie bedienen. Also: Wer bietet das bessere Frontend, um dem Kunden den Einstieg zu erleichtern? Und es kommt auf die richtigen Werte an. Simon Sinek sagt: “Menschen kaufen nicht, was wir machen, sondern warum wir es machen.”
Wozu braucht es in einer digitalen Welt noch Banken?
Eine Bank verspricht, genau wie eine starke Marke, Sicherheit. Und die ist den Menschen nach wie vor sehr wichtig. Die Menschen wollen sich nicht um ihr sauer Erspartes sorgen müssen. Wir als Bank bieten einen Einlagensicherungsfonds und unterliegen der Bankenaufsicht. Mit großem Interesse blicken wir auch auf die neuen Player der Branche: Fintechs sind für uns Innovationstreiber und wichtige Kollaborationspartner. Wir haben vor einiger Zeit neue innovative Services getestet und darüber diskutiert, unter welcher Brand wir sie anbieten. Mein Argument war: Ein neues Feature genießt mit dem Label der ING schneller Akzeptanz. Die Tests haben das bestätigt.
N26 packt das Banking direkt in eine einzige App. Laufen Sie als ING der Entwicklung bald hinterher?
Ganz und gar nicht. Unsere “Banking to go”-App wird immer mehr zum zentralen Kontaktmedium mit unseren Kundinnen und Kunden. Wir waren bei technischen Neuerungen schon immer vorne dabei: Als wir in Deutschland starteten, waren wir zunächst der Angreifer am Markt und sind rasant zu einer beachtlichen Größe herangewachsen. Irgendwann haben wir uns gefragt: Wie können wir wieder flexibler und schneller werden? Als Konsequenz unserer Überlegungen haben wir 2018 die Transformation zur Agilität gestartet. Ganz bewusst und aus dem Momentum der Stärke heraus.
Was heißt das konkret?
Wir haben die ganze Organisation einmal auf links gedreht und Senior Manager haben sich wieder auf neu geschnittene Positionen beworben. Wir wollten wissen: Wer möchte die neue Ausrichtung wirklich mitgestalten? Kritische Stimmen im Unternehmen sind gut, aber wenn man ein neues Ziel anvisiert, braucht es Zugpferde, die motiviert nach vorne gehen.
Wie war die Resonanz?
Eine Transformation in diesem Ausmaß hatten wir noch nicht erlebt. Da gab es sicher auch Reibungspunkte. Es ist ja auch nicht leicht, wenn die Aufgaben sich ändern, wenn das Team wechselt, wenn die oder der Vorgesetzte plötzlich ein anderer ist und von mir erwartet wird, dass ich mehr Verantwortung übernehme und autonomer agiere. In der Rückschau hat sich der Schritt für uns alle gelohnt.
Warum haben Sie sich wieder neu beworben?
Für mich war das überhaupt keine Frage. Ich habe diese Marke 20 Jahre lang begleitet und finde sie nach wie vor spannend. Sie ist mein Baby. Mein Mann sagt immer: “Du hast ING auf der Stirn stehen.” Irrtum. Ich trage sie im Herzen.
Wie kommen die Mitarbeiterinnen in der neuen Arbeitswelt klar?
Ich denke größtenteils sehr gut, auch wenn sich spätestens seit Corona die Rahmenbedingungen geändert haben. Die Zusammenarbeit an Whiteboards und die Co-Creation, die wir schon vor Corona genutzt haben, erfordern eine ganz andere Bereitschaft, sich auf Prozesse einzulassen und auch auf komplett andere räumliche Gegebenheiten. Unser neues Arbeiten wird nach einer Rückkehr zur Normalität so aussehen: Wir werden noch mehr freie Flächen anbieten, wo sich bunt gemischte Teams treffen können, um zu brainstormen und Dinge gemeinsam zu entwickeln. Zugleich werden wir neue Rückzugsmöglichkeiten schaffen, in denen man mal in Ruhe über Dinge nachdenken kann. Und jetzt gibt’s das mobile Arbeiten noch on top.
Hat die Agilität auch damit zu tun, dass die ING eine holländische Bank ist?
Ich muss gestehen, dass unser Horizont eine Zeit lang teils eher eng gefasst war und wir vor allem aus Deutschland heraus agiert haben, um irgendwann festzustellen: “Huch, wir sind ja Teil eines Konzerns.” Die Holländer denken sicherlich manchmal, die Deutschen könnten gelegentlich ein bisschen euphorischer sein und ihre Bedenken etwas zurückstellen. Und wir denken manchmal: Hm, da haben sie aber das oder jenes nicht berücksichtigt. Unterm Strich profitieren wir aber von dieser Mischung der Mentalitäten.
Vor 20 Jahren war die ING Diba ein Pionier als erste Direktbank in Deutschland. Warum haben Sie sich 2019 vom Zusatz DiBa verabschiedet?
Wir sind Teil eines globalen Unternehmens. Und als wir über den deutschen Tellerrand geschaut haben, haben wir festgestellt, dass von Land zu Land die Problembeschreibungen die gleichen sind. Aber wie wir kommuniziert haben, war von Land zu Land ganz unterschiedlich: Spanien mit Kürbissen, Tschechien mit Eichhörnchen, die Türkei mit animierten Löwen, Australien mit Testimonials, wir mit Dirk Nowitzki. Die Frage stand im Raum: Wie können wir uns von Firmen, die ihre Experience länderübergreifend ausrollen, etwas abgucken? Die Folge dieser Überlegungen war schließlich, dass wir uns vom Zusatz “Diba” verabschiedet haben. Wer Größeres gewinnen will, muss bereit sein, Dinge zu opfern.
Viele haben den Slogan “Diba, Diba, Du” noch im Ohr. Zerstören Sie mit dem Rebranding nicht Markenkapital?
Das muss man als Bank erst mal schaffen, dass den Menschen beim Gedanken an die Marke gleich der Brandsong einfällt! Aber: Wer seine Marke nicht permanent weiterentwickelt, wirkt ganz schnell altbacken. Das gilt für die Typographie, die Bildwelten und auch für den Sound. Also haben wir Schritt für Schritt die Kodierungen, die dem Verbraucher die Marken-Zuordnung erleichtern, angepasst. Wir haben uns von Manchem verabschiedet und Neues hinzugenommen. Und ich verspreche Ihnen noch in diesem Jahr, 2021, einen neuen Sound.
Treue beweist Ihr Testimonial Dirk Nowitzki. Der wirbt seit Jahren für Sie – in der Pandemie saß er brav zu Hause auf dem Sofa.
Dirk auf dem Sofa – das war mal für ganz andere Zwecke gedacht. Den Film hatten wir schon in der Schublade, als Corona kam. Da habe ich mir gedacht: Dirk auf dem Sofa? Genau: Bleibt zu Hause, bleibt gesund. Und wenn ihr mobil bezahlen müsst: Wir haben alle Services, mobil mit Android und iOS oder kontaktlos mit der Karte. Die Botschaft war ganz simpel – und deshalb so wirkungsvoll. Kein großes Storytelling, sondern schlicht und einfach das Signal an die Zuschauer: Die verstehen, was gerade los ist. Die machen jetzt keine Betroffenheitskampagne, sondern liefern mir eine Lösung.
Sie kommen aus dem Marketing und der Werbung. Wo müssen Sie selbst umdenken und dazulernen?
Es gilt “one brand, one voice”, mein Ziel ist die 360-Grad-Kommunikation. Themen, die für unsere Kundinnen und Kunden von Relevanz sind, sind es auch für die Mitarbeiter, die Medien und die gesamte Gesellschaft. Wir müssen die Themen nur unterschiedlich aufbereiten. Meine Aufgabe ist es, unsere Stärken noch besser zu verzahnen und bei manchen Themen ein Stück weit eine andere Perspektive reinzubringen.
Sie sind seit über 20 Jahren bei ein- und demselben Arbeitgeber. Das klingt nicht so agil – eher immobil. Wird’s nicht mal Zeit für einen Jobwechsel?
Die ING ist mein Baby. Klar, ein Baby, das mittlerweile erwachsen geworden ist. Aber solange ich das Gefühl habe, dass Marke noch wichtig ist, werde ich gebraucht. Und solange werde ich versuchen, die Marke ING reinzumassieren ins kollektive Bewusstsein. Wenn ich jetzt das Gefühl hätte, Marke ist nicht mehr wichtig, hätte ich etwas falsch gemacht.
Was müsste passieren, damit Sie bei der ING aufhören?
Mir müsste langweilig werden. Aber ich bin kein Mensch, dem langweilig wird, weil ich immer Aufgaben sehe, die noch keiner gesehen hat.
Andersrum gefragt: Welche Aufgabe würde Sie von der ING weglocken?
Je älter ich werde, desto mehr habe ich das Gefühl, ich muss die Welt verbessern und Gutes bewirken. Wenn ich mich bei einer wirklich wichtigen Sache so einbringen könnte, dass ich mit meinem Wissen und meinem Engagement etwas bewirke, dann könnte mich das reizen. Privat habe ich mal ein Bürgerbegehren organisiert, es ging um eine Umgehungsstraße für den Ort. Viele meinten: “Das klappt nie.” Da habe ich gedacht: “Hallo, Moment mal: Alles was ich bisher organisiert habe, hat geklappt.” Hat es dann auch.
Sind Sie ein Fan von Frauen-Empowerment?
Klar habe ich da ein Auge drauf. Die Kommunikation ist ja per se weiblich geprägt. Ich muss sogar teilweise gucken, dass ich genug Männer im Team habe. Aber die Frage bleibt: Wie sieht es auf den Führungsebenen aus? Wir haben ein Programm, mit dem wir speziell weibliche Führungskräfte coachen und begleiten. Und ich freue mich, wenn ich meine Erfahrungen weitergeben kann.
Welche sind das?
Ich bemühe mich, insbesondere Mütter zu begleiten, dass sie nicht den Fehler machen, den Fuß aus der Tür zu nehmen. Die Arbeitswelt dreht sich schnell. Die Gefahr, den Anschluss zu verlieren, besteht. Frauen haben oft zu viel Ehrfurcht davor und glauben, dass sie den Job nach einer Pause nicht mehr hinbekommen.
Frauen haben zu viel Ehrfurcht? Sprechen Sie aus eigener Erfahrung?
Klar, ich habe mich schon dabei erwischt, dass ich erst den nächsten Schritt machen möchte, wenn ich mir hundertprozentig sicher bin, dass ich eine Sache beherrsche. Lange stand ich mir selbst im Weg, weil ich gedacht habe, dass ich nicht so gut Englisch spreche. Mein Mann meinte nur: “Na ja, ich habe einen Kollegen, der sagt ‘I can English!’. Der hat dein Problem nicht.”
Ihr Mann hat Sie also ermutigt, sich mehr zuzutrauen?
Ermutigt würde ich nicht sagen, eher gepiesackt. Er meinte: “Dann kommt der Praktikant, den du damals hattest, und wird dein Vorgesetzter, nur weil er sagt ‘Ich kann’s!'” Darüber habe ich nachgedacht. In der zweiten Reihe hat es mir eigentlich lange gut gefallen. Von dort aus konnte ich alles wie eine
heimliche Instanz managen. Dann habe ich mir einen Ruck gegeben und gesagt: “Okay, du springst jetzt in die erste Reihe. Auch wenn der Wind da mal eisiger sein kann.”
Wie kalt hat es Sie erwischt?
Interessanterweise fühlte sich der Schritt ganz natürlich an, für mein Team, für mich. Ich war wohl überreif für den Wechsel.
Braucht es Frauen-Netzwerke?
Ja, ich denke schon. Ich selbst bin seit über zehn Jahren in einem Frauen-Netzwerk und freue mich immer sehr, wenn wir uns einmal im Monat treffen und austauschen. Mich sprechen Persönlichkeiten an, die authentisch sind. Die eine Vision und eine Leidenschaft für ein Thema haben und die auch gegen Widerstände arbeiten können. Das können zum Beispiel Frauen sein, die sich in einer Männerdomäne durchsetzen.
War Ihnen jemand ein Vorbild?
Meine Tante, die Arzthelferin war, hat mich als Kind sehr beeindruckt. Anders als meine Mutter hatte sie einen eigenen Beruf. Ich habe als Kind schnell gemerkt, wie Machtverhältnisse konstruiert sind und habe bereits mit zehn für mich beschlossen: Ich werde immer unabhängig sein, ich werde einen Beruf haben, mein eigenes Geld verdienen und immer selbst entscheiden können. Diese Entscheidung hat meine Tante mit ausgelöst – und ich bin dieser Entscheidung immer treu geblieben.
Was ist Ihr wichtigster Rat an Ihren 19-jährigen Sohn?
Genau das: Bleib dir treu, lass dich von niemandem irgendwo hinschieben, geh’ deinen eigenen Weg. Es ist dein Weg, es ist dein Leben.
Waltraud Niemann ist der ING seit dem Jahr 2000 treu, drei Jahre davon als Marketingleiterin für Österreich. 2018, zurück in Deutschland, führt sie die Abteilungen Marketing und Kommunikation zusammen in ein Center of Expertise, das sie seitdem leitet. Eine ihrer Kernaufgaben ist die Transformation der ING von der ersten Direktbank zur “ersten agilen Bank Deutschlands”. Niemanns allererster Job ist im Marketing beim Neckermann Versand, davor studiert die gebürtige Essenerin Betriebswirtschaft. Waltraud Niemann lebt mit Mann und Sohn in Dreieich bei Frankfurt.